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Full text of "Die Marienverehrung in den ersten Jahrhunderten"

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PRINCETON,  N.  J 


BT  610  . L46  1886 


Lehner,  F.  A.  von. 

Die  Marienverehrung  in  den 
ersten  Jahrhunderten 


DIE 

MARIENVEREHRUNG 

IN  DEN 


ERSTEN  JAHRHUNDERTEN. 


Digitized  by  the  Internet  Archive 
in  2019  with  funding  from 
Princeton  Theological  Seminary  Library 


https://archive.org/details/diemarienverehru00lehn_1 


DIE 


IN  DEN 


ERSTEN  JAHRHUNDERTEN. 


VON 


Hofrath  Dr.  F.  A.  von  LEHNER, 

DIRECTOR  DES  FÜRSTLICH  HOHENZOLLERN  ’SCHEN  MUSEUMS  IN  SIGMARINGEN. 


Mit  8  Doppeltafeln  in  Steindruck. 


ZWEITE  VERBESSERTE  AUFLAGE. 


STUTTGART. 

VERLAG  DER  J.  G.  COTTA’SCHEN  BUCHHANDLUNG. 

188G. 


Alle  Rechte  Vorbehalten. 


Druck  von  Gebrüder  Ivröner  in  Stuttgart. 


SEINER  KÖNIGLICHEN  HOHEIT 


DEM  FÜRSTEN 


KARL  ANTON  VON  HOHENZOLLERN 


EHRFÜRGHTSVOLLST  GEWIDMET. 


Vorwort  zur  ersten  Auflage. 


Als  sich  der  Verfasser  vor  Jahren  mit  der  christlichen  Kunst 
zu  beschäftigen  anfing,  hielt  ihn  besonders  die  Darstellung  der 
heiligen  Jungfrau  fest,  und  es  gewährte  ihm  einen  eigenthtimlichen 
Genuss,  den  Madonnenbildern  von  den  neuern  Zeiten  aus  bis  tief 
ins  Mittelalter  zurück  nachzugehen.  Es  drängte  sich  der  Zusammen¬ 
hang  der  Kunstdarstellungen  mit  dem  —  kirchlichen  sowohl  als 
volkstümlichen  —  Marienkultus  auf,  die  ersteren  erschienen  als 
Reflex  des  letzteren,  und  endlich  concentrirte  sich  das  Interesse  auf 
die  Erforschung  dieses  Kultus.  Die  zunächst  zu  Rathe  gezogenen 
Werke  ergaben  die  Ueberzeugung,  dass  sich  die  Entwickelung  des 
Marienkultus  vom  fünften  Jahrhundert,  namentlich  von  dem  Ephesiner 
Goncil  (431)  abwärts  geschichtlich  nicht  schwer  verfolgen  lasse ; 
für  die  frühere  Zeit  fanden  sich  nur  vereinzelte  Notizen.  Die  Neu¬ 
gier,  wie  es  vor  dieser  Epoche  damit  gewesen  sei,  führte  durch 
manche  Marienbücher  hindurch,  deren  einerseits  confessionell-pole- 
mische,  andererseits  religiös -praktische  Tendenz  wenig  Belehrung 
bot,  zum  Studium  der  Quellen,  der  schriftlichen  und  monumentalen. 
Das  gewonnene  Resultat,  dass  aus  der  früheren  Entwickelung  das 
ganz  naturgemäss  gewachsene  Marienideal  gewissermassen  schon 
fertig  an  das  fünfte  Jahrhundert  abgegeben  wird,  schien  nicht  un- 
werth,  denjenigen  vorgelegt  zu  werden,  welche  sich  für  das  Werden 


VIII 


und  Wachsen  bestimmter  kunstgeschichllicher  Ideale  interessiren,  — 
und  so  entstand  dieses  Buch.  Dasselbe  hat  also  keinen  theologischen 
Zweck,  wenn  es  auch  vielfach  mit  theologischen  Mitteln  arbeitet, 
sondern  einen  archäologischen,  und  bittet,  hauptsächlich  von  diesem 
Gesichtspunkte  aus  angesehen  zu  werden.  Es  ist  ein  Vortheil  der 
christlichen  Kunstideale,  dass  ihr  Ursprung  und  ihre  Ausbildung 
in  der  religiösen  Phantasie,  der  Mutter  der  künstlerischen, 
Schritt  für  Schritt  historisch  nachgewiesen  werden  kann.  Dass  der 
Versuch,  diesen  Vortheil  bei  dem  behandelten  Gegenstände  auszu¬ 
nützen,  in  der  vorliegenden  Weise  zum  ersten  Mal  gemacht  wird, 
braucht  den  Kennern  der  Kunst-,  sowie  der  Kirchengeschichte  nicht 
gesagt  zu  werden. 

Sigmaringen,  im  Februar  1881. 


Vorrede  zur  zweiten  Auflage. 


Die  Kritik  hat  dieses  Buch  gut  aufgenommen.  Es  sind  mir 
über  fünfzig  Anzeigen  zugegangen,  ausser  deutschen  auch  fremd¬ 
sprachige,  welche  dieses  belegen.  Namentlich  auf  archäologischer 
Seite  zeigte  man  sich  zufrieden.  Von  den  Theologen  hingegen,  welche 
das  Buch  mit  einer  Besprechung  beehrten,  nahmen  einige  katholische 
an  einzelnen  Wendungen  und  Ausdrücken  Anstoss  oder  fanden  die 
Methode  für  den  Gegenstand  nicht  ausreichend,  einige  protestantische 
vermissten  insbesondere  den  Nachweis  des  Zusammenhangs  des 
Marienkultus  mit  dem  antiken  Polytheismus.  Zu  den  ersteren  ge¬ 
hört  Herr  Stephan  Beissel  S.  J.,  an  dessen  Anzeige  ich  darum  meine 
Gegenbemerkungen  anknüpfe,  weil  dieselbe  in  der  verbreitetsten 


IX 


katholischen  Zeitschrift  erschienen  ist,  zu  den  letzteren  Herr  Dr.  Hasen¬ 
clever,  Pastor  in  Braunschweig,  früher  in  Badenweiler. 

Herr  B.  (»Stimmen  aus  Maria  Laach«,  Jahrg.  1882,  H.  1) 
spricht  zwar  zuerst  auch  mit  grosser  Anerkennung  von  der  Arbeit. 
»Wer  sollte  nicht,«  sagt  er,  »der  Meisterhand  Lehners  danken,  der 
das  Bild  der  allerseligsten  Jungfrau  aus  dem  dunkeln  Grunde  der 
ersten  christlichen  Jahrhunderte  in  solchem  Glanze  hervortreten  lässt? 
Darum  war  es  vollkommen  gerechtfertigt,  dass  man  sein  Buch  mit 
solchem  Beifalle  aufnahm.  Mit  vollem  Herzen  stimmen  wir  in  das 
Lob  ein  und  freuen  uns,  dass  der  erste  Versuch,  den  Ursprung  und 
die  Ausbildung  des  Marienideals  vom  archäologischen  Standpunkte 
aus  nachzuweisen,  ihm  im  vollsten  Masse  gelungen  ist.« 

Ich  muss  gestehen,  mehr  als  das  hier  Ausgesprochene  habe  ich 
nicht  ambitionirt. 

Herr  B.  fährt  jedoch  fort:  »Leider  hat  das  Bestreben,  den  archäo¬ 
logischen  Standpunkt  zu  wahren,  als  Geschichtsforscher  und  nicht 
als  Theologe  aufzutreten,  den  geehrten  Verfasser  zu  Aeusserungen 
und  in  einzelnen  Punkten  zu  einer  Art  der  Behandlung  geführt,  die 
seinem  ausgezeichneten  Werke  nicht  zum  Vortheil  dient.  Wir  wollen 
nicht  zu  viel  Gewicht  darauf  legen,  dass  der  Verfasser  (S.  220)  sagt, 
,dass  es  jedenfalls  im  Anfang  des  fünften  Jahrhunderts  eine  Kathe¬ 
drale  gab,  die  ihr  (der  heiligen  Jungfrau)  geweiht  war'.  Der  Recensent 
in  der  Beilage  zur  Allgemeinen  Zeitung,  18.  Oktober  1881,  bemerkt 
mit  Recht:  wir  hätten  diese  Partie  mit  Rücksicht  auf  die  römischen 
und  konstantinopolitanischen  (und  andern)  Marienkirchen  gern  weiter 
ausgeführt  gesehen.« 

Hierauf  habe  ich  zu  erwidern,  dass  ich  diese  Bemerkung  des  — 
allem  Anschein  nach  durchaus  mit  der  Sache  vertrauten  —  Re- 
censenten  der  Allgemeinen  Zeitung  nicht  so  verstehe,  als  habe  er 
dem  Verfasser  wohl  indirekt  den  Vorwurf  machen  wollen,  eine  ältere 
Marienkirche  etwa  ignorirt  zu  haben,  sondern  der  Recensent  wünschte 
wohl  nur  bei  diesem  nicht  unpassenden  Anlass  eine  neue  zusammen¬ 
fassende  kritische  Beleuchtung  der  verschiedenen  spätem  Notizen 


X 


über  die  ältesten  Marienkirchen  ausser  der  ephesinischen,  um  diese 
an  sich  höchst  interessante  Frage  vielleicht  durch  den  Verfasser 
einen  Schritt  vorwärts  gebracht  zu  sehen.  Ich  für  meine  Person 
kann  Herrn  B.  versichern,  dass  ich  mir  alle  Mühe  gegeben  habe, 
die  Nachrichten  über  die  ältesten  Marienkirchen  zu  Rom  u.  s.  w. 
zu  sammeln  und  zu  prüfen ,  dass  es  mir  aber  nicht  gelungen  ist, 
den  Beweis  für  das  höhere  Alter  einer  derselben  gegenüber  der 
ephesinischen  Kirche  zu  erbringen.  Mein  Zweck  war  überhaupt  bei 
diesem  Paragraphen  nur,  denjenigen  Faktor  der  Heiligenverehrung, 
welcher  in  der  Weihung  von  Kirchen  auf  den  Namen  eines  Heiligen 
besteht,  auch  für  die  von  mir  behandelte  Periode  der  Marienverehrung 
beizubringen,  und  hierzu  genügte  der  Nachweis  einer  Kirche,  natür¬ 
lich  der  ersten  sicher  beglaubigten.  Im  Vertrauen  will  ich  übrigens 
noch  bekennen,  dass  ich  nicht  ohne  Kampf  der  Versuchung  wider¬ 
stand,  das  mühevoll  gesammelte  Material  hier  dennoch  zu  verwerthen, 
eine  Versuchung  indessen,  welche  begreiflicherweise  öfter  als  einmal 
im  Verlauf  der  Arbeit  überwunden  werden  musste,  um  nicht  un- 
nöthig  breit  zu  werden. 

Zweitens  bemerkt  Herr  B. :  »Oft  scheint  es,  als  ob  der  Verfasser 
die  Apokryphen  als  einzige  Quelle  der  späteren  Nachrichten  über  das 
Leben  und  Sterben  Marias  ansähe.« 

i 

Die  Apokryphen  sind  in  der  That  oft  die  ältesten,  uns  er¬ 
haltenen,  Quellen  über  mehrere  Partien  des  »Marienlebens«.  Dass 
sie  nicht  als  Urquellen  von  mir  betrachtet  werden,  ist  S.  221  aus¬ 
drücklich  gesagt.  Ich  nehme  sie  als  Dichtungen,  worin  sich  ein 
künstlerisch  geformter  Niederschlag  sowohl  der  biographischen  For¬ 
schung  als  der  Sagenbildung  findet.  Jedoch  es  ist  ja  hier  vollkommen 
gleichgiltig ,  welchen  historischen  Werth  man  den  Apokryphen  bei¬ 
legt.  Sie  sind  ein  Ausdruck  des  Zeitbewusstseins,  in  ihnen  spiegelt 
sich  der  Glaube  wieder,  und  das  genügt  dem  Archäologen  und  Kunst¬ 
forscher,  welcher  nur  darauf  ausgeht,  die  Geschichte  eines  Kunst¬ 
ideals  zu  ergründen.  Dass  der  Standpunkt  des  Dogmatikers  ein 
anderer  ist,  versteht  sich  von  selbst. 


XI 


Wichtiger  (als  die  beiden  obigen  Ausstellungen)  ist  es  (dem 
Herrn  B.),  wenn  S.  7  gesagt  wird:  »die  conservativeren  Kritiker  halten 
zwar  an  der  alten  Ansicht  fest,  dass  alle  Evangelien  aus  dem  ersten 
Jahrhundert  stammen,  während  andere  dieses  bloss  für  Matthäus, 
Markus  und  Lukas  zugeben  und  den  Ursprung  des  Johannes-Evan¬ 
geliums  in  das  erste  Viertel  oder  in  die  erste  Hälfte  des  zweiten 
Jahrhunderts  setzen.« 

Was  an  diesem  Satze  unrichtig  sein  oder  was  er  Aergerliches 
enthalten  soll,  kann  ich  nicht  einsehen,  wenn  nicht  etwa  die  blosse 
Erwähnung  der  Thatsache  verübelt  wird,  dass  die  Evangelien  Gegen¬ 
stand  der  historischen  Kritik  geworden  sind.  Warum  ich  aber  diesen 
Satz  geschrieben  habe,  konnte  Herr  B.  doch  dem  unmittelbar  nach¬ 
folgenden  Sätzchen  entnehmen,  welches  lautet:  »Die  Kindheitsgeschichte 
Christi  und  damit  die  Erzählung  der  Wunder,  welche  an  Maria  ge¬ 
schehen,  fällt  also  noch  ins  erste  Jahrhundert.«  Oder  ist  da  nicht 
ersichtlich,  dass  ich  nur  das  auch  von  der  negativen  Kritik  nicht 
mehr  angefochtene  Alter  der  Elemente  des  Marienkultus  con- 
statiren  wollte? 

Ebensowenig  ist  mir  die  Bemängelung  des  Satzes,  der  S.  185 
unten  bis  S.  186  oben  zu  lesen  war:  »Man  mag  nun  die  Evange¬ 
listen  fassen,  wie  man  will,  als  inspirirte  Organe  des  heiligen  Geistes 
oder  als  Schriftsteller,  die  mit  dem  für  alle  andern  geltenden  Mass- 
stabe  zu  messen  sind,  oder  wie  immer«,  verständlich ;  denn  ich  fuhr 
fort:  »Unter  allen  Umständen  dürfen  wir  sagen:  in  dieser  Weise  ge¬ 
dachte  man  der  heiligen  Jungfrau  ein  paar  Decennien  nach  ihrem  Tode, 
d.  h.  es  bestand  schon  in  dieser  Zeit  (erstes  Jahrhundert)  eine  Verehrung 
u.  s.  w.«  Warum  hat  Herr  B.  diese  Fortsetzung  übersehen?  Konnte 
ihm  entgehen,  dass  ich  hier  nichts  Anderes  sagen  wollte,  als:  auch  für 
die  negative  Kritik  ist  das  Resultat  dasselbe,  auch  von  ihr  muss  eine 
Verehrung  im  allgemeinen  Sinne  u.  s.  w.  (S.  186)  schon  im  ersten  Jahr¬ 
hundert  angenommen  werden?  —  Jedoch  die  von  Herrn  B.  missverstan¬ 
dene  Wendung  konnte  ganz  gut  wegbleiben,  ohne  den  Context  zu  al- 
teriren  und  ist  daher  in  dieser  zweiten  Auflage  des  Buches  weggeblieben. 


XII 


»Zweideutig  lautet«  für  Herrn  B.  ferner  der  Absatz,  welcher 
S.  6  unten  mit  den  Worten  beginnt:  »Dies  ist  das  gesammte  biblische 
Material«  und  S.  7  mit  den  Worten  schliesst:  »die  sich  von  ihr  im 
Geiste  der  Christen  gebildet  hat«.  Worin  die  Zweideutigkeit  bestehe, 
sagt  Herr  B.  aber  nicht.  Ist  ihm  etwa  das  anstössig,  dass  ich  auch 
hier  die  beiden  Hauptarten  der  Behandlung  der  Evangelien,  die  kirch¬ 
liche  und  die  kritische,  einfach  constatire? 

Doch  der  letzte  Satz  des  Abschnitts  »die  historische  Existenz 
der  Persönlichkeit  Mariens  liegt  hinter  unsern  Untersuchungen,  wir 
haben  es  nur  mit  der  Vorstellung  zu  thun ,  die  sich  von  ihr  im 
Geiste  der  Christen  gebildet  hat«  wird  als  besonders  zweideutig  her¬ 
vorgehoben.  »Was  sollen  wir  denken,«  sagt  Herr  B.,  »von  der  Vor¬ 
stellung,  die  sich  im  Geiste  der  Christen  gebildet  hat?« 

Ich  glaubte  mit  diesem  Satz  nicht  undeutlich  zu  sein.  Deut¬ 
licher  wäre  es  vielleicht  gewesen,  wenn  ich  anstatt  des  Wortes  »Geist« 
das  Wort  »Phantasie«  gewählt  hätte.  Sei  dem  nun,  wie  ihm  wolle, 
weil  ich  von  Herrn  B.  nicht  verstanden  worden  bin,  will  ich  meine 
Meinung  hier  mit  andern  Worten  wiedergeben.  Ich  will  also  sagen: 
meine  Absicht  ist  nicht,  eine  Biographie  der  heiligen  Jungfrau  zu 
schreiben,  sondern  eine  Geschichte  des  Madonnenideals  (das  ist  näm¬ 
lich  die  »Vorstellung,  die  sich  von  Maria  im  Geiste  der  Christen  ge¬ 
bildet  hat«),  wenigstens  die  Urgeschichte,  zu  versuchen. 

Tadelnswerth  erscheint  dem  Herrn  B.  weiterhin  ein  Satz  S.  10, 
der  in  der  ersten  Auflage  folgende  Fassung  hatte:  »Es  darf  ange¬ 
nommen  werden,  dass  bei  einem  Theile  der  frühesten  Christen¬ 
gemeinden  von  jenem  Wunder  (nämlich  dem  Empfängnisswunder) 
anfänglich  nicht  die  Rede  war.« 

Nun,  diese  Annahme  kann  nicht  fallen  gelassen  werden;  der 
Leser  wird  ihr  beistimmen,  wenn  er  in  dem  Buche  von  christlichen 
Sekten  der  ältesten  Zeit  hört,  welche  das  Empfängnisswunder  leug¬ 
neten,  wenn  er  S.  91  erfährt,  dass  die  Kirchenväter  nicht  weniger 
als  vier  Gründe  aufführen,  warum  das  Empfängnisswunder  anfäng¬ 
lich  verborgen  bleiben  musste  u.  s.  w.,  und  wenn  er  schliesslich 


XIII 


dasjenige  beherzigt,  was  ich  in  dieser  zweiten  Auflage  S.  10  über 
das  Markus  -  Evangelium  sage.  Zu  dieser  Betrachtung  über  das 
Markus-Evangelium  kam  ich  erst  nach  Erscheinen  der  ersten  Auf¬ 
lage  meines  Buches  durch  fortgesetztes  Studium  und  wiederholtes 
Nachdenken.  Der  Satz  der  ersten  Auflage:  »Es  lässt  sich  denken, 
dass  diejenigen,  welche  aus  dem  Markus-Evangelium  ihr  Wissen  von 
den  Thaten  und  Lehren  Jesu  schöpften,  zunächst  einfach  annahmen, 
derselbe  sei  Josephs  Sohn  gewesen,  denn  dieses  Evangelium  hat  die 
Kindheitsgeschichte  nicht«  findet  hierdurch  seine  Gorrectur. 

Dass  ich  S.  7  »ausführe,  die  einzelnen  Christengemeinden,  die 
im  Anfang  nur  ein  einzelnes  Evangelium  kannten,  hätten  neben  dem 
einzelnen  Evangelium  keine  mündliche  Belehrung  erhalten«,  ist  un¬ 
richtig.  Ich  halte  dort  im  Gegentheil  für  möglich,  dass  es  neben 
den  schon  mit  einem  Evangelium  beglückten  Kreisen  andere  christ¬ 
liche  Kreise  gab,  die  noch  gar  kein  Evangelium  besassen,  sondern 
mit  dem  lebendigen  Wort  des  Missionärs  sich  begnügen  mussten. 

Ebensowenig  spreche  ich  S.  8  von  »wesentlichen  Veränderungen« 
der  Dogmen.  Ich  gebrauche  das  Adjektiv  »wesentlich«  nicht,  ich 
rede  auch  gar  nicht  von  »Dogmen«.  Wohl  aber  von  Vorstellungen, 
von  einem  Bilde,  von  den  Zügen  eines  Bildes,  von  einer  Zeichnung, 
einem  Gemälde  und  dergleichen  Begriffen,  womit  die  archäologische 
und  Kunstwissenschaft  operirt  und  operiren  muss,  auch  wenn  sie 
ein  heiliges  Kultobjekt  behandelt. 

Herrn  B.  »klingt«  ferner  meine  gedrängte  Wiederholung  und 
Zusammenfassung  der  Einzelzüge  des  Marienbildes  zu  einem  Gesammt- 
bilde  auf  S.  182  »hart«.  Merkwürdig!  Prof.  Dr.  theol.  Nirschl 
(Münsterischer  Literar.  Handweiser,  Nr.  294)  findet  dagegen  in  dem 
gleichen  Abschnitte  »schöne  und  tiefsinnige  Worte«  und  lässt  die 
ganze  Partie  als  »Probe  der  eleganten  Darstellung«  wörtlich  ab- 
drucken.  Ist  es  denn  so  schwer,  hinter  dem  Tropus  »Maria  ist  .  .  . 
geworden«  die  eigentliche  nüchterne  Prosa  zu  erspähen? 

Ist  es  ferner  unrichtig,  dass  »der  Christ  des  fünften  Jahr¬ 
hunderts  dasselbe  Bild  ,die  Gottesgebärerin‘  hiess,  welches  von  dem 


XIV 


Christen  des  zweiten  Jahrhunderts  einfach  , Mutter  Jesu‘  genannt 
wurde?«  Oder  ist  der  Ausdruck  -ö-eoToxoc  etwa  schon  im  zweiten 
Jahrhundert  allgemein  gebräuchlich,  oder  vielmehr  kommt  er  da  über¬ 
haupt  nur  einmal  ganz  sicher  vor? 

Herr  B.  jedoch  findet  »in  diesen  Sätzen  die  Ausdrucksweise 
neu ;  sie  verflacht  das  kirchliche  Dogma  zu  sehr  und  bringt  auf  ge¬ 
fährliche  Bahnen«.  Herr  B.  ist  hier  offenbar  zu  ängstlich.  Er  kann 
sich  religiöse  Vorstellungen  wohl  nur  in  der  dogmatischen  Schul¬ 
sprache  verkörpert  denken,  freiere  Wendungen,  die  im  Garten  anderer 
Disciplinen  gewachsen  oder  selbständig  gestaltet  sind,  befremden  und 
erschrecken  ihn.  Und  in  diesem  Schrecken  hat  er  plötzlich  vergessen, 
was  er  im  Anfang  seiner  Besprechung  ganz  objektiv  gewürdigt  hatte, 
nämlich  dass  ich  gar  nicht  beabsichtigte,  die  Geschichte  der  kirch¬ 
lichen  Dogmen  über  die  heilige  Jungfrau  darzustellen,  sondern  dass 
ich  die  nach  und  nach  auftauchenden  Züge  des  Bildes  sammeln  und 
ordnen  wollte,  unter  welchem  Maria  in  der  künstlerischen  Phantasie 
der  Christenheit  ein  von  Tag  zu  Tag  glorreicheres  Leben  zu  leben 
begann.  Ich  kann  es  daher  nur  als  eine  gelegentliche  Digression 
betrachten,  wenn  Herr  B.  sich  über  Dogmen  und  ihre  richtige  Be¬ 
handlung  verbreitet,  da  mein  Buch  sich  gar  nicht  erlauben  will,  in 
die  Dogmatik  hineinzureden. 

Die  allgemeinen  Sätze,  mit  denen  Herr  B.  seine  Bemängelungen 
abschliesst,  geben  mir  Gelegenheit,  die  principielle  Verschiedenheit 
meines  Standpunktes  geltend  zu  machen,  darum  lasse  ich  diese  drei 
Sätze  auch  abdrucken,  obwohl  sie  sich  nicht  gegen  irgend  eine  Partie 
meines  Buches  kehren. 

»Es  liegt  nicht  bloss  in  der  Aufgabe  des  theologischen,  sondern 
auch  des  archäologischen  Standpunkts,  das  Christenthum  als  das 
hinzunehmen,  was  es  in  Wahrheit  und  Wirklichkeit  ist:  als  eine 
göttliche  Thatsache  [wer  wollte  da  widersprechen?  bis  hieher  unter¬ 
schreibe  ich  jedes  Wort],  und  man  muss  seine  Lehrentwickelung 
anders  besprechen,  als  die  Ausgestaltung  eines  philosophischen 
Systems.  Das  muss  heute  um  so  mehr  betont  werden,  je  mehr 


XV 


Stimmen  laut  werden,  welche  die  christlichen  Alterthümer  behandeln, 
wie  man  mexikanische  und  indische  Alterthümer  und  Phantastereien 
vom  sogenannten  Standpunkt  einer  wissenschaftlichen  Philosophie 
der  Geschichte  aus  bespricht.  Der  christliche  Glaube  ist  eine  zarte 
Pflanze,  die  in  solcher  Luft  nicht  gedeiht,  und  ist  ein  so  hohes 
Gut,  dass  man  nicht  ohne  Gefahr  seine  , Ausbildung4  in  einer 
Weise  besprechen  kann,  welche  für  Gläubige  und  Ungläubige  zu¬ 
gleich  passen  soll.« 

Hat  Herr  B.  hier  ein  bestimmtes  philosophisches  System  oder 
bestimmte  philosophische  Systeme  im  Auge,  so  hat  er  Recht;  spricht 
er  aber  im  Allgemeinen,  so  hat  er  nicht  Recht.  Nach  meiner  Ueber- 
zeugung  vertragen  die  christlichen  Alterthümer  ganz  dieselbe  Behand¬ 
lung,  wie  andere  Alterthümer,  sogar  wie  »mexikanische  und  indische«, 
vorausgesetzt,  dass  diese  Behandlung  eine  wissenschaftlich  ehrliche 
und  ernste  ist;  ja  sie  müssen  diese  Behandlung  vertragen.  »Der 
christliche  Glaube  ist«  allerdings  von  einem  gewissen  Gesichtspunkte 
aus  betrachtet  eine  »zarte  Pflanze«,  von  einem  andern  Gesichtspunkte 
aus  angesehen  ist  er  aber  ein  starker  Baum,  der  schon  manchen 
Sturm  der  Kritik  bestanden  hat  und  der  jeden  Sturm  der  Kritik 
bestehen  muss.  Eben  die  Göttlichkeit  seiner  Herkunft  muss  ihn  vor 
allen  Anfechtungen  zu  schützen  wissen.  Man  hat  entschieden  Un¬ 
recht,  in  ernsten,  strengen  wissenschaftlichen  Untersuchungen,  auch 
wenn  sie  die  rein  philologisch-historische  Methode  befolgen,  eine  Ge¬ 
fahr  für  den  Glauben  zu  erblicken;  die  Geschichte  lehrt  bekanntlich 
in  vielen  Beispielen  das  Gegentheil.  Allerdings  wird  durch  die  Wissen¬ 
schaft  der  Glaube  nicht  erworben,  aber  der  vorhandene  Glaube  wird 
durch  die  Wissenschaft  allein  nie  verloren.  »Scientia  obiter  libata 
a  Deo  abducit  sed  profundius  hausta  ad  eum  reducit.«  Mancher 
Christ,  der  z.  B.  etwas  mit  Evangelienkritik  zu  spielen  anfängt,  wird 
sich  beunruhigt  finden;  da  bleibt  ihm  denn  nichts  übrig,  als  solche 
Studien  mit  allem  Ernst  und  erschöpfend  zu  betreiben,  um  wieder 
ins  Gleichgewicht  zu  kommen.  Kurz,  ernste,  strenge  Wissenschaft, 
welche  allerdings  »für  Gläubige  und  Ungläubige  zugleich  passt«,  kann 


XVI 


dem  Gläubigen  nicht  schaden,  sondern  —  wenn  das  subjektive  Be¬ 
dürfnis  einmal  erwacht  ist  —  nur  nützen. 

Diese  principielle  Verschiedenheit  meines  Standpunktes  tiefer  zu 
begründen,  ist  hier  freilich  nicht  der  Ort;  ich  muss  mich  damit  be¬ 
gnügen,  sie  constatirt  zu  haben. 

Am  Schlüsse  der  Recension  kehrt  Herr  B.  wieder  zum  anfäng¬ 
lichen  Lobe  zurück.  »Wir  sind  weit  entfernt,  glauben  zu  machen, 
dass  einige  bedenkliche  Wendungen  dem  Buche  Lehners  seinen  Werth 
nehmen  .  .  .  Allen,  welche  sich  für  die  Geschichte  der  Marienver- 
ehrung  interessiren,  wird  das  treffliche  Werk  die  besten  Dienste  leisten. 
Sie  werden  mit  uns  dem  Verfasser  danken  u.  s.  w.« 

Der  Verfasser  kann  darum  dem  Recensenten  schliesslich  eben¬ 
falls  nur  für  seine  Anzeige  danken,  und  zwar  auch  für  die  Aus¬ 
stellungen  ,  weil  letztere  die  Gelegenheit  zu  den  obigen  Rückäusse¬ 
rungen  vermittelten,  durch  welche  hoffentlich  manches  Missverständnis 
gehoben  ist. 

Und  nun  zu  dem  Vorwurf  Herrn  Hasenclevers  (Protestantische 
Kirchenzeitung  für  das  evangelische  Deutschland  1882,  Nr.  3):  ich 
hätte  »über  die  Gründe,  die  innern  treibenden  Motive,  welche  im 
geistigen  und  religiösen  Leben  der  Christenheit  zu  der  Ausbildung 
des  Marienkultus  führten«,  nur  »gelegentlich«  etwas  mitgetheilt,  und 
»in  dem  Wenigen,  was  ich  darüber  anführe,  einen  Hauptpunkt  über¬ 
sehen,  nämlich  die  Einwirkung  des  Ethnicismus«. 

Da  muss  ich  denn  zunächst  bemerken,  dass  ich  mir  nicht  denken 
kann ,  was  Herr  H.  unter  diesen  fehlenden  »Gründen  und  innern 
treibenden  Motiven«  versteht  oder  verstanden  wissen  will,  nachdem 
ich  überzeugt  war  und  bin,  all  dieses  in  meinem  Buche  ausführlich 
dargelegt  zu  haben.  Wenigstens  habe  ich  von  weitern  Gründen  und 
Motiven  keine  Spur  entdeckt.  Dann  aber  kann  ich  nicht  glauben, 
dass  ich  den  von  Herrn  H.  so  genannten  Hauptpunkt  bei  meinen 
Studien  übersehen  haben  sollte.  Bevor  ich  nämlich  an  die  alten 
Quellen  kam ,  hatte  ich  eine  ziemliche  Anzahl  von  Schriften  über 
Maria  durchgenommen,  unter  andern  z.  B.  »Zur  Geschichte  der 


XVII 


Marienverehrung  u.  s.  w.  von  K.  F.  Klöden,  Direktor  u.  s.  w.« 
(Berlin  1840),  einem  Gonfessionsgenossen ,  sodann  »Versuch  einer 
Geschichte  des  Marien-  und  Annenkultus  von  Gl.  Frantz,  Pastor  zu 
Rüdigershagen  und  Zaunröden«  (Halberstadt  1854),  einem  Amts¬ 
bruder  des  Herrn  Recensenten  u.  s.  w.  Diese  beiden  Verfasser  — 
sowie  manche  andere  —  behaupten,  dass  Grund  und  Ursprung 
des  Marienkultus  bei  den  antiken  Göttinnen  »Astarte«,  »Venus  Ana- 
dyomene«,  »Venus  Urania«  (Klöden  S.  5  ff.),  »Isis  und  Gybele« 
»Demeter  und  Juno,  Melecheth  und  Astarte,  Freyja  und  Nerthus« 
(Frantz  S.  6)  zu  suchen  sei.  Ich  hatte  mir  dieses  scharf  gemerkt, 
als  ich  die  Quellen  zu  durchforschen  begann ,  denn  es  kam  mir 
nicht  so  unwahrscheinlich  vor,  dass  mancher  Zug  von  einem  oder 
dem  andern  antiken  Kunstideal  auf  das  christliche  übertragen  wor¬ 
den  sei.  Allein  ich  konnte  nichts  finden  ausser  dem ,  was  ich 
auf  S.  340  meines  Buches  angegeben  habe  —  ein  paar  Analogien. 
Namentlich  von  einem  Einfluss  des  antiken  Heidenthums  auf  Ent¬ 
stehung  und  Ausbildung  des  innern  Bildes,  der  religiösen  Vorstellung, 
überhaupt  von  einer  Befruchtung  der  christlich-religiösen  Phantasie 
durch  ein  antikes  Phantasiegebilde  konnte  ich  für  meinen  Gegenstand 
nichts  auftreiben;  und  ich  darf  mir  das  Zeugniss  geben,  bei  meinen 
Quellenstudien  nicht  oberflächlich  verfahren  zu  sein.  Ich  muss  daher 
die  Ansicht  des  Herrn  H.  insolange  als  Hypothese  betrachten,  bis 
der  Beweis  dafür  beigebracht  ist. 

»Es  ist  doch  klar,«  fährt  Herr  H.  fort,  »dass  bei  der  kirchlichen 
Ausgestaltung  der  ganzen  Heiligen-  und  Marienverehrung  der  unwill¬ 
kürliche  Drang  eines  gewissen  polytheistischen  Bedürfnisses  eine 
Hauptrolle  spielte.« 

Klar  ist  dies  erst  dann,  wenn  es  erwiesen  ist.  Was  Herr  II. 
nach  Hase  (Polemik,  4.  Auf!.,  S.  310)  ein  »polytheistisches  Bedürf¬ 
nis«  nennt,  das  nenne  z.  B.  ich  ein  allgemein  menschliches 
Bedürfniss  und  finde  dasselbe  bei  den  alten  Christen  befriedigt  in 
dem  specifischen  Andenken,  das  sie  ihren  Todten  widmeten,  worüber 
S.  183  ff.  meines  Buches  nachzusehen  ist.  Herr  H.  hat  Hase’s 


1 


XVIII 


Polemik,  auf  die  er  sich  eingangs  seiner  Recension  beruft,  offenbar 
nicht  ganz  gelesen ,  sonst  müsste  er  gefunden  haben ,  dass  dieser 
Gelehrte,  von  dem  er  sagt,  dass  er  unter  den  Protestanten  das  Beste 
über  den  Marienkultus  geschrieben  habe,  den  Ursprung  der  Heiligen¬ 
verehrung  in  ganz  ähnlicher  Weise  ableitet  wie  ich.  Hase  beginnt 
nämlich  (Polemik,  4.  Aufl.,  S.  296)  seinen  Abschnitt  »C.  Heilige« 
mit  den  Worten:  »Ein  langer  Zug  von  Heiligen  ist  aus  dem  Kloster 
hervorgegangen,  doch  sind  sie  älteren  Datums,  die  Heroen  der  Kirche. 
Ihre  Verehrung  ist  volksthümlich  entstanden,  indem  das  Andenken 
eines  geliebten  Menschen,  der  als  ein  Blutzeuge  Christi  gestorben 
war,  in  seiner  Gemeinde  heilig  gehalten  wurde  u.  s.  w.«  —  Ganz 
meine  Ueberzeugung. 

Im  Weiteren  entwickelt  Herr  Hasenclever  sodann  seine  Theorie 
der  Entstehung  des  Heiligenkultus  in  der  katholischen  Kirche  und 
polemisirt  gegen  diesen  Kultus.  Ich  kann  ihm  hierin  zwar  nicht 
beistimmen,  denn  meine  Studien  führten  mich  zu  andern  Resultaten, 
aber  ich  habe  ihm  nicht  auf  dieses  Feld  zu  folgen,  da  seine  Aus¬ 
lassungen  sich  nicht  mit  meinem  Buche  beschäftigen,  welches  ja 
keine  Apologie  des  Marien-  und  Heiligenkultus  ist.  Nur  im  Vorbei¬ 
gehen  möchte  ich  ihn  aufmerksam  darauf  machen,  dass  Hase  in  dem 
antiken  Heroenkultus,  sowie  in  dem  modernen  »Kultus  des  Genius« 
analoge  Erscheinungen  zu  der  katholischen  Heiligenverehrung  findet 
(S.  310  u.  312).  Diese  Analoga  sind  zwar  mit  allen  Gebrechen  der 
»Analogie«  behaftet,  aber  entschieden  näherliegend,  als  die  Hypo¬ 
thesen  Hasenclevers.  Auch  von  »Uebertreibungen«  unseres  modernsten 
Kultus  bringen  ja  die  Zeitungen  jeden  Tag  Berichte.  Ich  empfehle 
Herrn  H.  zu  seiner  Erheiterung  die  Lektüre  des  hübschen  Aufsatzes 
»Ein  Knopf  von  Goethe«  in  den  »Grenzboten«  1885,  Nr.  35.  Viel¬ 
leicht  gibt  ihm  eine  ruhige  Betrachtung  der  modernsten  Auswüchse 
einer  an  sich  berechtigten  Empfindung  den  Schlüssel  für  so  manche 
ihm  anstössige  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  des  volksthümlichen 
Heiligenkultes.  Homines  sumus ! 

Nach  dieser  Abschweifung  will  Herr  II.  wenigstens  einen  Be- 


< 


r 


XIX 


weis  bringen,  dass  mir  der  Einfluss  des  Heiden thums  auf  den  Marien¬ 
kultus  entgangen  sei. 

»Einen  solchen  Einfluss,«  sagt  er,  »hat  —  um  einiges  (einiges?) 
Einzelne  zu  erwähnen  —  der  Verfasser  sogar  bei  der  Sekte  der 
Kollyridianerinnen  übersehen,  bei  welcher  es  doch  ganz  unzweifelhaft 
ist,  dass  die  bei  den  Thesmophorien  der  Ceres  üblichen  Brotkuchen 
in  solche  der  Jungfrau  Maria  umgewandelt  wurden.« 

Ich  sage  S.  200  meines  Buches  über  diese  Ketzerinnen:  »Man 
hat  verschiedene  Vermuthungen  über  Ursprung  und  Wesen  der  Sekte 
geäussert,  man  meint,  die  Frauen  seien  neubekehrte  Heidinnen  ge¬ 
wesen  und  hätten  vielleicht  den  Dienst  der  , grossen  Göttin  der 
Syrer4  oder  einer  ähnlichen  weiblichen  Gottheit  auf  Maria 
übertragen,  oder  u.  s.  w.« 

Will  Herr  H.  das  Fehlen  des  Namens  der  Demeter  an  dieser 
Stelle  wirklich  im  Ernste  als  »Uebersehen«  im  obigen  Sinne  aufrecht¬ 
halten?  —  —  Zudem  ist  ja  durchaus  nicht  »ganz  unzweifelhaft«, 
dass  die  Brotkuchen  der  Demeter  hier  zu  suchen  sind;  Confessions- 
genossen  und  Amtsbrüder  des  Herrn  H.  ziehen  die  Kuchen  der  Me- 
lecheth  des  Himmels,  der  Magna  Dea,  der  Cybele  vor,  wie  z.  B. 
Augusti  und  der  obengenannte  Frantz.  —  Allein  was  hat  überhaupt 
die  ganze  Sekte  der  Kollyridianerinnen  mit  der  Entwickelung  des 
Marienkultus  zu  thun?  Ueber  nichts,  was  ich  vor  den  Quellenstudien 
für  einigermassen  bedeutsam  hielt,  wurde  ich  so  enttäuscht  als  über 
diese  Frauen.  Im  ganzen  Alterthum  lässt  sich  nichts  über  sie  finden, 
als  was  Epiphanius  mittheilt.  Und  was  hieraus  zu  gewinnen  ist, 
kann  in  meinem  Buch  S.  199  ff.  nachgelesen  werden.  Der  Amts¬ 
bruder  des  Herrn  H.,  Herr  Frantz,  meint  sogar,  »die  guten  Frauen 
hätten  sich  nur  einen  geselligen  Spass  gemacht,  bei  welchem  mehr 
geschwatzt  und  gelacht  als  gedacht  und  gebetet«  wurde  (S.  26), 
und  der  »Kirchenvater  Epiphanius  habe  wahrscheinlich  die  Sache  zu 
ernst  genommen«.  Nun,  das  negative  Verdienst  wenigstens  lässt  sich 
ihnen  nicht  absprechen,  dass  sie  dem  Epiphanius  Gelegenheit  gaben,  die 
kirchliche  Marienverehrung  ihnen  gegenüber  scharf  zu  charakterisiren. 


XX 


Ausser  diesem  Hauptvorwurf,  ich  hätte  den  Einfluss  des  Heiden¬ 
thums  übersehen,  macht  Herr  H.  noch  einige  kleinere  Ausstellungen. 
So  sagt  er,  ich  »verfechte«  die  Ansicht,  die  Trapö-svo«]  7cav7]Yoptc  (das 
Jungfrauenfest)  des  Proklus  sei  das  Verkündigungsfest  gewesen.  Das 
ist  zu  viel  gesagt,  ich  verfechte  dieses  nicht,  sondern  halte  es  bloss 
für  wahrscheinlich,  wie  manche  protestantische  Gelehrte  vor  mir, 
z.  B.  Augusti.  Schliesslich  aber  sage  ich:  »die  Frage  muss  offen 
gelassen  werden«  (S.  214). 

Gleich  nachher  findet  Herr  H.  meine  »Uebersetzung  der  calices 
des  Tertullian  mit  Messkelchen  (S.  284)  nur  dadurch  begreiflich, 
dass  ich  mein  katholisches  Gemüth  doch  nicht  ganz  verleugnen  könne, 
was  bei  einem  solchen  Gegenstand  billigerweise  auch  niemand  ver¬ 
langen  werde.  Im  Ganzen  habe  ich  mich  ja  unzweifelhaft  einer  an¬ 
erkenn  enswerthen  confessionellen  Vorurtheilslosigkeit  befleissigt«. 

Da  muss  ich  nun  zugeben,  dass  mir  mit  der  Gorrectur  ganz 
recht  geschieht,  obwohl  ich  eigentlich  nicht  »übersetzen«  wollte,  sonst 
hätte  ich  wahrhaftig  »Kelche«  gesagt.  Aber  warum  nahm  ich  den 
modernen  Ausdruck!  In  ähnlicherWeise  habe  ich  mich  von  einem 
andern  Kritiker  belehren  lassen  müssen,  dass  es  im  fünften  Jahr¬ 
hundert  noch  keine  »Pfarrer«  gegeben  habe  (S.  75).  Dass  aber  der 
Herr  Recensent  meine  confessionelle  Vorurtheilslosigkeit  lobt,  das 
habe  ich  nicht  verdient.  Ich  hatte  mich  der  Illusion  hingegeben,  so 
recht  kugelfest  auf  dem  Boden  der  archäologischen  Wissenschaft  zu 
stehen,  ich  dachte  meine  Arbeit  allen  confessionellen  Gesichtswinkeln 
durch  meine  Methode  entzogen  zu  haben,  und  nun  muss  ich  mich 
dennoch  ob  meiner  confessionellen  Vorurtheilslosigkeit  loben  lassen. 
Das  wäre  bitter,  wenn  es  nicht  von  einem  Kritiker  ausginge,  der 
offenbar  nicht  auf  dem  Standpunkt  confessioneller  Vorurtheilslosig¬ 
keit  steht.  Beinahe  verletzend  aber  ist  es,  dass  Herr  H.  anzunehmen 
scheint,  ich  hätte  mein  »katholisches  Gemüth«  eigentlich  verleugnen 
wollen,  es  sei  mir  aber  nur  nicht  ganz  gelungen.  Nein,  mein  »katho¬ 
lisches  Gemüth«  zu  verleugnen  war  nicht  meine  Absicht,  sondern  — 
nicht  ohne  Unterstützung  durch  mein  »katholisches  Gemüth«  —  die 


XXI 


geschichtliche  Wahrheit  darzustellen.  Was  ich  hierbei  schlecht  ge¬ 
macht  haben  sollte,  ist  höchstens  meinem  Mangel  an  Wissen  oder 
meiner  Ungeschicklichkeit,  nicht  aber  meinem  »katholischen  Gemüthe« 
aufs  Kerbholz  zu  setzen.  Doch  die  beinahe  verletzende  Bemerkung 
verliert  ihren  Stachel  durch  die  höchst  gemüthliche  Enthüllung  der 
Erwartungen,  die  der  Herr  Recensent  von  einem  »katholischen  Ge¬ 
müthe«  eigentlich  hegt.  Wenn  er  nämlich  die  Verleugnung  des 
»katholischen  Gemüths«  bei  einem  »solchen  Gegenstand«  nicht 
verlangt,  so  verlangt  er  sie  offenbar  bei  andern  Gegenständen.  Kurz, 
das  »katholische  Gemüth«  hat  für  den  Herrn  Recensenten  eigentlich 
kein  Existenzrecht,  nur  in  Ausnahmefällen  kann  ihm  ein  Lebens¬ 
zeichen  nachgesehen  werden.  —  Und  nun  noch  einmal  zu  den  be¬ 
sagten  »calices«  zurück!  Warum  »übersetzt«  denn  Herr  H.  in 
seinem  Buche  »Der  altchristliche  Gräberschmuck«  (Braunschweig 
1886.)  auf  S.  118  ebendieselbigen  »calices«  des  Tertullian  mit  »Abend¬ 
mahlskelche«?  Thut  er  da  etwas  Anderes,  als  dass  er  einen  ihm 
geläufigen  modernen  Ausdruck  nimmt,  der  ganz  mit  demselben  Fehler 
wie  meine  »Messkelche«  behaftet  ist,  dass  er  nämlich  nicht  bloss 
übersetzt,  sondern  paraphrasirt ?  —  Ist  das  mit  gleichem  Masse 
gemessen  ? 

In  summa:  man  sieht,  Herr  Hasenclever  »befleissigt  sich«,  wie 
schon  oben  bemerkt,  nicht  »einer  anerkennenswerthen  confessionellen 
Vorurtheilslosigkeit«. 

Schliesslich  will  ich  nur  noch  kurz  erwähnen,  dass  das  von  dem 
Herrn  Recensenten  mit  Anführungszeichen  versehene,  also  ihm  auf¬ 
fällige,  Adjektiv  »strittig«  von  Goethe  gebraucht  wird,  um  von  andern 
zu  schweigen  (Sanders  II,  1240);  dass  die  Gemälde  Nr.  3,  18,  19 
auf  meinen  Tafeln  für  mich  immer  noch  eher  Marienbilder  sind  als 
nicht;  und  dass  seine  Erklärung  einiger  Katakombendarstellungen 
am  Schlüsse  seiner  Recension  allerdings  dem  confessionellen  Stand¬ 
punkt  entspricht,  welchen  er  einnimmt. 

Es  mögen  nun  in  dieser  Vorrede  noch  einige  von  den  Notizen 
Platz  finden,  die  ich  mir  seit  dem  Erscheinen  des  Buches  im  Interesse 


XXII 


desselben  gemacht  habe.  Anderes,  Wichtigeres  ist  in  den  Context 
selbst  aufgenommen. 

S.  5,  Anm.  4.  Schanz,  Gommentar  über  das  Evangelium  des 
Lukas,  Tübingen  1883;  S.  173  sagt:  »Heliakim«  könne  nicht  in 
»,Heli«  abgekürzt  werden,  Heliakim  sei  =  □W7X,  Heli  (Eli) 

I  •  t •  •: 

aber  =  >7^. 

S.  7,  Z.  13  v.  o.  ist  zwischen  »wollen«  und  »so«  zu  setzen: 
wobei  wir  vorderhand  von  Allem  absehen,  was  verschiedene  Deu¬ 
tungen  erfahren  hat. 

S.  15.  Von  der  Anm.  2  ist  die  dritte  Zeile  zu  streichen. 

S.  35,  Z.  5  v.  o.  ist  statt  »Jahr  320«  zu  lesen:  ersten  Viertel 
des  vierten  Jahrhunderts. 

S.  39  unten.  Ueber  die  Disputation  des  Archelaus  mit  Manes 

\ 

s.  Harnack,  Texte  und  Untersuchungen  zur  Geschichte  der  altchrist¬ 
lichen  Literatur,  Leipzig  1883,  Bd.  I,  H.  3,  S.  137,  bes.  Anm.  1  u.  3. 

S.  62,  Anm.  5.  Es  muss  hier  vom  zweiten  Satz  an  so  heissen: 
Wäre  der  Gebrauch  dieses  Wortes  das  einzige  Bedenken  gegen  seine 
Aechtheit,  so  hätten  wir  gar  keines  dagegen,  denn  wie  Paul  von  Samo- 
sata  den  Ausdruck  von  den  Orthodoxen  herausforderte,  kann  nie¬ 
manden  entgehen.  Zudem  findet  sich  das  Wort  vereinzelt  auch  sonst, 
wie  bei  Origenes  (nach  Sokrates  VII,  32),  bei  Hippolytus  (Routh, 
Reliq.  s.  II,  332,  ed.  II.),  ja  vielleicht  schon  bei  dem  christlichen 
Philosophen  Aristides  zu  Hadrians  Zeiten  (Arist.  serm.  duo,  Venet. 
Mechit.  1878,  S.  9).  Vgl.  Nirschl,  Patrologie  I,  S.  345,  Anm.  5. 

S.  75,  Z.  20  v.  o.  muss  es  statt  »der  vielleicht  aus  dem  vorigen 
Jahrhundert  stammt«  heissen:  der  zwar  schon  früher  vereinzelt  sich 
vorfindet. 

S.  109,  Z.  3  v.  u.  ist  statt  Jakobus  zu  lesen  Petrus. 

S.  112,  Z.  6  v.  o.  Schegg  (Jakobus,  der  Bruder  des  Herrn, 
München  1883)  bestreitet  die  Identität  von  Alphäus  und  Kleophas; 
jenes  sei  semitisch,  dieses  griechisch  (KXsÖ7caTpo?  verkürzt  KXcoTrä?). 
Er  führt  aus,  dass  Jakobus,  der  Sohn  des  Alphäus,  und  Jakobus, 
der  Bruder  des  Herrn,  zwei  verschiedene  Personen  seien. 


XXIII 


S.  129,  Anm.  3.  Anstatt  »spätestens  aus  dem  Ende«  muss  es 
heissen:  aus  dem  Anfang. 

S.  200,  Z.  12  v.  o.  ist  Herrn  Hasenclever  zuliebe  (s.  oben)  nach 
»Göttin  der  Syrer«  einzurücken:  oder  der  Demeter. 

S.  265,  S.  8  v.  u.;  S.  283,  Z.  1  v.  o.;  S.  336  Z.  9  v.  u.  An 
diesen  drei  Stellen  ist  von  dem  Dittochäon  des  Prudentius  die  Rede. 
Dr.  Th.  Hach  (Zeitschrift  für  kirchliche  Wissenschaft  u.  s.  w.  von 
Dr.  Luthardt  1885,  H.  VII)  bestreitet,  dass  die  Vierzeilen  des 
Buches  Dittochäon  »poetische  Bildererklärungen«  seien,  er  hält  die¬ 
selben  »für  eine  Zusammenfassung  der  gewöhnlich  in  Verehrung  be¬ 
suchten  Stätten,  und  zwar  in  chronologischer,  nicht  in  topographischer 
Reihenfolge,  um  denen ,  wTelche  das  heilige  Land  besuchen  wollten, 
eine  Uebersicht  dessen  zu  geben,  was  sie  zu  erwarten  hätten«.  (?) 

S.  297.  Die  Ueberschrift  von  Nr.  18  muss  heissen:  Fresko¬ 
gemälde  in  dem  Coemeterium  Ostrianum  und  hiernach  ist  auch  S.  341, 
Z.  6  v.  u.  zu  verbessern. 

S.  331.  Bei  Nr.  87  ist  nach  »den  Pyxen  von  Werden  und 
Hannover«  zu  setzen :  sowie  den  Buchdeckel  der  Handschrift  65.  f. 
auf  der  Würzburger  Universitätsbibliothek  mit  der  Hochzeit  zu  Cana. 
S.  Stamminger,  Literar.  Rundschau,  Freiburg  i.  B.  1884,  Nr.  2. 

Von  ausländischen  Sammlungen  wäre  auf  das  Elfenbein  im 
Museum  zu  Nevers  aufmerksam  zu  machen,  welches  Barbier  de  Mon- 
tault  im  »Bulletin  monumental«  bekannt  gemacht  hat.  Es  zeigt  die 
Nativitas  und  die  Epiphanie  und  wird  dem  vierten  bis  fünften  Jahr¬ 
hundert  zugeschrieben.  S.  Repertor.  für  Kunstwissenschaft  von  Jani- 
tschek,  Bd.  IX,  H.  2,  S.  218  (Kraus). 

Bei  dieser  Gelegenheit  will  ich  auch  noch  auf  einige  unedirte 
Sarkophagreliefs  aus  dem  vierten  und  fünften  Jahrhundert  mit  Dar¬ 
stellungen  der  heiligen  Jungfrau,  die  mir  seither  bekannt  geworden  sind, 
kurz  hin  weisen.  Es  sind  dies  die  Nummern  80  (Maria,  auf  einem 
Bette  liegend,  mit  dem  Kinde  in  den  Armen,  empfängt  die  Magier), 
95,  111,  156,  165,  189  (immer  der  Magierbesuch)  bei  R.  Grousset, 
Etüde  sur  l’histoire  des  sarcophages  chretiens,  Paris  1885.  Sehr 


XXIV 


interessant  ist  das  in  Karthago  gefundene,  etwa  dem  vierten  Jahr¬ 
hundert  angehörende  Relieffragment:  Maria  mit  dem  Kinde  auf  dem 
Schoss  auf  einem  Throne  sitzend,  vor  ihr  ein  geflügelter  Engel,  hinter 
dem  Thron  eine  andere  Figur,  bei  Rossi,  Bulletino,  serie IV,  anno  3, 
Nr.  I,  S.  49  und  Tav.  I  u.  II,  Roma  1884 — 85. 

Sonst  habe  ich  bis  jetzt  an  meinem  Inventarium  der  Marien¬ 
darstellungen  nichts  Wesentliches  zu  ändern  gefunden.  Auch  Viktor 
Schultze’s  Bemerkungen  (»Die  Katakomben«,  Leipzig  1882,  S.  156) 
brachten  nichts  Neues.  Meine  Nummer  69  erklärt  er  hier  für  früh¬ 
mittelalterlich,  während  er  dieselbe  in  seinen  »Archäologischen  Stu¬ 
dien«  unter  Nr.  28  für  altchristlich  hält.  Sein  Inventar  mit  41  Num¬ 
mern,  das  er  für  richtiger  als  das  meinige  mit  87  Nummern  ausgibt, 
muss  er  noch  um  eine  Nummer  verringern,  denn  seine  Nummern  14 
und  32  beziehen  sich  auf  ein  und  dasselbe  Monument,  was  ich  bei 
meiner  Nummer  59  schon  in  der  ersten  Auflage  unauffällig  corrigirt 
habe.  Dass  Schultze  zur  Erklärung  des  spätestens  aus  dem  zweiten 
Jahrhundert  stammenden  Bildes  in  St.Priscilla  (Nr.  1  des  Verzeichnisses) 
einen  Hymnus  des  heiligen  Ephräm  aus  dem  vierten  Jahrhundert  herbei¬ 
zieht  (»Katakomben«,  S.  151  und  152),  finde  ich  nicht  consequent. 
Denn  in  seiner  Recension  meines  Buchs  (Theol.  Literaturzeitung  von 
Harnack  und  Schürer  1882,  Nr.  15)  verübelt  er  es  dem  Prof.  Springer, 
dass  er  zur  Erklärung  des  Wandbildes  im  Goemeterium  Ostrianum 
(Nr.  18  des  Verzeichnisses)  »frühmittelalterliche  Bilder  gleicher  Aus¬ 
gestaltung«,  die  zwei  Jahrhunderte  später  entstanden  seien,  herbei¬ 
gezogen  habe. 

Was  Dr.  Hach  über  »die  Darstellungen  der  Verkündigung  Mariä 
im  christlichen  Alterthum«  in  Luthardts  Zeitschrift  1.  1.  ausführt, 
hat  mich  noch  nicht  überzeugt,  dass  Nr.  4  meines  Inventars  kein 
Verkündigungsbild  ist.  Ebensowenig  ist  meine  Vermuthung  erschüttert, 
dass  das  Verkündigungsfest  das  älteste  Marienfest  sein  dürfte;  denn 
die  »Dekrete«  des  Concils  von  Nicäa  (anno  325),  worin  »der  dies 
Cereorum  sive  purificationis,  also  Lichtmess,  bereits  als  ein  dies 
festus,  als  kirchlicher  Feiertag,  aufgeführt  erscheint,  womit  zugleich 


XXV 


die  öfter  aufgestellte  Behauptung,  das  Verkündigungsfest  sei  das 
älteste  Marienfest,  widerlegt  ist«  (Mansi,  Conc.  Coli.,  t.  II,  col.  1034 
wird  von  Herrn  H.  citirt),  —  diese  »Dekrete«  sind  entschieden  nach- 
nicänischen  Ursprungs.  Die  Stelle,  welche  Herr  H.  anzieht,  stammt  aus 
den  unächten  arabischen  Constitutionen  der  Synode  von  Nicäa,  von 
denen  Hefele  (Conc.-Gesch.,  2.  Aufl.,  I,  366  ff.)  handelt. 

S.  338.  In  der  Anmerkung  ist  anstatt  »letzten  Bänden«  zu 
lesen:  Band  XXI  ff. 

In  den  »Theologischen  Studien  und  Kritiken«  von  Köstlin  und 
Riehm  (1886,  1.  u.  2.  Heft)  findet  sich  eine  längere  Abhandlung  von 
Prof.  Karl  Benrath  »Zur  Geschichte  der  Marienverehrung«.  S.  21, 
Anm.  1,  2,  3  wird  mein  Buch,  das  anfänglich  im  Context  beim 
Ueberblick  über  die  Literatur  gänzlich  ignorirt  wird,  während  der 
Verfasser  sich  die  Mühe  nimmt,  gegen  Autoren  des  sechzehnten  und 
siebzehnten  Jahrhunderts  zu  polemisiren,  doch  noch  im  Vorbeigehen 
citirt:  »nach  v.  Lehner,  Marienverehrung,  dessen  fleissige  Zusammen¬ 
stellung  ich  mehrfach  benützt  habe«.  Ich  muss  dem  Herrn  Verfasser 
das  Zeugniss  geben,  dass  diese  »Benützung«  für  den  Zeitraum,  welchen 
mein  Buch  umfasst,  in  der  That  eine  »mehrfache«  gewesen  ist.  Dass 
ihm  aber  aus  demselben  Material  andere  Resultate  erwachsen,  als 
mir,  ist  selbstverständlich. 

Sigmaringen,  Mariä  Himmelfahrt  1886. 


Der  Verfasser. 


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I 


Einleitung. 


Die  Elemente  des  Marienkultus  finden  sich  in  den  Erzählungen 
des  Neuen  Testamentes,  in  welchen  Maria  aktiv  oder  passiv  eine 
Rolle  spielt.  Von  diesen  Erzählungen  ist  nicht  bloss  der  Inhalt, 
sondern  auch  die  Form  bedeutungsvoll.  Zugleich  besteht  das,  was 
sich  aus  den  ersten  Jahrhunderten  von  andern  Schriften,  die  zur 
Beleuchtung  unserer  Frage  beitragen,  erhalten  hat,  zu  einem  guten 
Theil  aus  verschiedenartigen  Erläuterungen  und  Erweiterungen  der 
betreffenden  biblischen  Stellen.  Darum  empfiehlt  es  sich,  diese  Stellen, 
wenn  auch  allgemeine  Bekanntschaft  mit  ihnen  vorausgesetzt  wird, 
wörtlich  auszuheben. 

Matthäus  zunächst  berichtet  I,  18 — 25:  »Mit  der  Geburt  Jesu 
Christi  ging  es  also  zu:  Als  seine  Mutter  Maria  dem  Joseph  verlobt 
war,  fand  es  sich,  ehe  sie  zusammenkamen,  dass  sie  schwanger  war 
von  dem  heiligen  Geiste.  Joseph  aber,  ihr  Mann,  weil  er  gerecht  war 
und  sie  nicht  der  Schande  preisgeben  wollte,  gedachte  sie  heimlich 
zn  entlassen.  Indem  er  aber  mit  diesem  Gedanken  umging,  siehe, 
da  erschien  ihm  ein  Engel  des  Herrn  im  Traume  und  sprach:  Joseph, 
Sohn  Davids,  scheue  dich  nicht,  Maria,  dein  Weib  zu  dir  zu  nehmen, 
denn  was  in  ihr  gezeugt  ist,  das  ist  vom  heiligen  Geiste.  Sie  wird 
aber  einen  Sohn  gebären,  und  du  sollst  seinen  Namen  Jesus  heissen ; 
denn  er  wird  sein  Volk  erlösen  von  seinen  Sünden.  Diess  Alles 
aber  ist  geschehen,  auf  dass  erfüllet  würde,  was  von  dem  Herrn 
gesagt  worden  durch  den  Propheten,  der  da  spricht:  Siehe,  die 
Jungfrau  wird  schwanger  sein  und  einen  Sohn  gebären,  und  sie 
werden  seinen  Namen  Emmanuel  heissen,  welches  verdolmetschet  ist: 

Lehn  er,  Die  Marienverehrung.  1 


2 


Gott  mit  uns 1).  Als  nun  Joseph  vom  Schlafe  erwacht  war,  that 
er,  wie  ihm  der  Engel  des  Herrn  befohlen  hatte  und  nahm  sein  Weib 
zu  sich.  Und  er  erkannte  sie  nicht,  bis  sie  ihren  erstgeborenen 
Sohn  gebar2),  und  er  nannte  seinen  Namen  Jesus.« 

Im  zweiten  Kapitel  des  Matthäus  ist  ebenfalls  noch  etliche  Mal 
von  Maria  die  Rede.  Die  Magier,  von  ihrem  Stern  geleitet,  »gingen 
in  das  Haus  und  sahen  das  Kind  mit  Maria  seiner  Mutter«,  v.  11. 
Nach  der  Abreise  der  Magier  befiehlt  der  Engel  dem  Joseph:  »Steh  auf, 
nimm  das  Kind  und  seine  Mutter  und  flieh  nach  Aegypten«,  v.  13. 
Joseph  vollzieht  den  Befehl,  »nahm  das  Kind  und  seine  Mutter  bei 
Nacht  und  zog  fort  nach  Aegypten«,  v.  14,  das  er  später  auf  Engels 
Befehl  wieder  verlässt,  indem  er  »das  Kind  und  seine  Mutter«  nimmt, 
in  das  Land  Israel  zurückkehrt  und  zu  Nazareth  sich  niederlässt. 

Ausserdem  erwähnt  Matthäus  nur  noch  zweimal  der  Mutter  des 
Herrn.  Einmal  XII,  46 — 50.  »Als  er  noch  zu  dem  Volke  redete, 
siehe,  da  standen  seine  Mutter  und  seine  Brüder  draussen  und  suchten 
mit  ihm  zu  reden.  Da  sprach  Einer  zu  ihm:  Siehe,  deine  Mutter 
und  deine  Brüder  stehen  draussen  und  suchen  dich.  Er  aber  ant¬ 
wortete  und  sprach  zu  dem,  der  es  ihm  sagte:  Wer  ist  meine  Mutter, 
und  welche  sind  meine  Brüder?  Und  er  streckte  die  Hand  aus  über 
seine  Jünger  und  sprach:  Siehe  da  meine  Mutter  und  meine  Brüder. 
Denn  wer  immer  den  Willen  meines  Vaters  thut,  der  im  Himmel 
ist,  derselbe  ist  mir  Bruder,  Schwester  und  Mutter.«  Das  andere 
Mal  XIII,  55,  56.  »Ist  nicht  dieser  des  Zimmermanns  Sohn?  Heisst 
nicht  seine  Mutter  Maria,  und  seine  Brüder  Jakob,  Joseph,  Simon 
und  Judas?  Und  sind  nicht  seine  Schwestern  alle  bei  uns?« 

Die  beiden  zuletzt  angeführten  Stellen  finden  sich  nahezu  gleich¬ 
lautend  auch  bei  Markus  III,  31 — 35  und  VI,  3,  der  sonst  nichts 
über  die  Mutter  Jesu  beibringt.  Worin  sich  in  der  erstem  Stelle 
der  zweite  Evangelist  vom  ersten  unterscheidet,  ist  für  unsere  Frage 
nicht  von  Belang,  mit  Ausnahme  des  Anfangs:  »Nun  kamen  seine 
Mutter  und  seine  Brüder  und  blieben  draussen  stehen  und  schickten 
zu  ihm  hinein  und  Hessen  ihn  rufen  .  .  .  .«  Interessanter  ist  der 
kleine  Unterschied  des  Anfangs  der  zweiten  Stelle:  »Ist  das  nicht  der 
Zimmermann,  der  Sohn  der  Maria  und  Bruder  des  Jakobus  u.  s.  w.« 

Lukas,  der  »Allem  genau  von  seinem  Ursprünge  an  nachge- 


0  Is.  VII,  14. 

2)  »bis  sie  einen  Sohn  gebar«  nach  dem  Cod.  Sinait. 


3 


forscht«  *)  hat,  tritt  ergänzend  auf.  Nachdem  er  die  Verkündigung 
Johannes  des  Täufers  und  was  damit  zusammenhängt,  erzählt  hat, 
fährt  er  I,  20—56  also  fort:  »Im  sechsten  Monat  (der  Schwanger¬ 
schaft  Elisabeths)  wurde  der  Engel  Gabriel  von  Gott  gesandt  in  eine 
Stadt  in  Galiläa,  mit  Namen  Nazareth,  zu  einer  Jungfrau,  die  einem 
Manne  vom  Hause  Davids  verlobt  war,  welcher  Joseph  hiess;  und 
der  Name  der  Jungfrau  war  Maria.  Und  der  Engel  kam  zu  ihr 
hinein  und  sprach:  Gegrüsst  seist  du  Gnadenvolle,  der  Herr  ist  mit 
dir,  Gebenedeite  unter  den  Weibern!  Da  sie  diess  hörte,  erschrack 
sie  über  seine  Rede  und  dachte  nach,  was  das  für  ein  Gruss  sei. 
Und  der  Engel  sprach  zu  ihr:  fürchte  dich  nicht,  Maria;  denn  du 
hast  Gnade  gefunden  bei  Gott.  Siehe,  du  wirst  empfangen  in  deinem 
Leibe  und  einen  Sohn  gebären,  und  du  wirst  seinen  Namen  Jesus 
heissen.  Dieser  wird  gross  sein  und  Sohn  des  Höchsten  genannt 
werden,  und  Gott  der  Herr  wird  ihm  den  Thron  seines  Vaters  David 
geben,  und  er  wird  herrschen  über  das  Haus  Jakobs  ewiglich,  und 
seines  Reiches  wird  kein  Ende  sein.  Maria  aber  sprach  zu  dem 
Engel:  wie  wird  dieses  geschehen,  da  ich  keinen  Mann  erkenne? 
Der  Engel  antwortete  und  sprach  zu  ihr:  der  heilige  Geist  wird  über 
dich  kommen  und  die  Kraft  des  Höchsten  wird  dich  überschatten; 
darum  wird  auch  das  Heilige,  welches  geboren  wird,  Sohn  Gottes 
genannt  werden.  Und  siehe,  Elisabeth,  deine  Verwandte,  auch  diese 
hat  einen  Sohn  in  ihrem  Alter  empfangen,  und  sie,  die  unfruchtbar 
heisst,  geht  nun  schon  im  sechsten  Monate;  denn  bei  Gott  ist  kein 
Ding  unmöglich.  Maria  aber  sprach:  siehe,  ich  bin  eine  Magd  des 
Herrn;  mir  geschehe  nach  deinem  Worte.  Und  der  Engel  schied 
von  ihr.  Maria  aber  machte  sich  auf  in  jenen  Tagen  und  ging 
eilends  auf  das  Gebirge  in  eine  Stadt  Juda.  Und  sie  kam  in  das  Haus 
des  Zacharias  und  grüsste  Elisabeth.  Und  es  begab  sich,  als  Elisa¬ 
beth  den  Gruss  Mariens  hörte,  hüpfte  das  Kind  in  ihrem  Leibe  auf. 
Und  Elisabeth  ward  erfüllet  von  dem  heiligen  Geiste,  und  sie  rief 
mit  lauter  Stimme  und  sprach:  gebenedeit  bist  du  unter  den  Weibern 
und  gebenedeit  ist  die  Frucht  deines  Leibes.  Und  woher  geschieht 
mir  das,  dass  die  Mutter  meines  Herrn  zu  mir  kommt?  Denn  siehe, 
als  die  Stimme  deines  Grusses  zu  meinen  Ohren  kam ,  hüpfte  das 
Kind  vor  Freuden  in  meinem  Leibe.  Und  selig  bist  du,  dass  du 
geglaubt  hast,  denn  was  dir  von  dem  Herrn  gesagt  worden  ist,  wird 


’)  Luc.  1,  3. 


4 


in  Erfüllung  gehen.  Und  Maria  sprach :  Hoch  preiset  meine  Seele 
den  Herrn,  und  mein  Geist  frohlocket  in  Gott,  meinem  Heilande, 
denn  er  hat  angesehen  die  Niedrigkeit  seiner  Magd.  Denn  -siehe, 
von  nun  an  werden  mich  selig  preisen  alle  Geschlechter,  denn  Grosses 
hat  an  mir  gethan  der  Mächtige.  Und  heilig  ist  sein  Name,  und 
seine  Barmherzigkeit  währet  von  Geschlechte  zu  Geschlecht  für  die, 
so  ihn  fürchten.  Er  übet  Gewalt  mit  seinem  Arm,  zerstreut,  die 
da  hoffärtig  sind  in  ihres  Herzens  Sinne;  die  Gewaltigen  stürzt  er 
von  den  Thronen  und  erhöhet  die  Niedrigen,  die  Hungrigen  erfüllt 
er  mit  Gütern  ,  die  Reichen  lässt  er  leer  ausgehen.  Er  nimmt  sich 
Israels  an,  seines  Knechtes,  eingedenk  seiner  Barmherzigkeit,  wie  er 
zu  unsern  Vätern  gesprochen  hat,  zu  Abraham  und  seinem  Samen 
auf  ewig.  —  Maria  blieb  bei  ihr  ungefähr  drei  Monate,  und  kehrte 
dann  zurück  in  ihr  Haus.« 

Diesem  Berichte  von  der  »Verkündigung«  und  »Heimsuchung« 
folgt  II,  1 — 7  die  Erzählung  von  der  Geburt  Jesu.  »Es  geschah  in 
jenen  Tagen,  dass  vom  Kaiser  Augustus  ein  Befehl  ausging,  die 
ganze  Welt  aufzuzeichnen.  Diese  erste  Aufzeichnung  geschah  unter 
Cyrinus,  dem  Statthalter  von  Syrien.  Und  alle  gingen  hin,  um  sich 
aufschreiben  zu  lassen,  ein  jeder  in  seine  Stadt.  Und  es  ging  auch 
Joseph  von  Galiläa  aus  der  Stadt  Nazareth  hinauf  nach  Judäa  in  die 
Stadt  Davids,  welche  Bethlehem  heisst,  weil  er  aus  dem  Hause  und  Ge¬ 
schlechte  Davids  war,  um  mit  Maria,  seiner  Verlobten,  welche  schwanger 
war,  sich  aufschreiben  zu  lassen.  Es  begab  sich  aber,  als  sie  da¬ 
selbst  waren,  kam  die  Zeit,  dass  sie  gebären  sollte,  und  sie  gebar 
ihren  erstgeborenen  Sohn,  wickelte  ihn  in  Windeln  und  legte  ihn  in 
eine  Krippe,  weil  in  der  Herberge  kein  Platz  für  sie  war.«  Das 
frohe  Ereigniss  wird  durch  Engels  Mund  benachbarten  Hirten  ver¬ 
kündigt,  diese  kommen  herbei  und  »fanden  Maria  und  Joseph  und 
das  Kind,  das  in  der  Krippe  lag«,  v.  16.  Sie  erzählen,  was  sie 
hergetrieben,  »alle,  die  es  hörten,  verwunderten  sich«,  v.  18.  »Maria 
aber  behielt  alle  diese  Worte  und  überlegte  sie  in  ihrem  Herzen«, 
v.  19.  »Und  da  die  Tage  ihrer  x)  Reinigung  nach  dem  Gesetze 
Mosis  erfüllt  waren,  brachten  sie  ihn  nach  Jerusalem,  um  ihn  dem 
Herrn  darzustellen,  wie  geschrieben  steht  im  Gesetze  des  Herrn:  alles 
Männliche,  welches  den  Mutterschooss  öffnet,  soll  dem  Herrn  geheiligt 


9  »ihrer«  kann  Genit.  sing,  oder  plur.  sein.  Das  Griechische  hat  aüxtüv 
(andere  Handschriften  a5rrj<;),  die  Vulg.  hat  eius. 


werden  *),  und  um  ein  Opfer  darzubringen ,  wie  es  im  Gesetze  des 
Herrn  geboten  ist,  ein  paar  Turteltauben  oder  zwei  junge  Tauben« *  2), 
v.  22 — 24.  Auf  Antrieb  des  Geistes  war  Simeon  in  den  Tempel 
gekommen,  und  nachdem  er  den  »Trost  Israels«  auf  den  Armen 
getragen  und  Gott  gepriesen,  wendet  er  sich  auch  zu  Maria,  die  wie 
Joseph  über  all  das  sich  verwundert :  »Siehe,  dieser  ist  gesetzt  zum 
Falle  und  zur  Auferstehung  Vieler  in  Israel,  und  als  Zeichen,  dem 
man  widersprechen  wird.  Und  ein  Schwert  wird  deine  eigene  Seele 
durchdringen,  damit  die  Gedanken  vieler  Herzen  offenbar  werden«, 
v.  34.  35.  »Und  da  sie  Alles  nach  dem  Gesetze  des  Herrn  vollendet 
hatten,  kehrten  sie  nach  Galiläa  zurück  in  ihre  Stadt  Nazareth.  Das 
Kind  aber  wuchs,  ward  stark,  war  voll  Weisheit,  und  die  Gnade 
Gottes  war  in  ihm.  Und  es  gingen  seine  Eltern  alle  Jahre  nach 
Jerusalem  auf  das  Osterfest«,  v.  39 — 41,  verlieren  bei  einer  solchen 
Gelegenheit  den  zwölfjährigen  Jesus  und  »wundern«  sich,  ihn  lehrend 
im  Tempel  zu  finden,  »und  seine  Mutter  sprach  zu  ihm:  Kind,  warum 
hast  du  uns  das  gethan?  Siehe,  dein  Vater  und  ich  haben  dich 
mit  Schmerzen  gesucht«,  v.  48.  —  Seine  Antwort  »verstanden  sie  nicht«, 
v.  50.  »Und  er  zog  mit  ihnen  hinab  und  kam  nach  Nazareth  und 
war  ihnen  unterthan.  Und  seine  Mutter  bewahrte  alle  diese  Worte 
in  ihrem  Herzen«,  v.  51. 

Das  Geschlechtsregister  im  dritten  Kapitel  des  Lukas  wird  von 
einer  Reihe  Erklärer  als  Stammbaum  Mariä  gedeutet,  indem  sie 
folgendem! assen  übersetzen:  »Und  Jesus  war  anfangend  zu  predigen 
gegen  clreissig  Jahre  alt,  seiend  Sohn  (wie  man  meinte:  Josephs) 
des  Heli,  des  Matthat,  des  Levi  ....  des  Nathan,  des  David 
des  Adam,  Gottes.«  So  verstanden  zählt  diese  Stammtafel  (ausser 
dem  himmlischen)  alle  irdischen  »Väter«  Jesu  bis  auf  Adam  zurück 
auf  und  der  dem  Heiland  zunächststehende  ist  sein  Grossvater,  der 
Vater  seiner  Mutter,  Heli.  Zu  Gunsten  dieser  Interpretation  lässt 
sich  anführen ,  dass  allerdings  auch  im  Thalmud  von  Jerusalem  3) 
Marias  Vater  Heli  genannt  wird  und  dass  sein  traditioneller  Name 
Joachim  oder  Joakim  gleichbedeutend  mit  Heliakim 4),  abgekürzt 
Heli,  ist. 


0  II.  Mos.  XIII,  1.  2. 

2)  III.  Mos.  XII,  8. 

3)  C.hagig  fol.  77,  n.  4. 

4)  Vgl.  Buch  Judith  IV,  11  und  XV,  9.  Beides  bedeutet:  »Gotthelf«. 


6 


Luk.  YTIII,  19 — 21  führt  dieselbe  Scene  vor,  wie  Matth.  XII, 
46 — 50  und  Mark.  III,  31 — 35.  Siehe  oben. 

Auf  Maria  bezieht  sich  auch  noch  XI,  27.  »Es  geschah  aber, 
als  er  dieses  redete,  erhob  ein  Weib  aus  dem  Volke  ihre  Stimme 
und  sprach  zu  ihm:  selig  ist  der  Leib,  der  dich  getragen  hat,  und 
die  Brüste,  die  du  gesogen  hast.« 

Der  vierte  Evangelist,  Johannes,  führt  die  heilige  Jungfrau  zwei¬ 
mal  ein.  Zuerst  II,  1 — 5.  »Am  dritten  Tage  ward  eine  Hochzeit 
gehalten  zu  Kana  in  Galiläa;  und  die  Mutter  Jesu  war  dabei.  Auch 
Jesus  und  seine  Jünger  waren  zur  Hochzeit  geladen.  Und  da  es  am 
Wein  gebrach,  sagte  die  Mutter  Jesu  zu  ihm:  Sie  haben  keinen 
Wein.  Jesus  aber  sprach  zu  ihr:  Weib,  was  habe  ich  mit  dir  zu 
schaffen?  Meine  Stunde  ist  noch  nicht  gekommen.  Da  sagte  seine 
Mutter  zu  den  Dienern:  Was  er  euch  sagt,  das  thuet.«  Nach  der 
Erzählung  des  Wunders  fährt  Johannes  fort :  Darnach  ging  er  hinab 
nach  Kapharnaum,  er,  seine  Mutter,  seine  Brüder  und  seine  Jünger, 
und  sie  blieben  daselbst  nur  wenige  Tage«,  v.  12. 

Die  andere  Stelle  ist  XIX,  25 — 27.  »Es  standen  bei  dem  Kreuze 
Jesu  seine  Mutter  und  die  Schwester  seiner  Mutter,  Maria,  die  Frau 
des  Kleophas,  und  Maria  Magdalena.  Da  nun  Jesus  seine  Mutter 
und  den  Jünger,  den  er  liebte,  stehen  sah,  sprach  er  zu  seiner  Mutter: 
Weib,  siehe,  dein  Sohn!  Hierauf  sprach  er  zu  dem  Jünger:  siehe,  deine 
Mutter!  Und  von  derselben  Stunde  an  nahm  sie  der  Jünger  zu  sich.« 

Die  Apostelgeschichte  gedenkt  nur  einmal  der  Mutter  des  Herrn. 
Es  werden  die  Personen  aufgezählt,  die  nach  der  Himmelfahrt  Christi 
in  einem  Hause  zu  Jerusalem  beisammenblieben  und  dann  wird  I,  14 
fortgefahren:  »diese  alle  beharrten  einmüthig  im  Gebete  sammt  den 
Frauen  und  Maria,  der  Mutter  Jesu,  und  sammt  seinen  Brüdern.« 

Aus  dem  Galaterbrief  ist  die  Stelle  IV,  4  anzumerken:  »Gott 
sandte  seinen  Sohn,  geworden  aus  einem  Weibe.« 

Das  apokalyptische  Weib  *)  endlich  wird  dann  erst  zur  Sprache 
kommen,  wenn  es  auf  Maria  bezogen  wird. 

Diess  ist  das  gesammte  biblische  Material.  Die  Kirche  nimmt 
dasselbe  als  Geschichte  und  legt  sich  die  Abweichungen  der  ver¬ 
schiedenen  Berichterstatter,  sowie  die  scheinbaren  oder  wirklichen 
Widersprüche  gläubig  zurecht.  Die  Kritik  betrachtet  namentlich  die 
Kindheitsgeschichte  Jesu  als  Sage  und  erkennt  in  den  Varianten 


9  Apoc.  XII,  1  ff. 


7 


verschiedene  Ausgestaltungen  der  Phantasie,  ßaronius  l),  Natalis 
Alexander  2),  Tillemont 3)  (die  beiden  letzteren  mit  grosser  Vorsicht), 
haben  auf  Grundlage  dieses  Materials  in  Verbindung  mit  andern 
mehr  oder  minder  verdächtigen  Quellen  den  Versuch  gemacht,  gewisse 
biographische  Daten  in  Betreff  Mariens  zu  fixiren.  Viele  andere,  vor 
und  nach  ihnen,  haben  dasselbe  gethan.  Auch  die  neuere  Kritik 
hat  aus  dem  »sagenhaften«  Stoff  den  geschichtlichen  Kern  heraus¬ 
zuschälen  unternommen.  Beide  Bestrebungen  berühren  unsere  Auf¬ 
gabe  nicht.  Die  historische  Existenz  der  Persönlichkeit  Mariens  liegt 
hinter  unsern  Untersuchungen,  wir  haben  es  nur  mit  der  Vorstellung 
zu  thun,  die  sich  von  ihr  im  Geiste  der  Christen  gebildet  hat. 

Wenn  wir  nun  an  der  Hand  der  biblischen  Erzählungen  die 
Grundzüge  dieser  Vorstellung  uns  vergegenwärtigen  wollen,  so  werden 
es  etwa  die  folgenden  sein: 

Maria  ist  Jungfrau,  Mutter  des  Messias,  Josephs  Weib. 
Sie  ist  gläubig  und  tugendhaft  und  geniesst  der  Gnade 
Gottes.  Sie  wird  selig  gepriesen. 

Obige  Abstraktion  kann  selbstverständlich  nur  für  die  Zeit  gelten, 
in  welcher  die  kanonischen  Evangelien  schon  allgemeinere  Verbreitung 
und  Anerkennung  unter  den  Christen  gefunden  hatten.  Die  conser- 
vativeren  Kritiker  halten  nun  zwar  an  der  alten  Ansicht  fest,  dass 
alle  Evangelien  aus  dem  ersten  Jahrhundert  stammen,  während 
andere  dieses  bloss  für  Matthäus,  Markus  und  Lukas  zugeben  und 
den  Ursprung  des  Johannesevangeliums  in  das  erste  Viertel  oder  in 
die  erste  Hälfte  des  zweiten  Jahrhunderts  setzen.  Die  Kindheits¬ 
geschichte  Christi  und  damit  die  Erzählung  der  Wunder,  welche  an 
Maria  geschehen,  fällt  also  allerdings  noch  ins  erste  Jahrhundert. 
Damit  aber  noch  nicht  nothwendig  ihre  allgemeinere  Verbreitung  und 
Anerkennung.  Die  einzelnen  Evangelien  nämlich  galten  natürlich 
zunächst  nur  in  den  engeren  oder  weiteren  Kreisen,  aus  denen  sie 
stammten  und  für  die  sie  ursprünglich  bestimmt  waren,  während 
andere  christliche  Kreise  vielleicht  noch  von  dem  lebendigen  Wort 
des  Missionärs  allein  zehrten  oder  anderweitige  schriftliche  Aufzeich¬ 
nungen  hatten.  Der  Evangelist  Lukas  weist  mit  seinen  ersten  Worten 


h  Appar.  ad  ann.  eccl.  c.  39,  41,  42,  47,  49;  Annal.  ad  ann.  I.  c.  39;  ad 
ann.  48,  c.  4  etc. 

2)  Hist.  eccl.  sec.  I.  Art.  III.  VI. 

3)  Mem,  I.  La  s.  vierge. 


8 


hierauf  hin.  Nur  allmälig  griff  die  Autorität  derselben  so  um  sich, 
dass  sie  in  den  Augen  der  überwiegenden  Mehrheit  der  Christen 
als  einander  ergänzende  Quellen  der  heiligen  Geschichte  zusammen¬ 
gefasst  und  im  Gegensatz  zu  andern  Schriften  als  die  ächten  Quellen 
betrachtet  wurden.  Dieses  war  etwa  um  die  Mitte  des  zweiten  Jahr¬ 
hunderts  eingetreten,  und  für  diese  Zeit  also  kann  angenommen 
werden,  dass  das  Bild,  unter  welchem  Maria  im  Geiste  der  Gläubigen 
lebte,  ungefähr  die  oben  dargelegten  Züge  trug.  Dieses  Bild  ist  unser 
Ausgangspunkt  und  es  ist  nun  zunächst  an  der  Hand  der  Kirchen¬ 
geschichte  nachzusehen,  wie  sich  die  einzelnen  Züge  gestaltet,  ent¬ 
wickelt,  verändert,  vermehrt  und  nach  und  nach  immer  voller  und 
reicher  ausgeprägt  haben,  bis  die  magere  Zeichnung  zu  jenem  farben¬ 
satten  Gemälde  wird,  welches  als  Kultobjekt  eine  so  hervorragende 
Stellung  gewinnt. 

Die  Kirchengeschichte  lehrt  uns,  dass  die  Ausgestaltung  christ¬ 
licher  Religionsvorstellungen  hauptsächlich  durch  drei  Faktoren  sowohl 
Anstoss  als  Förderung  erhielt: 

1.  durch  die  jüdische  und  heidnische  Opposition; 

2.  durch  den  immer  neuen  Gegensatz  der  Häresie; 

3.  durch  die  eigene  Triebkraft  des  christlichen  Geistes,  der  den 
Glaubensinhalt  theils  mit  dem  Wissen  zu  bemeistern  versuchte  und 
in  Lehrsätzen  ausprägte,  theils  vermittelst  der  Phantasie  in  plastische 
Gestalten,  zunächst  für  den  innern  Sinn,  ausbildete,  und  sich  Objekte 
der  Verehrung  schuf. 

Diesen  Prozess  haben  wir  nun  auch  bei  unserem  Marienbilde 
zu  verfolgen  und  werden  hiebei  die  Erfahrung  machen,  dass  bald 
der  eine,  bald  der  andere  Faktor  vorwiegt  und  zwar  bald  der  Zeit, 
bald  dem  Gewichte  nach.  Indem  wir  daher  jeden  einzelnen  Zug 
des  Bildes  durch  seine  hiedurch  bedingten  Phasen  bis  zu  seiner 
relativen  Vollendung  zu  begleiten  und  dann  auch  nachzusehen  haben, 
ob  und  welche  neuen  Züge  sich  an  die  obigen  anschliessen ,  um 
zuletzt  alle  wieder  zu  einem  Gesammtbilde  zusammenzufassen ,  be¬ 
ginnen  wir  sachgemäss  mit  dem  Zug  der  Jungfräulichkeit.  Wir 
verstehen  darunter  das  Wunder,  dass  Maria  ihren  Sohn  als  Jungfrau 
empfangen  habe. 


Jungfrau. 

Das  Empfängnisswunder  muss  zunächst  in  denjenigen  Gemeinden 
geglaubt  worden  sein,  welche  das  Matthäus-  oder  Lukasevangelium 
besassen,  und  muss  mit  der  Ausbreitung  dieser  Evangelien  sich  ver¬ 
breitet  haben.  Dass  es  aber  auch  vor  Abfassung  dieser  beiden 
Evangelien  schon  ziemlich  bekannt  war,  ist  sicher  anzunehmen,  denn 
wir  haben  in  den  Evangelien  nicht  bloss  die  Einzelstimmen  ihrer 
Verfasser  oder  Redaktoren,  sondern  die  Stimmen  von  Gemeinschaften 
zu  vernehmen,  aus  denen  heraus  sie  entstanden  sind.  Dann  sagt 
Lukas  ja  unmittelbar,  bevor  er  seine  »Vorgeschichte«  beginnt,  er 
habe  »Allem  genau  von  seinem  Ursprünge  an  nachgeforscht«,  woraus 
geschlossen  werden  darf,  dass  er  dieses  Wunder  als  alten  Bestandtheil 
des  Christenglaubens  vorgefunden  habe.  Ferner  ist  zu  vermuthen, 
dass  in  den  Gemeinden,  welche  der  Apostel  Paulus  gegründet  hatte, 
der  Glaube  an  das  Empfängnisswunder  zu  Hause  war.  Paulus  lehrte 
die  Präexistenz  des  Erlösers,  nennt  ihn  den  »Erstgeborenen  jeglicher 
Kreatur«1),  »durch  welchen  alle  Dinge  sind«2),  nennt  ihn  einen 
»himmlischen  Menschen«3)  und  sagt  an  der  einzigen  Stelle,  wo  er 
die  Mutter  Christi  berührt,  ohne  sie  zu  nennen:  »Da  die  Zeit  erfüllet 
war,  sandte  Gott  seinen  Sohn,  geworden  aus  einem  Weibe«4). 
Fasst  man  diess  ganz  unbefangen  ins  Auge,  so  lässt  es  sich  offenbar 
ohne  Zwang  so  verstehen,  dass  es  zur  Menschwerdung  des  von 
Ewigkeit  her  existirenden  Sohnes  Gottes  bloss  eines  Weibes  bedurfte, 
keines  Mannes.  Diese  Auffassung  gewinnt  um  so  mehr  Wahr¬ 
scheinlichkeit,  als  die  Opposition  gegen  den  Zug  der  Jungfräulichkeit 
Mariens  nicht  von  heidenchristlicheri  Gemeinden  ausging,  sondern 
von  judenchristlichen,  wie  wir  gleich  sehen  werden. 

Andererseits  lassen  die  beiden  Evangelien  selbst,  die  das 
Empfängnisswunder  erzählen,  dasselbe  nur  einem  ganz  kleinen,  aus¬ 
erwählten  Kreise  bekannt  sein;  die  nächsten  Landsleute  des  in  die 
Oeffentlichkeit  getretenen  Messias  wissen  nichts  davon,  sondern  halten 
ihn  für  den  Sohn  Josephs,  ohne  Widerspruch  zu  erfahren.  Sogar 


D  Coloss.  I,  15. 

2)  I.  Cor.  VIII,  6. 

3)  I.  Cor.  XV,  47,  48. 

4)  Gal.  IV,  4. 


10 


bei  Johannes  wird  Jesus  nicht  nur  von  den  ungläubigen  Juden  »Sohn 
Josephs«  genannt,  sondern  selbst  von  dem  (allerdings  kaum  erst  be¬ 
rufenen)  Apostel  Philippus1).  Das  Markusevangelium  hat  die  Kind¬ 
heitsgeschichte  gar  nicht.  Es  bringt  indessen  auch  den  Namen  des 
Joseph  nirgends  vor  und  unterlässt  die  Erwähnung  seiner  Persönlich¬ 
keit  auch  da,  wo  Matthäus  und  Lukas  von  dem  Nährvater  Jesu  reden, 
ohne  ihn  zu  nennen.  »Ist  das  nicht  der  Zimmermann?«  fragen  die 
Einwohner  von  Nazareth  bei  Markus  VI,  3,  anstatt  »des  Zimmer¬ 
manns  Sohn«  bei  den  beiden  andern  Evangelisten,  und  unmittelbar 
anschliessend  nennen  sie  Jesum  bloss  »den  Sohn  der  Maria«,  ohne  eines 
Vaters  überhaupt  zu  gedenken.  Wenn  daher  hieraus  geschlossen 
werden  darf,  dass  der  zweite  Evangelist  das  Empfängnisswunder 
wohl  gekannt  habe,  so  drängt  sich  doch  zugleich  der  Gedanke  auf, 
dass  er  es  noch  nicht  für  opportun  gehalten  habe,  den  Kreisen,  für 
die  er  schrieb,  dasselbe  schriftlich  fixirt  zu  überliefern.  —  Aus  allen 
diesen  Gründen  darf  wohl  angenommen  werden,  dass  anfänglich  nicht 
bei  allen  Christengemeinden  von  diesem  Wunder  die  Rede  war. 

Es  eröffnen  also  schon  unsere  biblischen  Quellen  einen  Ausblick 
auf  verschiedene  Vorstellungen. 

Die  Kirchengeschichte  weiss  denn  auch,  dass  ein  Theil  der  juden¬ 
christlichen  Gemeinden,  welche  bereits  der  Apostel  Paulus  zu  be¬ 
kämpfen  hatte,  die  jungfräuliche  Geburt  nicht  anerkannte  und  Joseph 
als  den  Vater  Jesu  betrachtete.  Es  ist  diess  eine  Fraktion  der  von 
Irenäus  so  genannten  Ebioniten 2) ,  welche  die  Gesetzesstrenge  des 
Judenthums  in  das  Christenthum  mit  herübernahmen  und  insbeson¬ 
dere  in  Palästina  sich  lange  erhielten.  Sie  trennten  sich  mehr  und 
mehr  von  der  Majorität  der  christlichen  Gemeinden  und  wurden  bald 
als  häretische  Sekte  angesehen. 

Derselben  Ansicht  von  der  Geburt  Christi  huldigte  ein  Theil  der 
unter  dem  Gesammtnamen  Gnostiker  zusammengefassten  Religions¬ 
philosophen,  von  denen  die  ältesten  noch  aus  dem  ersten  Jahrhundert 
stammen.  Einer  von  ihnen,  Karpokrates,  der  zu  Hadrians  Zeiten  lebte 
(117 — 138),  hielt  Christus  für  nichts  weiter  als  einen  weisen,  gerechten 
und  gottesfürchtigen  Menschen  und  stellte  ihn  mit  Pythagoras  und 
Plato  auf  eine  Linie3).  Einer  höheren  Ansicht  huldigten  Kerinth 


b  Jo.  VI,  42  und  I,  46. 

2)  Haer.  V,  1,  3. 

3)  Iren.  haer.  I,  25. 


11 


(nach  Tertullian  *)  ein  Zeitgenosse  des  Ivarpokrates,  nach  Irenaus  2) 
noch  bei  des  Apostels  Johannes  Lebzeiten  thätig)  und  Basilides  3), 
der  schon  um  125  in  Aegypten  wirkte.  Sie  lehrten  zwar,  dass 
Christus  Sohn  Josephs  und  Mariä  4)  sei,  aber  bei  der  Taufe  im  Jordan 
hätte  sich  mit  ihm  der  Aeon  5)  Logos  (Xoyog)  oder  Christos  (/piarog) 
nach  Kerinth  —  oder  Nus  (vov g)  nach  Basilides  vereinigt  6).  Auch 
diese  Systeme  wurden  bald  als  Häresieen  erklärt. 

Wurde  nun  das  Empfängnisswunder  schon  von  solchen  geläugnet, 
die  immer  noch  den  Anspruch  erheben  konnten,  mehr  oder  weniger 
auf  christlichem  Boden  zu  stehen ,  so  geschah  diess  begreiflich  um 
so  mehr  von  solchen,  welche  ganz  ausserhalb  des  Christen tliums 
standen  und  dagegen  polemisirten,  von  den  Juden  und  Heiden.  Die 
Angriffsweise  der  ersteren  ist  gut  charakterisirt  in  dem  Dialog  Justins 
des  Martyrs  mit  dem  Juden  Tryphon.  Dieser  behauptet7):  »Die 
Schrift  hat  nicht:  Siehe  die  Jungfrau  (nap^erog)  wird  empfangen 
und  einen  Sohn  gebären,  sondern:  Siehe,  die  Junge  (vecmg)  wird 
empfangen  und  einen  Sohn  gebären  ....  Die  ganze  Prophezeiung 
geht  übrigens  auf  Ezechias 8),  bei  dem  dieselbe  auch  in  Erfüllung 
ging  ....  In  den  Mythen  der  Hellenen  wird  erzählt,  dass  Perseus 
von  der  Danae,  als  sie  noch  Jungfrau  war,  geboren  worden  sei, 
indem  der  bei  denselben  so  genannte  Zeus  in  Goldes  Gestalt  auf 
sie  niedergeflossen  sei;  da  solltet  ihr  euch  schämen,  dasselbe  zu  be¬ 
haupten  und  lieber  sagen,  dass  dieser  Jesus  als  Mensch  von  Menschen 
erzeugt  worden  sei.  Und  wenn  ihr  aus  der  Schrift  beweiset,  dass 
dieser  der  Christus  ist,  so  zeiget,  dass  er  wegen  seines  gesetzmäs- 
sigen  und  vollkommenen  Lebens  gewürdigt  wurde,  zum  Christus 
auserwählet  zu  werden,  unterfanget  euch  aber  nicht,  Märchen  zu 
erzählen,  damit  ihr  nicht  des  gleichen  Wahnes,  wie  die  Hellenen 
überführt  werdet.« 

Auch  die  Pilatusakten,  eine  apokryphe  Schrift,  die  aus  den 


b  De  praescr.  c.  48. 

2)  Haer.  III,  3,  4. 

3)  Iren.  haer.  I,  24. 

4)  Ihid.  I,  26,  1. 

5)  In  den  gnostischen  Systemen  ein  relativ  untergeordnetes  göttliches  Wesen, 
das  aus  einem  hohem  emanirt,  bis  zur  höchsten  Gottheit  hinauf  und  umgekehrt. 

6)  Cfr.  Hippolyt.  Philos.  VII,  33. 

7)  G.  67. 

8)  Sohn  des  Achaz,  an  welchen  die  Prophetenworte  gerichtet  sind. 


12 


ersten  Jahrzehnten  des  zweiten  Jahrhunderts  stammt,  geben  Zeug- 
niss  für  die  Ansicht  der  Juden.  Die  wohlwollenderen  unter  den 
Zeugen  erklären  dort  Jesus  für  einen  ehelichen  Sohn  Josephs  und 
Marias,  während  andere  behaupten,  er  sei  ein  uneheliches  Kind  ge¬ 
wesen  1).  In  dem  »wahren  Wort«  (Xöyog  äX?]#?jg)  des  eklektischen 
Platonikers  Celsus,  einer  polemischen  Hauptschrift  des  Heidenthums 
gegen  das  Christenthum,  die  um  178  geschrieben  wurde,  tritt  der 
darin  aufgeführte  Jude  gar  mit  folgender  Verleumdung  auf:  »Seine 
Entstehung  aus  einer  Jungfrau  hat  Jesus  erdichtet.  In  Wahrheit 
stammt  er  aus  einem  jüdischen  Dorf  und  von  einem  bäurischen, 
armen,  um  Lohn  spinnenden  Weibe.  Von  ihrem  Gatten,  einem 
Zimmermann  seiner  Kunst  nach,  wurde  sie  ausgetrieben,  nachdem 
sie  als  Ehebrecherin  überwiesen  worden.  Vom  Manne  verstossen 
und  ehrlos  herumirrend,  gebar  sie  dann  in  der  Dunkelheit  von  einem 
gewissen  Soldaten  Panthera  her  Jesus  ....  Die  Jungfraugeschichte  selbst 
erinnert  lebhaft  an  die  hellenischen  Mythen  von  Danae,  Melanippe, 
Auge,  Antiope.  War  wohl  die  Mutter  Jesu  schön  und  vermischte 
sich  mit  ihr  als  einer  Schönen  Gott,  der  die  Natur  nicht  hat,  einen 
sterblichen  Körper  zu  lieben  ?  Fürwahr,  dass  es  nicht  einmal  schick¬ 
lich  war,  wenn  Gott  sich  in  sie  verliebte,  da  sie  weder  in  glück¬ 
licher  Lage  noch  königlich  war;  kannte  sie  doch  Niemand,  nicht 
einmal  von  den  Nachbarn  !  Unter  allen  Umständen ,  als  der  Zim¬ 
mermann  sie  hasste  und  hinauswarf,  rettete  sie  nicht  göttliche 
Macht  noch  überzeugende  Rede2).«  Dass  eine  solche  Geschichte 
von  dem  Spott  der  Heiden  als  die  natürlichste  Erklärung  der  »über¬ 
natürlichen  Geburt«  gern  aufgenommen  wurde,  lässt  sich  leicht 
denken. 

So  sehen  wir  denn  schon  von  den  apostolischen  Zeiten  an  den 
Zug  der  Jungfräulichkeit  angefochten.  Theilweise  vielleicht  war  es 
Unkenntniss  der  betreffenden  Erzählungen  und  diess  zwar  wohl  bei 
einem  Theil  der  Judenchristen,  theilweise  aber  Unglaube.  Die  Juden 
und  Heiden  hielten  das  Empfängnisswunder  für  eine  Lüge  oder  ein 
Märchen,  erstere  namentlich  für  falsche  Auslegung  einer  Propheten¬ 
stelle;  den  Philosophen  passte  es  nicht  in  das  System. 

Hiegegen  treten  nun  die  christlichen  Schriftsteller  mit  der  her¬ 
gebrachten  Auffassung  in  die  Schranken.  Der  älteste  ist  der  schon 


b  Gesta  Pilati  A.  C.  II.  Tischendorf,  Ev.  Apocr.  ed.  II.  Lips.  1876.  p.  224  ff. 

2)  Keim,  Celsus’  wahres  Wort,  S.  11  ff. 


13 


genannte  Justinus  Martyr  (f  166),  der  um  das  Jahr  130  vielleicht 
noch  von  Apostelschülern  bekehrt  worden  war.  In  seiner  ersten 
Apologie,  die  er  vor  der  Mitte  des  zweiten  Jahrhunderts  *)  dem 
Kaiser  und  Senat  zu  Rom  übergab,  hält  er  den  Heiden  entgegen, 
dass  eine  Jungfrauengeburt  für  sie  nichts  so  Auffallendes  haben 
könne,  denn,  »wenn  wir,  sagt  er,  erzählen,  dass  er  (Christus)  von 
einer  Jungfrau  geboren  worden  sei,  so  ist  ja  dieses  auch  euch  in  Betreff 
des  Perseus  gemeinschaftlich* 2).«  Im  weiteren  Verlaufe  belehrt  er 
die  Heiden,  dass  der  Christ  nicht  so  blindlings  glaube,  sondern  gute 
Gründe  habe.  Das  seien  unter  Anderem  die  alttestamentlichen 
Prophezeiungen3).  »Hört  nun,  sagt  er,  wie  Jesaias  Wort  für  Wort 
prophezeit,  dass  er  von  einer  Jungfrau  werde  geboren  werden.« 
Folgt  die  bekannte  Stelle.  »Denn  was  unglaublich  und  unmöglich 
schien  bei  den  Menschen,  das  hat  Gott  durch  den  prophetischen 
Geist  vorher  angezeigt,  damit  es,  wenn  es  geschehe,  nicht  auf  Un¬ 
glauben  stosse,  sondern  in  Folge  der  Vorhersagung  geglaubt  werde. 
Damit  aber  nicht  Einige4),  die  die  besagte  Prophezeiung  erwägen, 
uns  vorwerfen ,  was  wir  den  Dichtern  vorwarfen ,  welche  den  Zeus 
zu  Weibern  kommen  lassen,  um  der  Liebe  zu  pflegen,  so  wollen 
wir  die  Worte  (des  Propheten)  zu  erklären  versuchen.  Die  Worte: 
siehe  die  Jungfrau  wird  empfangen,  beweisen,  dass  die  Jungfrau 
ohne  eheliche  Beiwohnung  empfangen  habe;  denn  wenn  ihr  jemand 
beigewohnt  hätte,  so  wäre  sie  nicht  mehr  Jungfrau.  Sondern  die 
Kraft  Gottes  kam  über  die  Jungfrau  und  überschattete  sie  und 
bewirkte,  dass  sie  als  Jungfrau  schwanger  ging.  Und  der  Engel 
Gottes,  der  zu  jener  Zeit  zu  der  Jungfrau  selbst  geschickt  wurde, 
verkündete  ihr:  siehe  du  wirst  empfangen  in  deinem  Leibe  von 
dem  heiligen  Geiste  und  einen  Sohn  gebären  und  er  wird  ein  Sohn 
des  Höchsten  genannt  werden  ....  Und  dieser  (heilige  Geist), 
der  auf  die  Jungfrau  kam  und  sie  überschattete,  hat  sie  schwanger 
gemacht  nicht  durch  Beiwohnung,  sondern  durch  (die  göttliche) 
Kraft 5)«. 

Der  verschiedene  Standpunkt  der  Juden  erforderte  eine  theil- 


*)  Nitzsch,  Dogmengesch.  S.  118. 

2)  Apol.  I,  22. 

3)  Ibid.  81,  32. 

4)  Nach  der  Leseart  des  Thirlbius:  p.-*]  t tvsc. 

5)  Apolog.  I,  33. 


14 


weise  andere  Beweisführung.  Darum  lässt  er  sich  in  seinem  »Dialog 
mit  dem  Juden  Tryphon«,  welcher  vielleicht  erst  wenige  Jahre  vor 
seinem  Tode  verfasst  ist  *),  mit  diesem  auf  exegetische  Gontroversen 
ein  und  weist  ihm  nach,  dass  die  jüdische  Erklärung  der  Stelle  des 
Jesaias  falsch  sei.  Die  Septuaginta,  welche  an  mehreren  Stellen 
von  den  Juden  verfälscht  oder  verstümmelt  worden  sei,  hätte  nicht: 
siehe  die  Junge  (veä tag),  sondern:  siehe,  die  Jungfrau  (na^d-evog) 
wird  empfangen  u.  s.  w.*  2).  Der  Prophet  nenne  ja  eben  die  jung¬ 
fräuliche  Empfängniss  ein  besonderes  Zeichen,  indem  er  sage:  Der 
Herr  selbst  wird  euch  ein  Zeichen  geben,  siehe  die  Jungfrau  u.  s.  w. 
Wenn  nun  der  verheissene  Sohn  auf  gewöhnlichem  Wege  entstanden 
wäre,  wie  hätte  Gott  das  ein  Zeichen  nennen  können.  Dass  eine 
junge  Frau  durch  Beiwohnung  empfange,  sei  ja  nichts  Ausserordent¬ 
liches,  das  thun  ja  alle  jüngeren  Weiber  mit  Ausnahme  der  un¬ 
fruchtbaren,  obwohl  es  auch  bei  diesen  geschehen  könne,  wenn  Gott 
es  wolle3).  Die  Deutung  auf  Ezechias  widerlegt  er  durch  den  Nach¬ 
weis,  dass  die  Worte  des  Propheten:  »Bevor  er  Vater  und  Mutter 
rufen  kann,  wird  er  dahinnehmen  die  Kraft  von  Damaskus  und  die 
Beute  Samarias  vor  dem  Könige  der  Assyrer4)«  nicht  auf  jenen  sich 
beziehen  könne,  sondern  deutlich  auf  die  Anbetung  und  die  Ge¬ 
schenke  der  Weisen  aus  Morgenland  hinweisen  5).  Die  Stelle  müsse 
also  auf  Maria  gehen.  Denn  in  der  ganzen  Nachkommenschaft 
Abrahams  lasse  sich  nirgends  und  niemals  Einer  finden,  der  von 
einer  Jungfrau  geboren  sei  oder  geboren  sein  solle  ausser  Christus6). 
Uebrigens  sei  die  Sache  ja  nicht  ohne  Analogie.  Eva  sei  aus  der 
Rippe  Adams  entstanden,  alle  Wesen  seien  aus  Nichts  erschaffen, 
manche  früher  unfruchtbare  Frau  habe  durch  den  Willen  Gottes 
geboren,  wie  Samuels  Mutter,  Abrahams  Frau  und  Elisabeth,  die 
Mutter  des  Johannes  7).  Ja  der  Vergleich  mit  Danae  ziehe  die  Ge¬ 
burt  Christi  nicht  zum  Märchen  herab,  denn  die  heidnischen  Mythen 
seien  als  dämonische  Karrikaturen  der  göttlichen  Offenbarungen  zu 


’)  Nitzscli,  Dogmeng.  S.  118. 

2)  Dial.  c.  Tryph.  67. 

3)  Ibid.  84. 

4)  Iesai.  VIII,  4. 

5)  Dial.  c.  Tr.  67. 

6)  Ibid.  43. 

7)  Ibid.  84. 


15  — 


fassen *)  und  hätten  daher  eine  Art  Beweiskraft.  Schliesslich  sei 
der  evangelische  Bericht  so  überzeugend :  »Dem  Joseph,  dem  Bräutigam 
Mariä,  der  früher  seine  Braut  verstossen  wollte,  weil  er  glaubte, 
dass  sie  durch  Beiwohnung  eines  Mannes,  d.  h.  durch  Buhlerei 
schwanger  sei,  wurde  durch  eine  Erscheinung  befohlen,  sein  Weib 
nicht  zu  verstossen,  indem  ihm  der  Engel  sagte,  dass  das,  was  sie 
im  Leibe  habe,  vom  heiligen  Geiste  sei 2). 

Der  zweite  uns  erhaltene  Schriftsteller,  der  das  Empfängniss- 
wunder  verficht,  ist  der  Bischof  Irenäus  von  Lyon  (geb.  um  140 
f  202),  ein  Schüler  des  h.  Polykarp  von  Smyrna,  welch  letzterer 
noch  zu  den  Füssen  des  Apostels  Johannes  gesessen  war.  In  seinem 
Hauptwerke  »Gegen  die  Häresieen«  (wie  man  es  gewöhnlich  citirt), 
das  er  etwa  180  vollendete,  und  wodurch  er  namentlich  den 
Gnosticismus  in  den  Augen  seiner  christlichen  Zeitgenossen  bis  zur 
Vernichtung  bekämpfte,  tritt  er  natürlich  auch  der  Meinung,  dass 
Jesus  ein  Sohn  Josephs  sei,  mit  aller  Macht  entgegen.  »Diejenigen, 
sagt  er,  welche  erklären,  er  (Christus)  sei  ein  blosser  Mensch,  von 
Joseph  gezeugt,  welche  den  nicht  kennen,  der  aus  der  Jungfrau  ist 
Gottmituns,  sterben  in  der  Knechtschaft  des  alten  Ungehorsams  und 
berauben  sich  des  ewigen  Lebens«  3).  In  der  Stelle  des  Johannes¬ 
evangeliums  I,  13  substituirt  er  dem  Plural  den  Singular  und  sagt 
von  Christus:  er  sei  nicht  aus  dem  Willen  des  Fleisches,  noch  aus 
dem  Willen  des  Mannes,  sondern  aus  Gott  geboren  4).  Dann  erklärt 
er  ausführlich  die  Prophetie  des  Jesaias  und  kommt  zu  demselben 
Resultate,  wie  Justin,  ja  er  bedient  sich  theil weise  fast  derselben 
Worte:  »Was  wäre  es  denn  Grosses,  sagt  er  z.  B.,  oder  welches 
Zeichen  geschähe  dadurch,  dass  eine  junge  Frau  von  einem  Manne 
empfangen  und  gebären  würde?  Diess  begegnet  ja  allen  Weibern, 
welche  gebären.  Sondern  weil  unverhofft  das  Heil  der  Menschen 
zu  erscheinen  begann  durch  Gottes  Hilfe,  so  geschah  auch  unverhofft 
die  Geburt  der  Jungfrau,  indem  Gott  dieses  Zeichen  gab,  nicht  ein 
Mensch  jenes  bewirkte.5)«  Auch  noch  in  vielen  andern  Stellen  der 


3  Ibid.  67. 

2)  Ibid.  78.  Weitere  Stellen  bei  Justin,  die  den  Zug  der  Jungfräulichkeit 

betonen,  sind  Dial.  c.  Tryph.  33,  85,  100,  101,  112.  Apol.  I.  31,  32  u.  s.  w. 
S.  auch  Ttepi  t piäZoq,  Sex.,  xscp.  Sex.  bei  Angelo  Mai,  Script,  vet.  n.  coli.  VII,  S.  29. 

3)  Haer.  III,  19..  1.  Die  Stelle  ist  zusammengezogen. 

4)  Ibid.  2,  dann  III,  16  u.  s.  w. 

5)  Haer.  III,  21,  6. 


16 


Bibel  sieht  er  prophetische  Hinweise  auf  die  jungfräuliche  Empfäng¬ 
nis.  So  in  Psalm  131  (132),  11:  Aus  deines  Leibes  Frucht  will 
ich  dir  auf  den  Thron  setzen.  Weil  es  hier  heisse  »Frucht  des 
Leibes«  und  nicht  etwa  »Frucht  der  Lenden  oder  Nieren«,  sei  in 
diesem  Hinweis  auf  die  Messiaszeugung  die  Mitwirkung  des  Mannes 
ausgeschlossen1).  Dieselbe  Bedeutung  habe  der  »ohne  Menschen¬ 
hände«  (vom  Berge)  losgerissene  Stein  hei  Daniel  II,  34,  sowie  der 
von  Gott  dem  Herrn  selbst  in  die  Fundamente  von  Sion  gelegte 
Stein,  der  köstliche,  auserlesene,  erhabene  Eckstein  bei  Jesaias  XXVIII, 
16,  ebenso  die  von  Moses  auf  die  Erde  geworfene  (durch  ein  Wunder 
belebte)  Ruthe2).  Wenn  er  Josephs  Sohn  wäre,  wie  könnte  er  mehr 
sein,  als  Salomo,  oder  mehr  als  Jonas,  oder  mehr  als  David3) 
u.  s.  w.  Derselbe  Geist  Gottes,  der  in  den  Propheten  gesprochen, 
habe  auch  in  den  Aposteln  gesprochen,  welche  bezeugen,  dass  der 
Emmanuel  aus  einer  Jungfrau  geboren  sei,  denn  es  heisse:  »Bevor 
Joseph  mit  Maria  zusammenkam,  indem  sie  also  in  der  Jungfrau¬ 
schaft  verblieb,  wurde  sie  als  vom  heiligen  Geiste  schwanger  er¬ 
funden  4)«.  Es  sei  daher  nichtig  und  grundlos,  wenn  die  Ebioniten 
diess  nicht  einsehen  wollen 5)  u.  s.  w. 

An  Irenäus  schliesst  sich  sein  etwas  jüngerer  Zeitgenosse  Ter- 
tullian  (geb.  nicht  lange  nach  150,  f  ums  Jahr  220)  als  Apologet 
gegen  die  »Ebioniten«  an.  »Es  ziemte  sich  nicht,  sagt  dieser,  dass 
Gottes  Sohn  aus  menschlichem  Samen  geboren  wurde,  damit  er, 
während  er  auf  diese  Weise  ganz  Menschensohn  wäre,  nicht  auch 
Gottes  Sohn  wäre,  und  somit  nichts  vor  Salomon  voraus  hätte,  und 
nach  Ebions  6)  Ansicht  aufgefasst  werden  müsste.  Da  er  also  schon 
Gottes  Sohn  aus  Gott  Vaters  Samen,  d.  h.  vom  Geiste  war,  so 
brauchte  er,  um  auch  des  Menschen  Sohn  zu  sein,  nur  allein  Fleisch 
vom  Fleisch  des  Menschen  zu  nehmen ,  ohne  Samen  des  Mannes. 
Es  war  des  Mannes  Samen  unnöthig  bei  dem,  der  Gottes  Samen 
hatte.  Wie  er  daher  vor  seiner  Geburt  aus  der  Jungfrau  Gott  zum 
Vater  haben  konnte,  ohne  menschliche  Mutter,  ebenso  konnte  er,  als 
er  von  der  Jungfrau  geboren  ward,  eine  menschliche  Mutter  ohne 


')  Ibid.  III,  21  und  16. 

2)  Exod.  VII,  9  seq. 

3)  Matth.  XII,  41,  42;  XXII,  43  ff. 

4)  Ihid.  21,  5. 

5)  Ibid.  V,  1. 

6)  Tertullian  hält  eine  Person  dieses  Namens  für  den  Stifter  der  Sekte. 


17 


menschlichen  Vater  haben  1).«  Dass  seine  jungfräuliche  Mutter  im 
Galaterbrief  Weib  genannt  werde,  habe  dieselbe  Bedeutung,  als  wenn 
Eva  in  der  Genesis  Weib  heisse ,  oder  wenn  der  Engel  Gabriel  bei 
Lukas  Maria  mit  den  Worten  begrüsse:  Gesegnete  du  unter  den 
Weibern.  Das  Wort  Weib  bedeute  hier  eben  das  Geschlecht,  »denn 
dass  sie  (Maria)  Jungfrau  gewesen  ist,  ist  bekannt,  wenn  auch  Ebion 
dagegen  ist 2).«  Gegen  Juden  und  Gnostiker  wird  die  Jesaiasstelle 
wiederholt  ins  Feld  geführt  und  ausführlich  im  Sinn  des  Empfängniss- 
wunders  gedeutet,  namentlich  wird  wieder  hervorgehoben,  dass  nur 
eine  »übernatürliche  Neuheit«  das  von  Gott  zugesagte  »würdige 
Zeichen«  hätte  sein  können.  »Auch  die  Juden,  wenn  sie,  um  uns 
niederzuwerfen ,  zu  lügen  wagen ,  als  ob  die  Schrift  nicht  von  einer 
Jungfrau,  sondern  von  einer  Jungen  rede,  werden  dadurch  widerlegt, 
dass  eine  alltägliche  Sache,  die  Schwangerschaft  einer  jungen  Frau, 
als  keinerlei  Zeichen  hätte  erscheinen  können.  Dass  uns  also  die 
Jungfrau-Mutter  zum  Zeichen  gesetzt  sei,  wird  mit  Recht  geglaubt.« 
Tertullian  sieht  ebenfalls  in  den  Worten:  Er  wird  dahinnehmen  die 
Kraft  von  Damaskus  u.  s.  w.  einen  Hinweis  auf  die  Anbetung  und 
die  Geschenke  der  Magier.  Er  verknüpft  sodann  hiemit  die  Psalmen¬ 
stelle  LXKI,  10:  »Die  Könige  von  Arabien  und  Saba  werden  Ge¬ 
schenke  bringen«  und  erklärt  weiter:  »Denn  auch  Magier  hatte  der 
Orient  zu  Königen«  u.  s.  w.  Diess  dürfte,  beiläufig  gesagt,  eine  der 
frühesten  Spuren  der  späteren  Tradition  sein,  welche  aus  den  be¬ 
suchenden  Magiern  Könige  machte  3).  Wie  Irenäus  sieht  auch  Ter¬ 
tullian  in  der  Psalmenstelle  CXXXI,  11  einen  prophetischen  Beweis 
für  die  Jungfräulichkeit  Mariens.  »Aus  deines  Leibes  Frucht  will 
ich  setzen  auf  deinen  Thron.«  »Was  ist  das  für  ein  Leib?  Davids 
selbst?  Gewiss  nicht;  denn  David  konnte  nicht  gebären.  Aber  auch 
nicht  seiner  Frau;  denn  Gott  hätte  nicht  gesagt:  aus  der  Frucht 
deines  Leibes,  sondern  vielmehr:  aus  der  Frucht  des  Leibes  deiner 
Frau.  Da  er  also  Davids  Leib  nannte,  so  bleibt  nur  übrig,  dass  er 
auf  jemand  von  dessen  Geschlecht  hingezeigt  habe,  dessen  Leibes¬ 
frucht  das  Fleisch  Christi  sein  würde,  welches  aus  dem  Mutterleibe 
Mariens  erblühte.  Desswegen  nannte  er  ihn  nur  des  Leibes  Frucht, 


')  De  carne  Christi  17. 

2)  De  virgin.  vel.  c.  6. 

3)  Lib.  III.  adv.  Marc.  c.  13  und  adv.  Jud.  c.  9.  etc.  S.  auch  De  carne 
Chr.  17,  22  u.  s.  vv. 

Lehner,  Die  Marien  Verehrung. 


2 


18 


in  eigenem  Sinne:  des  Mutterleibes,  gleichsam  des  Mutterleibes  allein, 
nicht  auch  des  Mannes  1).«  Endlich  hat  er  auch  für  die  Jungfräulich¬ 
keit  seinen  Präscriptionsbeweis:  »Ueber  den  Menschensohn  ist  unsere 
Voreinrede  doppelt:  Weder  konnte  Christus  lügen,  so  dass  er  sich 
für  den  Menschensohn  ausgab,  wenn  er  es  nicht  wahrhaft  war ;  noch 
konnte  der  als  Menschensohn  hingestellt  werden,  welcher  nicht  von 
einem  Menschen  stammte,  entweder  von  väterlicher  oder  von  mütter¬ 
licher  Seite.  Und  so  muss  untersucht  werden,  als  welches  Menschen 
Sohn  er  angenommen  werden  müsse,  eines  Vaters  oder  einer  Mutter. 
Wenn  er  Gott  zum  Vater  hat,  so  hat  er  gewiss  keinen  Menschen 
zum  Vater;  wenn  er  keinen  Menschen  zum  Vater  hat,  so  bleibt  nur 
übrig,  dass  er  einen  Menschen  zur  Mutter  hat;  wenn  er  einen  Menschen 
zur  Mutter  hat,  so  ist  offenbar,  dass  diess  eine  Jungfrau  sein  muss. 
Denn  wer  keinen  Menschen  zum  Vater  hat,  dessen  Mutter  hat  auch 
keinen  Mann,  und  welche  keinen  Mann  hat,  ist  Jungfrau  2).« 

Unter  den  Apologeten  ist  auch  noch  der  im  Jahre  185  geborene, 
im  Jahre  254  gestorbene  Alexandriner  Origen  es  aufzuführen. 
Nach  langer  schriftstellerischer  und  praktischer  Wirksamkeit  liess  er 
sich  noch  als  Greis  durch  einen  Freund  bestimmen ,  seine  Abwehr 
»Gegen  Celsus«  zu  verfassen  (a.  247),  obwohl  dessen  »Wahres  Wort« 
schon  etwa  70  Jahre  früher  erschienen  wrar,  »weil  es  doch  sein 
könnte,  dass  unter  der  grossen  Menge  derer,  die  Christen  heissen, 
sich  Schwache  im  Glauben  finden,  die  durch  Celsus  und  seiner  Ge¬ 
sellen  Worte  wankend  gemacht  werden  könnten.«  Was  nun  die 
oben  aus  Celsus  Schrift  citirte  Stelle  betrifft,  so  verschmäht  Origenes 
auf  »die  Possenreisserei«  des  Vergleichs  mit  Danae  u.  s.  w.  einzu¬ 
gehen,  ebenso  wie  auf  die  »spöttische«  Frage:  war  denn  Jesu  Mutter 
schön  u.  s.  w.3).  Der  Verleumdung  des  von  Celsus  redend  einge¬ 
führten  Juden  tritt  er  mit  der  die  Angriffswaffe  umkehrenden  Be¬ 
merkung  entgegen,  »dass  wohl  diejenigen,  welche  den  Ehebruch  der 
Jungfrau  mit  Panthera  und  ihre  Austreibung  durch  den  Zimmer¬ 
mann  erdichtet  haben,  dieses  Alles  erfunden  haben  zur  Beseitigung 
der  wunderbaren  Empfängniss  vom  heiligen  Geiste.«  Mit  dieser  Er¬ 
findung  hätten  sie  wider  ihren  Willen  der  Annahme  zugestimmt, 
dass  Jesus  nicht  aus  einem  gewöhnlichen  Ehebündnisse  hätte  hervor- 


0  Lib.  III,  adv.  Marc.  c.  20. 

2)  Lib.  IV,  adv.  Marc.  c.  10. 

3)  Contra  Cels.  I,  39. 


19 


gehen  können.  Origenes  gibt  dann  dem  »Platoniker«  zu  bedenken, 
ob  es  mit  den  Sätzen  der  hellenischen  Philosophen  stimme,  dass  eine 
Intelligenz  und  ein  Charakter  wie  Jesus  einen  solchen  anrüchigen 
Ursprung  haben  könne,  nachdem  jene  gelehrt  hätten,  dass  jede  Seele 
einen  ihr  entsprechenden  Körper  bewohne?  x)  Dann  wirft  er  dem 
Celsus  vor,  dass  er  absichtlich  die  bei  Matthäus  angezogene  Prophe¬ 
zeiung  des  Jesaias  ignorirt  habe,  da  er  doch  sonst  seine  Kenntniss 
des  Matthäusevangeliums  verrathe.  Diese  Prophezeiung  beweise,  dass 
Jesus  von  einer  Jungfrau  habe  geboren  werden  müssen.  Wenn  aber 
der  Jude  (des  Celsus)  über  das  Wort  streiten  und  behaupten  wollte, 
es  heisse  nicht  »die  Jungfrau«,  sondern  »die  Junge«,  so  halte  er 
entgegen,  dass  das  Wort  ha-alma,  welches  die  Septuaginta  mit 
»Jungfrau«,  andere  mit  »die  Junge«  übersetzen,  im  Deuteronomium 
XXII,  23,  24  und  XXV,  26  eine  Jungfrau  bedeute *  2).  Doch  komme 
es  nicht  so  fast  auf  das  hebräische  Wort  an.  Der  Prophet  sage 
offenbar,  das  die  Jungfraugeburt  das  dem  Achaz  angebotene  Zeichen 
sein  werde.  »Was  wäre  es  denn  für  ein  Zeichen,  wenn  eine  junge 
Frau  gebären  würde  und  nicht  eine  Jungfrau?  Und  welchem  Weibe 
kommt  es  mehr  zu,  den  Emmanuel  oder  Gottmituns  zu  gebären, 
einer  solchen,  welche  durch  Beiwohnung  nach  Frauenart  empfangen 
oder  einer  noch  reinen  und  unbefleckten  Jungfrau?«  Dass  die  Prophe¬ 
zeiung  nicht  auf  Achaz  und  seine  Zeit  ziele,  gehe  daraus  hervor, 
dass  damals  keiner  geboren  worden  sei,  den  man  Emmanuel,  Gott¬ 
mituns,  genannt  habe.  Die  Prophezeiung  gehe  daher  auf  Davids 
Haus,  aus  welchem  der  Messias  dem  Fleische  nach  habe  kommen 
müssen  (Joh.  VII,  42)  3).  Dann  wiederum  gegen  das  Heidenthum 
sich  kehrend,  bemerkt  er:  »Ferner  ist  gegen  die  Hellenen  Zusagen, 
welche  die  jungfräuliche  Geburt  Jesu  nicht  glauben,  dass  der  Schöpfer 
bei  der  Erschaffung  der  verschiedenen  Thiere  gezeigt  habe,  dass  ihm 
möglich  gewesen  wäre,  das,  was  er  bei  einem  Thiere  gethan  habe, 
auch  bei  andern  und  auch  selbst  bei  den  Menschen  zu  thun.  Nun 
finden  sich  bei  den  Thieren  gewisse  Weibchen,  welche  keine  Ge¬ 
meinschaft  mit  den  Männchen  haben ,  wie  diejenigen ,  welche  über 
die  Thiere  geschrieben  haben,  von  den  Geiern  sagen;  dieses  Thier 


9  Ibid.  I,  32,  33. 

2)  Ibid.  34.  Origenes  irrt  sich;  in  den  angezogenen  Stellen  des  Deut,  steht 


nicht  haalma  nö?yn,  sondern  bethula 

3)  Ibid.  35.  Vgl.  auch  homil.  in  Isai.  II,  1. 


20 


nemlich  erhält  (traget.)  ohne  Vermischung  die  Geschlechtsfolge.«  Was 
sei  nun  Unglaubliches  daran,  wenn  Gott,  da  er  dem  Menschengeschlecht 
einen  göttlichen  Lehrer  schicken  wollte,  diesen  auf  andere  Weise,  als 
durch  Vermischung  von  Mann  und  Frau  entstehen  liess?  Auch  bei 
den  Hellenen  selbst  entstehen  nicht  alle  Menschen  aus  Mann  und 
Weib,  z.  B.  die  ersten  Menschen,  welche  aus  der  Erde,  aus  den 
in  derselben  enthaltenen  Bildungsstoffen  entstehen.  Das  sei  noch 
wunderbarer  als  die  Geburt  Christi,  der  wenigstens  zur  Hälfte  wie 
die  andern  Menschen  entstanden  sei.  Dann,  um  von  den  Heroen 
zu  schweigen,  hätten  ja  einige  Hellenen  geschrieben,  dass  Plato  von 
Apollo  erzeugt  worden  und  dass  seinem  Vater  verboten  gewesen  sei, 
seine  Frau  zu  berühren,  bis  sie  ihren  von  Apollo  empfangenen  Sohn 
geboren  habe.  Doch  das  seien  Fabeln,  aus  dem  Grunde  erfunden, 
weil  man  glaubte,  dass  ein  vor  den  andern  durch  Weisheit  und 
Tugend  hervorragender  Mann  auch  von  höheren  und  göttlicheren 
Keimen  seinen  Ursprung  haben  müsse  x).  —  Origenes  kommt  auch 
in  seinen  übrigen  Schriften ,  namentlich  in  seinen  Homilien  und 
Commentaren  zur  Bibel,  öfters  auf  unsern  Gegenstand  zurück.  So 
bei  der  Stelle  Genes.  XLIX,  9:  »das  Junge  eines  Löwen  ist  Juda, 
aus  dem  Keim  (Schoss)  desselben  ist  er  aufgestiegen« *  2)  sagt  er: 
Unter  dem  Jungen  des  Löwen  sei  (mystisch)  Christus  zu  verstehen. 
»Dieser  junge  Löwe  also  stieg  auf  aus  dem  Keime;  aus  einer  Jungfrau 
nemlich  ist  er  geboren.  Nicht  aus  Samen,  sondern  aus  einer  Jungfrau 
ohne  Bei  wohnung  des  Mannes  und  ohne  natürlichen  Samen  wird  Christus 
geboren«  3).  Bei  der  Stelle  Levit.  XII,  2:  »Jedes  Weib,  welches  Samen 
empfangen  und  ein  männliches  Kind  geboren  hat,  wird  sieben  Tage 
unrein  sein«,  meint  er,  die  Worte  »welches  Samen  empfangen 
hat«  könnten  überflüssig  scheinen,  da  ja  kein  Weib  anders  ge¬ 
bären  könne,  als  nach  empfangenem  Samen.  Aber  sie  seien  nicht 
überflüssig,  der  Gesetzgeber  habe  dieselben  zur  Unterscheidung  der¬ 
jenigen,  welche  ohne  Samenempfängniss  geboren  habe,  für  die  übrigen 
Weiber  beigefügt  ....  Das  Gesetz  über  die  Unreinheit  beziehe  sich  auf 
die  Weiber,  von  Maria  aber  werde  gesagt,  dass  sie  als  Jungfrau  em¬ 
pfangen  und  geboren  habe  ....  Wenn  aber  einer  spitzfindig  ent- 


9  Ibid.  37. 

2)  Rufins  Uebersetzung  hält  sich  nicht  streng  an  den  Text  der  LXX ;  diese 
haben :  ex  ßXaaxoö  ule  jxou  &veßf]<;. 

3)  In  Genes,  homil.  XVII,  Bd.  II.  ed.  de  la  Rue  p.  108. 


21 


gegne,  auch  Maria  werde  in  der  Schrift  »Weib«  genannt,  wie  im 
Galaterbrief,  so  antworte  er,  dass  der  Apostel  hiemit  erstlich  nur 
das  Geschlecht  bezeichnet  habe  und  dass  zweitens  dieser  Ausdruck 
ebensogut,  als  man  einen  reifen  Jüngling  »Mann«  nenne,  für  eine 
reife  Jungfrau  gebraucht  werden  könne.  Uebrigens  werde  dieser 
Ausdruck  auch  sonst  in  der  Bibel  für  eine  Jungfrau  gebraucht,  z.  B. 
Genes.  XXIV,  5,  wo  Isaaks  Braut  auch  »Weib«  genannt  werde 
Jene  obigen  scheinbar  überflüssigen  Worte  bezeichnen  daher  »eine 
mystische  Ausnahme,  welche  Maria  allein  von  den  übrigen  Weibern 
trenne,  da  ihre  Geburt  nicht  aus  Samenempfängniss,  sondern  aus 
der  Gegenwart  des  heiligen  Geistes  und  der  Kraft  des  Höchsten 
stattgefunden  habe«1).  In  seiner  14.  Homilie  zu  Lukas  heisst  es: 
In  dem  Grusse  des  Engels  »der  Geist  Gottes  wird  über  dich  kommen 
u.  s.  w.«  sei  der  Anfang  des  Samens  und  der  Empfängniss  gewesen 
und  ohne  (durch  Beiwohnung  geschehenen)  Aufschluss  der  Gebär¬ 
mutter  sei  die  neue  Frucht  im  Mutterleibe  gewachsen.  »Daher  spricht 
auch  der  Erlöser:  Ich  bin  ein  Wurm  und  nicht  ein  Mensch2)  .  .  .  . 
Er  sah  im  Leibe  der  Mutter  die  Unreinheit  des  Körperlichen,  von 
den  Eingeweiden  ringsum  eingeschlossen  duldete  er  die  Enge  irdischen 
Schmutzes,  daher  vergleicht  er  sich  dem  (Eingeweide-)  Wurm  und 
sagt:  Ich  bin  ein  Wurm  und  nicht  ein  Mensch.  Denn  aus  Mann 
und  Frau  pflegt  der  Mensch  zu  entstehen,  ich  aber  bin  nicht  aus 
Mann  und  Frau  nach  menschlicher  Art  und  Natur  entstanden,  sondern 
wie  ein  (Eingeweide-)  Wurm,  dessen  Samen  nicht  anderswoher 
stammt,  sondern  dessen  Ursprung  in  und  aus  den  Körpern  selbst 
ist,  in  welchen  er  wächst«3).  —  Diesen  Aussprüchen  des  Origenes 
liessen  sich  noch  mehrere  beifügen,  die  dasselbe  besagen  4),  doch  wir 
begnügen  uns,  nur  noch  einen  charakteristischen  und  gewissermassen 
abschliessenden  aufzuführen.  »Wenn  Jemand  glaubt,«  sagt  er  in 
seinem  Johannescommentar ,  »dass  Jesus  unter  Pontius  Pilatus  ge¬ 
kreuzigt  worden  sei  und  der  Welt  Heil  und  Segen  gebracht  habe, 
aber  nicht  aus  der  Jungfrau  Maria  und  dem  heiligen  Geiste,  sondern 


x)  Hom.  in  Levit.  VIII,  n.  2.  Dem  Origenes  folgt  hier  wörtlich  Cyrill  von 
Alexandrien  im  fünften  Jahrhundert. 

l)  Ps.  XXI  (XXII),  7. 

3)  Bd.  III,  pag.  948. 

4)  Z.  B.  Hom.  in  Lev.  XII,  4;  Bd.  II,  p.  251;  Comm.  in  ep.  ad.  Rom.  Bd.  IV, 
p.  519;  in  ep.  ad  Gal.,  ibid.  p.  697  u.  s.  w. 


22 


aus  Joseph  und  Maria  geboren  sei,  dem  fehlen  höchst  nothwendige 
Stücke  zum  vollen  Glauben« 1). 

Trotz  dieser  Erklärung,  die  den  Glauben  an  das  Empfängniss- 
wunder,  also  an  die  Jungfräulichkeit  Mariens,  als  einen  wesentlichen 
Glaubensartikel  bezeichnet,  tritt  die  apologetische  Behandlung  dieses 
Zuges  immer  noch  hervor,  und  zwar  theils  mit,  theils  ohne  ausdrück¬ 
liche  Nennung  von  Gegnern.  Das  Beweisverfahren  bleibt  übrigens  im 
Ganzen  dasselbe,  wir  werden  daher  Wiederholungen  bei  den  Auszügen 
aus  den  folgenden  Quellen  möglichst  zu  vermeiden  suchen  und  nur 
wesentlich  neue  Wendungen  wörtlich  aufführen.  Indessen  liegt  ja 
in  der  öfteren  Wiederholung  des  Nemlichen  ein  gewaltiges  Mittel, 
um  eine  Vorstellung  populär  zu  machen.  Wenn  sich  nun  die  Geschichte 
selbst  dieses  Mittels  bediente,  so  darf  dieses  auch  um  den  Preis 
einiger  Ermüdung  in  der  Darstellung  nicht  ganz  übergangen  werden. 

Die  dem  Origenes  chronologisch  zunächst  stehende  Quelle  ist 
der  sogenannte  »erste  Brief  des  Clemens  von  Rom  an  die  Jung¬ 
fräulichen«  ,  der  dem  Anfang  des  dritten  Jahrhunderts  angehört. 
Darin  heisst  es:  »Ein  Leib  von  heiliger  Jungfräulichkeit  hat  unsern 
Herrn  Jesum  Christum,  den  Sohn  Gottes,  getragen,  und  den  Körper, 
den  unser  Herr  trug  und  in  welchem  er  den  Kampf  auf  dieser  Welt 
bestand,  hat  er  aus  einer  heiligen  Jungfrau  angenommen«  2).  Dann 
wird  in  dem  Theil  der  »apostolischen  Constitutionen«,  welcher 
aus  der  zweiten  Hälfte  des  dritten  Jahrhunderts  stammt  (die  sechs 
ersten  Bücher),  die  Jesaiasstelle  VII,  14  wieder  auf  die  jungfräuliche 
Empfängniss  gedeutet3).  Ferner  weist  der  Bischof  Petrus  von  Alexan¬ 
drien  (f  311)  in  seinem  »Buch  über  die  Gottheit«  die  »Mitwirkung 
des  Mannes«  ab4).  Hieran  schliesst  sich  Lactantius,  der  in  seinen 
zwischen  316  und  322  geschriebenen  »Göttlichen  Unterweisungen« 
mehrmals  die  »Beihilfe  des  Mannes«  verwirft.  Als  Beweis  führt  er 
ausser  der  Jesaiasstelle  auch  eine  nirgends  zu  findende,  also  apokryphe 


Comm.  in  Joann.  Bd.  IV,  S.  429.  Vgl.  auch  ibid.  S.  347.  Interessant 
ist,  dass  der  Martyr  Pamphilus  (f  309)  in  seiner  Apologie  des  Origenes  besonders 
auch  auf  mehrere  der  angeführten  Stellen  Bezug  nimmt.  S.  S.  Pamph.  Mart. 
Apol.  pro  Orig.  Cap.  I,  V,  VII,  bei  Gallandi,  Tom.  IV,  p.-  7 — 40, 

2)  Ad  virg.  Ep.  I,  6. 

3)  Const.  apost.  V,  16.  Vgl.  auch  II.  55 :  lyavilpcoTrfjaeux;  ty]?  by  ^apttsvoo 
■fsvopivY]^  und  V,  7  :  6  yap  sv.  rcapitsvoo  eauxö)  v. ataaxeodcoac  awp. a. 

4)  Die  Fragmente  des  Buches  rcepl  9,e6xv)'coc  sind  in  den  Akten  des  Ephesiner 
Concils  aufbewahrt  und  bei  Gallandi,  Tom.  IV. 


23 


Prophetie  Salomons  an:  »Es  ward  geschwächt  der  Leib  der  Jung¬ 
frau  und  sie  empfing  ein  Kind  und  in  vieler  Erbarmung  (in  multa 
miseratione)  wurde  die  Jungfrau  Mutter.«  Dann  bringt  er  auch,  wie 
Origenes,  eine  naturgeschichtliche  Analogie:  »Wenn  es  allen  bekannt 
ist,  dass  gewisse  Thiere  von  dem  Wind  und  dem  Lufthauch  zu 
empfangen  pflegen,  warum  sollte  es  Jemand  für  wunderbar  erachten, 
wenn  wir  sagen,  dass  die  heilige  Jungfrau  von  dem  Spiritus  (=  Hauch 
und  Geist)  Gottes  schwanger  geworden  sei?  *)« 

Eine  weitere  Schrift  ist  der  dem  heiligen  Basilius  (f  379)  fälsch¬ 
lich  zugeschriebene,  aber  wohl  zu  seiner  Zeit  entstandene  Commentar 
zum  Jesaias,  in  welchem  manche  Stellen  aus  den  Erläuterungsschriften 
des  Eusebius  und  Origenes  zu  diesem  Propheten  wörtlich  überge¬ 
gangen  sind.  Die  jüdische  und  christliche  Leseart  von  VII,  14  werden 
als  gleichbedeutend  dargestellt,  da  mit  der  jüdischen  Leseart  auch 
im  Deuteronom.  XXII,  25  —  27  und  im  dritten  (ersten)  Buch  der 
Könige  I,  3.  4  eine  Jungfrau  bezeichnet  werde.  Es  wird  wieder  der 
Nachdruck  auf  das  beabsichtigte  »Zeichen«  gelegt  und  gefragt:  »Wie 
hätte  auch  das,  was  aus  dem  Willen  des  Fleisches  geboren  wäre, 
Emmanuel  (Gott  mit  uns)  genannt  werden  können?«  die  Jungfräu¬ 
lichkeit  Mariens  gehe  aus  dem  Gespräch  mit  dem  Engel  hervor  Luk.  I, 
34,  35.  Schliesslich  kommt  noch  die  Analogie  von  den  Geiern *  2 3). 
Gregor  von  Nazianz  (f  um  391)  nennt  Maria  »die  keusche  Mutter,  die 
jungfräuliche,  die  nicht  gebundene,  gottähnliche,  unbefleckte,  denn 
ohne  Heirath  und  Vater  musste  er  (Christus)  geboren  werden  5).« 

Dass  die  »Jungfrau«  Maria  »ohne  Mannes  Samen«  geboren,  be¬ 
tont  ferner  der  blinde  Didymus ,  der  Katechet  von  Alexandrien 
(f  395  oder  399)  in  seinem  »Buch  über  den  heiligen  Geist«  4)  und 
sein  abendländischer  Zeitgenosse,  Bischof  Zeno  von  Verona  (f  ca.  380) 
ruft  aus:  »Wunderbar!  es  empfängt  Maria  von  dem,  den  sie  gebiert; 
es  schwillt  der  Leib  von  Majestät,  nicht  von  Samen  und  es  fasst  die 
Jungfrau  den,  welchen  die  Welt  und  die  Fülle  der  Welt  nicht  fasst 5).« 

Cyrillus,  Bischof  von  Jerusalem  (f  386),  in  dessen  Sprengel  noch 
immer  nicht  unbedeutende  Trümmer  judaisirender  Sekten  vorhanden 
waren,  nennt  Christus  in  einer  seiner  Katechesen  »den  aus  der  Jungfrau 

9  Divin.  instit.  1.  IV,  c.  12. 

2)  Gomm.  in  Isai,  c.  VII,  n.  201. 

3)  Carm.  lib.  I,  sect.  II.  Carm.  moral.  I.  üap&Eviac  ena ivo?,  197  —  199. 

4)  Bei  Gallandi  Tom.  VI,  p.  275. 

5)  Lib.  II,  Tract.  9. 


24 


gewordenen  Gott,  der  nicht  aus  dem  Willen  des  Mannes  und  Weibes, 
wie  die  Häretiker  sagen,  sondern  aus  der  Jungfrau  und  dem 
heiligen  Geiste  nach  dem  Evangelium  Mensch  geworden  sei  *).«  Auf 
diesen  »Irrthum  der  Häretiker«  weist  er  noch  mehrmals  hin *  2). 

Dann  wendet  er  sich  auch  gegen  die  Juden  und  Heiden  (Hel¬ 
lenen).  Die  jüdische  Erklärung  der  Jesaiasstelle  widerlegt  er  durch 
den  Sprachgebrauch  3).  Die  Juden  sollen  an  Sara  denken,  an  Moses’ 
aussätzige  und  wieder  reine  Hand,  an  Moses’  Stab,  an  Aarons  Ruthe  4) ; 
schon  die  Stammmutter  Eva  sei  für  sie  ein  beherzigenswerthes  Bei¬ 
spiel.  Sie  ist  mutterlos  geboren,  warum  könne  dann  nicht  ein 
Knabe  vaterlos  geboren  werden?  5)  Dasselbe  gehe  aus  der  Psalmen¬ 
stelle  XXI,  10  hervor:  Du  bist  es,  der  mich  herausgezogen  hat  aus 
dem  Mutterleib.  »Gib  wohl  Acht  auf  das  , Herausgezogen4,  welches 
beweist,  dass  er  ohne  Mann  aus  dem  Leib  und  Fleisch  der  Jungfrau 
herausgewachsen  und  geboren  sei6).«  Den  Hellenen  wirft  er  ihre 
Inconsequenz  vor.  Sie  lassen  aus  Steinen  Menschen  werden,  lassen 
Minerva  aus  Jupiters  Haupt,  Bacchus  aus  Jupiters  Schenkel  hervor¬ 
gehen  und  glauben  nicht  an  Christi  übernatürliche  Zeugung  7).  Indem 
er  dann  seine  Gläubigen  ebenso  wie  die  Juden  auf  die  Wunder  des 
alten  Testaments  verweist,  ruft  er  ihnen  zu:  »Daran  lasst  uns  denken, 
Brüder,  diess  lasst  uns  gleichsam  als  Vertheidigungsmittel  gebrauchen. 
Lassen  wir  nicht  die  Häretiker  gelten,  die  ....  behaupten,  aus 
Mann  und  Weib  sei  der  Erlöser  gezeugt,  welche  die  Behauptung 
wagen,  dass  er  aus  Joseph  und  Maria  sei,  weil  geschrieben  steht: 
,und  er  nahm  sein  Weib  zu  sich.4«  Er  setzt  hierauf  auseinander,  dieses 
-»Weib«  (Matth.  I,  24)  sei  in  dem  Sinne  gebraucht,  wie  Genes. 
XXIX,  21,  wo  Jakob,  ehe  er  die  Rachel  erhalten  hatte,  zu  Laban 
sage:  gib  mir  mein  Weib.  Jakob  habe  sie  so  genannt,  weil  sie  ihm 
versprochen  war,  und  so  heisse  Maria  »Weib«,  weil  sie  verlobt 
war.  Lukas  (I,  26  u.  II,  4)  hebe  ihren  Stand  als  einer  Verlobten  klar 
hervor.  Auch  aus  Galat.  IV,  4  sei  dasselbe  zu  entnehmen,  denn  es 

0  Catecb.  XII,  1. 

2)  Ibid.  3.  S.  auch  unten. 

3)  Ibid.  21. 

4)  Ibid.  28. 

5)  Ibid.  29.  Aehnlich  Ephraem  Syrus,  De  nativ.  Dom.  S.  I.  »Evam  geni- 
tricem  genuit  ingenitus  vir,  quanto  credibilius  videatur,  filiam  Evae  citra  viri 
operam  gravidari  potuisse.«  Op.  Tom.  II,  syr.  et  lat.  pag.  397.  Ed.  Rom.  1740. 

6)  Ibid.  25. 

7)  Ibid.  27. 


25 


heisse  dort  nicht:  geworden  aus  dem  Manne  und  Weibe,  sondern 
nur:  geworden  aus  dem  Weibe,  d.  h.  aus  der  Jungfrau  ....  »Aus 
einer  Jungfrau  wurde  also  geboren  er,  der  die  Seelen  zu  Jungfrauen 
macht  (6  nccpdsvonoiög  rcöv  ipv%cov)  J).« 

Chrysostomus,  Patriarch  von  Konstantinopel,  sagt  in  seinen  etwa 
a.  388  geschriebenen  Homilien  »über  die  Veränderung  der  Namen«: 
Das  Wort  Eden  bedeute  »jungfräuliches«  Land.  »Diese  Jungfrau 
(Eden)  ist  ein  Typus  jener  Jungfrau  (Maria).  Denn  wie  dieses  Land, 
welches  keinen  Samen  aufgenommen  hatte,  uns  das  Paradies  hervor¬ 
brachte,  so  hat  auch  jene,  ohne  Mannes  Samen  aufzunehmen ,  uns 
Christum  hervorgebracht*  2).«  In  einer  andern  Homilie  bezieht  er  wie 
Origenes  den  »Keim«  (Genes.  XLIX,9)  auf  »die  Jungfrau,  und  den 
unbefleckten  Stand  Marias«  3). 

Bei  Ambrosius,  Epiphanius,  Hieronymus,  Augustinus  und  den 
übrigen  Zeitgenossen,  obwohl  sie  für  andere  Züge  einzutreten  hatten, 
welchen  das  Empfängnisswunder  schon  zur  Voraussetzung  dient, 
finden  sich  doch  immer  noch  gelegentliche  Bemerkungen,  die  hieher  ge¬ 
hören.  Epiphanius  namentlich  unterlässt  natürlich  nicht,  in  seinem 
vor  380  vollendeten  Panarion  oder  Buch  gegen  die  Häresieen  bei  Be¬ 
sprechung  der  Ebioniten  den  Zug  der  Jungfräulichkeit  zu  vertheidigen. 
Dazu  dient  ihm  vor  Allem  wieder  die  bekannte  Jesaiasstelle 4),  die 
weitere  bei  Jes.  LXVI,  7:  »ehe  denn  ihr  wehe  ward,  hat  sie  ge¬ 
boren;  ehe  ihre  Wehen  kamen,  gebar  sie  ein  Knäblein5)«,  die  Stelle 
Num.  XIX,  2,  von  der  rothen  Kuh,  »auf  deren  Nacken  noch  kein 
Joch  gelegt  ist«,  dann  Jesai.  VIII,  1:  »nimm  dir  einen  Abschnitt 
eines  neuen  grossen  Papierblattes.«  Das  Papierblatt  bedeute  Maria, 
das  Beiwort  »neu«  die  unverletzte  Jungfräulichkeit,  gross  heisse  es, 
weil  »Maria,  die  heilige  Jungfrau  ,  wahrhaft  gross  vor  Gott  und 
Menschen  sei.  Denn  wie  sollten  wir  diese  nicht  gross  nennen, 
welche  den  Unerfasslichen  fasste,  den  Himmel  und  Erde  nicht  fassen 
kann«.  Der  »Abschnitt«  endlich  bedeute  das  Abgeschnittensein  von 
männlicher  Vermischung  u.  sf  f. 6).  Zu  weiterer  Vertheidigung  zieht 


’)  Ibid.  31. 

2)  Edit.  Montfaucon  Tom.  III,  p.  113. 

3)  Tom.  III,  p.  161. 

4)  Adv.  haer.  XXX,  20  und  30. 

5)  Ibid.  20. 

6)  Ibid.  31.  Das  »neue  Papier«  wird  auch  von  Gregor  von  Nyssa  in  den 
testim.  adv.  Jud.,  Galland.  Tom.  VI,  p.  584  als  Typus  für  die  »Jungfrau«  ge- 


26 


er  aus  dem  Neuen  Testament  ausser  der  Verkündigungsscene  selbst 
noch  den  Anfang  der  Genealogie  bei  Lukas  herbei,  wo  es  heisst: 
Jesus  ....  war,  wie  man  meinte,  Josephs  Sohn  und  fügt  hinzu: 
»Mit  dem  Ausdruck  »wie  man  meinte«  zeigte  der  Evangelist  eben, 
dass  er  nicht  Josephs  Sohn  sei1)«.  In  seiner  Schrift  gegen  die 
Antidikomarianiten  setzt  er  in  der  beigezogenen  Stelle  Jesai.  VIII,  3 
die  erste  Person  in  die  dritte  um:  »er  trat  hinein  zu  der  Prophetin 
und  sie  empfing  in  ihrem  Leibe«  und  deutet  diess  auf  die  Verkündi¬ 
gung  Gabriels  an  Maria,  dass  sie  »ohne  alle  männliche  Zeugung« 
Gottes  Sohn  empfangen  werde 2)  und  wiederholt  diess  in  der  Schrift 
gegen  die  Kollyridianerinnen,  wo  er  auch  wieder  auf  die  Jesaias- 
stelle  VII,  14  zurückkommt 3).  Letztere  dient  auch  dem  Johannes 
Cassianus  in  seinem  um  430  geschriebenen  Buch  ȟber  die  Fleisch 
werdung«  als  Beweis  für  dieselbe  Sache4). 

Ambrosius,  der  in  seinem  Buch  über  die  »Unterweisung  einer 
Jungfrau«  ebenfalls  noch  die  Empfängniss  »ohne  alle  Beimischung 
männlichen  Samens«  betont 5),  bringt  in  seiner  aus  dem  Jahr  389 
stammenden  Erklärung  der  Schöpfungsgeschichte  wieder  das  natur¬ 
geschichtliche  Beispiel  der  Geier  und  fährt  fort:  »Was  sagen  nun 
diejenigen,  welche  unsere  Mysterien  zu  verlachen  pflegen,  wenn  sie 
von  der  Zeugung  aus  einer  Jungfrau  hören  und  die  Geburt  einer 
Unvermählten,  deren  Keuschheit  kein  männlicher  Umgang  befleckt 
hatte,  für  unmöglich  halten?  Für  unmöglich  wird  dasjenige  bei  der 
Mutter  Gottes  gehalten,  dessen  Möglichkeit  bei  den  Geiern  nicht  ge¬ 
leugnet  wird!  Ein  Vogel  pflanzt  sich  ohne  Männchen  fort  und  Nie¬ 
mand  hat  etwas  dagegen;  weil  aber  Maria  als  Verlobte  geboren  hat, 
stellt  man  ihre  Keuschheit  in  Frage!  Bemerkt  man  nicht,  dass  der 
Herr  aus  der  Natur  selbst  sehr  viele  Beispiele  vorausgeschickt  hat, 
wodurch  er  die  Herrlichkeit  der  Menschwerdung  erwies  und  ihre 
Wahrheit  stützte?6)« 


braucht.  „Töp.ov  ouv  xatvöv  vooöjasv  ty]v  Tiapi Isvov,  warcsp  yäp  b  yäßirfi  xaivo?  Ion 
xaHapo?,  aypatpo?  u>v,  outok  v.al  Y|  uaptHvcii;  äyta  &fj.i>YjToq  avbpbc,.“ 

0  lbid.  29. 

2)  lbid.  LXXVIII,  16,  s.  auch  19:  „obv.  uk'o  aoCoyta?  avop bq,“  und  Anaceph. 
Pag.  1135  (Petav.)  „obv.  c/.ko  CTtspjxato?  öcvBpo?.“ 

3)  lbid.  LXXIX,  6. 

4)  De  incarn.  1.  II,  c.  3. 

5)  De  instit.  virg.  98;  auch  in  Expos,  ad  Evang.  Luc.  I,  35. 

6J  Hexaem.  lib.  V,  c.  20. 


27 


Bischof  Gaudentius  von  Brescia x)  (f  ca.  410)  und  ebenso 
Hieronymus* 2)  und  Augustinus3)  benützen  bei  Besprechung  des  im 
Neuen  Testament  mehrmals  vorkommenden  Ausdrucks  »Weib«  auch 
noch  die  Gelegenheit  zu  erläutern,  dass  diess  eben  das  Geschlecht 
bedeute,  ohne  der  Jungfräulichkeit  zu  präjudiciren ,  oder  Sprach¬ 
gebrauch  im  Ebräischen  sei,  wie  Genes.  II,  21 — 23,  Num.  XXXI,  13 
u.  s.  w.  Augustinus  insbesondere  gewinnt  durch  den  Vergleich  der 
Verkündigung  des  Johannes  mit  der  Verkündigung  Christi  einen  Be¬ 
weis  für  die  jungfräuliche  Empfängniss.  Gabriel  kam  zu  Zacharias, 
nicht  zu  Elisabeth,  »weil  Johannes  durch  Zacharias  in  Elisabeth 
entstehen  sollte.  Hinwiederum  aber  kam  Gabriel  zu  Maria,  nicht 
zu  Joseph;  dahin,  woher  das  Fleisch  entstehen,  woher  es  seinen  Ur¬ 
sprung  haben  sollte,  zu  ihr  selbst  kam  der  Engel4).« 

Rufinus  von  Aquileja  (f  410)  sieht  sich  in  seinem  Commentar 
zum  Apostolischen  Glaubensbekenntniss  durch  den  Spott  der  Heiden, 
wie  oben  Ambrosius,  zu  folgender  Ausführung  veranlasst:  »Die 
Heiden  pflegen  uns  zu  verlachen,  wenn  sie  hören,  dass  von  uns  die 
Geburt  der  Jungfrau  gepredigt  werde,  wesswegen  ihren  Verkleine¬ 
rungen  kurz  zu  antworten  ist.«  Zu  jeder  Geburt  gehören  drei 
Faktoren,  weibliche  Reife,  männlicher  Umgang,  Fruchtbarkeit.  Bei 
der  Geburt,  die  wir  predigen,  fehlt  eins,  der  Mann,  welchen  wir, 
da  der  Geborene  kein  irdischer,  sondern  ein  himmlischer  Mensch 
war,  durch  den  himmlischen  Geist  ersetzen,  ohne  Schwächung  der 
Jungfrau'  Was  scheine  denn  bei  der  Empfängniss  der  Jungfrau 
wunderbar,  wenn  der  orientalische  Vogel  Phönix  ohne  Männchen 
aus  sich  selbst  wiedergeboren  werde?  Allen  sei  bekannt,  dass  die 
Bienen  ohne  geschlechtliche  Verbindung  sich  fortpflanzen  und  so 
gebe  es  noch  mehrere  naturgeschichtliche  Beispiele.  Die  Heiden 
glauben,  dass  Minerva  aus  Jupiters  Haupt,  Bacchus  aus  seinem 
Schenkel  geboren  sei  (bemerkt  er  wie  Cyrill  von  Jerusalem),  sie 
lassen  Venus  aus  dem  Schaum  des  Meeres 5)  entstehen,  Kastor  und 

0  Serm.  9. 

2)  Comm.  in  epist.  ad.  Gal.  1.  II,  c.  4:  »denn  es  war  nicht  nothwendig,  immer 
gleichsam  vorsichtig  und  furchtsam  Jungfrau  zu  sagen.« 

3)  Serm.  29  ad  Luc.  I,  28. 

4)  Sermo  291  in  natal.  Jo.  ßapt.  3.  Auch  sonst  wird  häufig  die  Beiwohnung 
des  Mannes  abgewiesen.  Z.  B.  Contra  Faust.  1.  23,  c.  8  und  öfters;  dann  de 
cons.  evang.  II,  1 ;  sermo  343  de  Susanna  et  Joseph  3  u.  s.  w. 

5)  »Venerem  ....  de  spuma  maris,  sicut  et  omnis  ejus  compositio  ostendit, 
credunt  esse  progenitam.« 


28 


Pollux  aus  einem  Ei,  die  Myrmidonen  aus  Ameisen,  die  Menschen 
alle  aus  den  von  Deukalion  und  Pyrrha  geworfenen  Steinen.  Und 
obwohl  sie  diese  und  so  viele  andere  Erdichtungen  geglaubt  haben, 
scheint  ihnen  eines  unmöglich,  dass  ein  reifes  Mädchen  den  göttlichen 
Keim  nicht  durch  männliche  Schuld,  sondern  durch  Gottes  Geist 
empfangen  habe.  Wenn  sie  so  schwergläubig  sind,  so  durften  sie 
jenen  schändlichen  Ungeheuerlichkeiten  keinen  Glauben  schenken; 
wenn  sie  aber  zum  Glauben  geneigt  sind,  so  mussten  sie  viel  bereit¬ 
williger  diese  unsere  so  ehrbaren  und  heiligen  Dinge  glauben,  als 
jene  so  unwürdigen  und  abscheulichen  *)•  In  seinem  Buch  über  die 
Segnungen  der  Patriarchen  endlich  entnimmt  er  zu  der  Stelle 
Genes.  XLIX,  9:  »Ein  junger  Löwe  ist  Juda,  aus  dem  Keime  (de 
germine)  bist  du  aufgestiegen,  mein  Sohn,«  dem  Origenes  wörtlich 
die  Erklärung,  die  wir  oben  mitgetheilt  haben* 2). 

Schliesslich  ist  noch  die  eigenthtimliche  Deutung  des  Wortes 
ha-alma  bei  Isai.  VII ,  14  durch  Hieronymus  zu  erwähnen.  »Ich 
weiss,  sagt  er  in  seinem  Buch  gegen  Jovinian3),  dass  die  Juden 
entgegenzuhalten  pflegen,  im  Hebräischen  bedeute  das  Wort  alma 
nicht  eine  Jungfrau,  sondern  eine  Junge.  Und  wirklich  heisst  Jung¬ 
frau  eigentlich  bethula,  eine  Junge  aber  oder  ein  Mädchen  heisst 
nicht  alma,  sondern  naara.  Was  heisst  nun  alma?  Antwort:  eine 
verborgene  Jungfrau,  eine  Jungfrau  mit  nachdrücklicher  Betonung 
.  .  .  .  eine  abgesonderte,  von  ihren  Eltern  sorgfältig  behütete  Jung¬ 
frau,«  wie  die  keusche  Rebekka,  welche  desshalb  auch  alma  heisse, 
Genes.  XXIV,  42  ff. 

Man  sieht,  die  Kirchenväter  gaben  sich  alle  Mühe,  die  Möglich¬ 
keit  und  Wirklichkeit  des  Empfängnisswunders  zu  beweisen  —  zu¬ 
nächst  den  Ungläubigen  gegenüber.  Für  die  Gläubigen  bedurfte  es 
ja  eines  solchen  Beweises,  obwohl  sie  auch  hiedurch  in  ihrem  Glauben 
nur  gekräftigt  werden  konnten,  eigentlich  nicht.  Die  Masse  nahm 
die  jungfräuliche  Empfängniss  einfach  als  Wunder,  wie  jedes  andere, 
welches  die  Bibel  erzählte,  die  philosophisch  geschulten  Schriftsteller 
aber  begnügten  sich  nicht  damit,  bloss  die  Möglichkeit  und  Wirk¬ 
lichkeit  dieses  Wunders  darzulegen,  sondern  sie  bewiesen  in  ihrer 
Weise  die  Nothwendigkeit  desselben,  indem  sie  es  als  eine  der 


9  Comm,  in  symb.  apost. ;  Artikel:  qui  natus  est  de  sp.  s.  etc. 

2)  De  bened.  patr.  üb.  I,  2. 

3)  I,  33,  vgl.  auch  Adv.  Helvid.  4. 


20 


Grundbedingungen  der  Erlösung  auffassten.  Die  Erlösung  wird  nem- 
lich  als  eine  Art  Neuschöpfung  betrachtet,  die  Sendung  des  Messias 
als  eine  Art  Wiederholung  der  Erschaffung  des  Adam,  der  Messias 
selbst  heisst  der  zweite  Adam.  Um  Regenerator  der  gefallenen 
Menschheit  werden  zu  können,  muss  er  selbst  Mensch  werden  und 
zwar  ungefähr  auf  dieselbe  Art  wie  der  erste  Mensch ,  und  doch 
zugleich  von  diesem  ersten  Menschen  abstammen.  Diess  ist  nur 
dadurch  möglich,  dass  er  einen  ebenso  reinen,  sündenlosen  Ursprung 
hat  wie  Adam;  darum  muss  er  nicht  durch  sündhafte  Vermischung 
von  Mann  und  Weib,  sondern  aus  einer  reinen  Jungfrau  Fleisch  an¬ 
nehmen.  Eine  andere  Wendung,  welche  sich  bei  den  Kirchenvätern 
in  verschiedenen  Variationen  findet,  ist  diese:  Weil  durch  eine 
Jungfrau  (Eva)  die  Sünde  in  die  Welt  kam,  musste  durch  eine 
Jungfrau  (Maria)  das  Heil  auf  die  Welt  kommen.  Letztere  Wendung 
ist  die  ältere,  sie  findet  sich  bereits  bei  Justin. 

Der  vor  allen  Geschöpfen  von  dem  Vater  ausgegangene  Sohn, 
sagt  dieser  in  seinem  Gespräch  mit  dem  Juden  Tryphon1),  »sei 
durch  die  Jungfrau  Mensch  geworden,  damit  der  Ungehorsam,  der 
von  der  Schlange  stammt,  durch  eben  denselben  Weg,  durch  den  er 
seinen  Anfang  genommen  hatte,  auch  sein  Ende  nehme.  Denn  Eva 
nahm,  als  sie  noch  Jungfrau  und  unverdorben  war,  das  Wort  der 
Schlange  in  sich  auf  und  gebar  den  Ungehorsam  und  den  Tod; 
Maria  aber,  die  Jungfrau,  antwortete  mit  Glauben  und  Freude  auf 
die  Botschaft  des  Engels  Gabriel  ....  mir  geschehe  nach  deinem 
Worte.« 

Irenäus  bringt  diese  Gegenüberstellung  von  Eva  und  Maria 
zweimal  in  seinem  Buch  gegen  die  Häresieen.  Die  eine  Stelle  lautet 
folgendermassen :  »Die  Jungfrau  Maria  wird  gehorsam  erfunden,  in¬ 
dem  sie  sagt:  Siehe,  ich  bin  deine  Magd,  o  Herr  .  .  .  .;  Eva  aber 
ungehorsam,  denn  sie  hat  nicht  gehorcht,  als  sie  noch  Jungfrau 
war.  Wie  die  letztere,  die  zwar  einen  Mann  —  Adam  —  hatte, 
aber  doch  noch  Jungfrau  war,  ....  durch  ihren  Ungehorsam  für 
sich  und  für  das  ganze  Menschengeschlecht  zur  Ursache  des  Todes 
geworden  ist;  so  ist  Maria,  die  auch  einen  ihr  vorausbestimmten 
Mann  hatte  und  dennoch  Jungfrau  war,  durch  ihren  Gehorsam  für 
sich  und  für  das  ganze  Menschengeschlecht  zur  Ursache  des  Heiles 
geworden.  Und  desswegen  nennt  das  Gesetz  die,  welche  einem 


*)  c.  100. 


30 


Manne  verlobt  war,  Frau  des  Verlobten,  obwohl  sie  noch  Jungfrau 
ist,  indem  es  den  Rückkreislauf  (recirculatio) x)  von  Maria  zu  Eva 
andeutet;  weil  etwas  Gebundenes  nicht  anders  aufgelöst  werden 
kann,  als  wenn  die  Bindungsknoten  selbst  rückwärts  aufgemacht 
werden,  so  dass  die  ersten  Knoten  durch  die  zweiten  gelöst  werden, 
die  zweiten  die  ersten  wieder  befreien.  Und  so  geschieht  es,  dass 
zwar  der  erste  Knoten  von  dem  zweiten  gelöst  wird,  beim  zweiten 
Knoten  aber  die  erste  Lösung  stattfmdet.  Und  darum  sagte  der 
Herr,  die  Ersten  werden  die  Letzten,  und  die  Letzten  die  Ersten 
werden.  Und  der  Prophet  bezeichnet  dasselbe  mit  den  Worten: 
Für  die  Väter  sind  die  Söhne  geboren *  2).  Denn  als  Erstgeborener 
unter  den  Todten  3)  ist  der  Herr  geboren,  und  indem  er  die  früheren 
Väter  in  seinen  Schooss  zurücknahm,  hat  er  sie  zum  Leben  Gottes 
wiedergeboren,  da  er  selber  der  Anfang  der  Lebenden  ward,  weil 
Adam  der  Anfang  der  Sterbenden  geworden  ist.  Desswegen  fängt 
auch  Lukas  in  seinem  Geschlechtsregister  vom  Herrn  an  und  führt 
es  auf  Adam  zurück,  um  zu  bezeichnen,  dass  nicht  jene  (die  Väter) 
diesen  (Christus),  sondern  dieser  jene  zum  Evangelium  des  Lebens 
wiedergeboren  habe.  So  aber  hat  der  Knoten  des  Ungehorsams 
der  Eva  seine  Lösung  erhalten  durch  den  Gehorsam  Mariä.  Denn 
was  die  Jungfrau  Eva  durch  ihren  Unglauben  gebunden  hat,  das 
hat  die  Jungfrau  Maria  durch  ihren  Glauben  gelöst4). 

Die  andere  Stelle  bei  Irenäus  heisst  so: 

»Wie  das  Menschengeschlecht  durch  eine  Jungfrau  an  den  Tod 
gefesselt  wurde,  so  wird  es  durch  eine  Jungfrau  erlöst;  indem  die 
Wagschalen  gleichgestellt  sind,  nemlich  jungfräulicher  Ungehorsam 
durch  jungfräulichen  Gehorsam.  Denn  jetzt  ist  die  Sünde  des  Zu¬ 
erstgebildeten  (protoplasti)  durch  die  Bestrafung  des  Erstgeborenen 
wieder  gutgemacht,  und  die  Klugheit  der  Schlange  durch  die  Einfalt 
der  Taube  besiegt,  und  jene  Bande  gelöst,  durch  die  wir  an  den 
Tod  gekettet  waren  5).« 

Diese  beiden  Stellen  enthalten  offenbar  mehr,  als  was  sie  hier 
sagen  sollen.  Allein  sie  lassen  sich  schwer  zerreissen;  darum  blieb 
nur  übrig,  sie  an  dem  Ort,  wo  sie  zuerst  aufzuführen  waren,  ganz 

')  Hatte  der  Urtext  vielleicht  „&vaxüxXY]ai?“ '? 

2)  Ps.  XLIV,  17. 

3)  Goloss.  I,  18. 

4)  Iren.  haer.  III.  22,  4. 

5)  Haer.  Y,  19,  1,  2. 


31 


zu  geben  und  die  Blosslegung  der  nicht  hieher  gehörigen  Beziehungen 
auf  die  späteren  Ausführungen  zu  verschieben. 

Die  von  uns  oben  vorangestellte  Antithese  der  Erschaffung 
Adams  und  der  Menschwerdung  des  Messias  mit  Beziehung  auf 
unsern  Gegenstand  hat  ebenfalls  in  Irenaus  ihren  frühesten  Ver¬ 
treter.  Denn  der  »Brief  der  Priester  und  Diakonen  Achajas«  über 
das  Martyrium  des  Apostels  Andreas,  worin  sich  die  Stelle  findet: 
»Weil  der  erste  Mensch  aus  makelloser  Erde  erschaffen  worden, 
war  es  nothwendig,  dass  von  einer  makellosen  Jungfrau  der  voll¬ 
kommene  Mensch  geboren  werde  u.  s.  w.  x)«  —  dieser  Brief  lässt 
sich  nicht  genau  datiren.  Während  ihn  einige  dem  ersten  Jahr¬ 
hundert  vindiciren ,  halten  ihn  andere  für  die  Umarbeitung  einer 
Schrift  des  Manichäers  Leucius  Gharinus *  2).  Irenäus  aber  schreibt: 

»Wie  jener  zuerstgebildete  Adam  von  unbearbeiteter  und  noch 
jungfräulicher  Erde  (denn  Gott  hatte  noch  nicht  regnen  lassen  und 
der  Mensch  hatte  die  Erde  noch  nicht  bebaut) 3)  die  Substanz  hatte 
und  gebildet  worden  ist  durch  die  Hand  Gottes,  d.  h.  durch  das 
Wort  Gottes  (denn  Alles  ist  durch  dasselbe  gemacht  worden) 4),  und 
der  Herr  Lehm  nahm  von  der  Erde  und  den  Menschen  bildete5): 
so  nahm,  den  Adam  in  sich  wiederholend,  er  selbst,  das  in  die  Er¬ 
scheinung  tretende  Wort,  aus  Maria,  welche  noch  Jungfrau  war, 
ordnungsmässig  die  Zeugung  der  Wiederholung  des  Adam  an.  Wenn 
also  der  erste  Adam  einen  Menschen  zum  Vater  gehabt  hätte  und 
aus  dem  Samen  des  Mannes  geboren  wäre,  so  würde  man  mit 
Recht  sagen,  auch  der  zweite  Adam  sei  aus  Joseph  gezeugt.  Wenn 
aber  jener  von  der  Erde  genommen,  und  durch  das  Wort  Gottes 
gebildet  ist,  so  musste  dieses  Wort  selbst,  die  Wiederholung  des 
Adam  in  sich  selbst  machend,  eine  Aehnlichkeit  ebenderselben  Zeugung 
haben.  Warum  also  hat  Gott  nicht  wiederum  Lehm  genommen, 
sondern  aus  Maria  die  Bildung  gewirkt?  Damit  keine  andere  Bil¬ 
dung  werde  und  keine  andere  Bildung  wäre,  welche  erlöst  würde, 
sondern  ebendieselbe  selbst  wiederholt  würde,  mit  Aufrechthaltung 
der  Aehnlichkeit 6). « 


b  Presb.  et  Diac.  Ach.  ep.  5. 

2)  S.  Tischendorf,  Act.  apost.  apocr.  Proleg.  pag.  XL  ff.  und  XLVIT. 

3)  Gen.  II,  5. 

4)  Joh.  I,  3. 

B)  Gen.  II,  7. 

6)  Contra  haer.  lib.  III,  c.  21. 


32 


Tertullian  verbindet  beide  Vergleichungen  an  einer  und  der¬ 
selben  Stelle  seines  Buches  »über  das  Fleisch  Christi«  mit  einander. 

»Auf  neue  Weise  musste  der  Urheber  der  neuen  Geburt  geboren 
werden,  von  welcher,  wie  Jesaias  vorherverkündigte,  der  Herr  ein 
Zeichen  geben  wollte.  Welches  ist  nun  dieses  Zeichen?  , Siehe, 
eine  Jungfrau  wird  empfangen  und  einen  Sohn  gebären.4  Es  hat 
also  die  Jungfrau  empfangen  und  den  Emmanuel ,  Gott  mit  uns, 
geboren.  Diess  ist  eine  neue  Geburt,  indem  ein  Mensch  in  Gott 
geboren  wird.  In  diesem  Menschen  ist  Gott  geboren,  indem  er 
das  Fleisch  des  alten  Samens  angenommen  hat  ohne  den  alten 
Samen,  um  es  durch  neuen  Samen,  d.  h.  geistig  umzugestalten, 
entsiindigt  und  gereinigt  vom  alten  Schmutze.  Aber  diese  ganze 
Neuheit  ist  auch,  wie  diess  bei  Allem  der  Fall  ist,  von  Alters  her 
vorgebildet,  indem  der  Herr  nach  planmässiger  Anordnung  durch 
die  Jungfrau  geboren  wurde.  Jungfrau  war  noch  die  Erde  *),  noch 
nicht  durch  Beackerung  entweiht,  noch  nicht  für  Aussaat  aufgelockert, 
als  aus  ihr,  wie  wir  vernommen  haben,  von  Gott  der  Mensch  gemacht 
wurde  zur  lebenden  Seele.  Wenn  also  der  erste  Adam  von  der 
Erde  stammt,  so  ist  mit  Recht  der  folgende,  oder  der  jüngste  Adam, 
wie  der  Apostel  sagt,  gleichfalls  von  der  Erde,  d.  i.  von  dem  noch 
nicht  für  Zeugung  entsiegelten  Fleische  zum  belebenden  Geiste  von  Gott 

hervorgebracht  worden . Jungfrau  war  noch  Eva,  als  das 

todbringende  Wort  bei  ihr  sich  einschlich;  in  eine  Jungfrau  musste 
darum  gleicherweise  das  lebenbringende  Wort  Gottes  eingeführt  werden, 
damit,  was  durch  dasselbe  Geschlecht  verloren  gegangen  war,  durch 
das  nemliche  Geschlecht  gerettet  würde *  2).« 

Diese  Antithesen  finden  sich  nun  mehrfach  bei  den  folgenden 
Kirchenvätern  und  Kirchenschriftstellern  fast  immer  zum  Zwecke, 
um  die  Nothwendigkeit  der  jungfräulichen  Empfängniss  darzuthun. 
So  die  Gegenüberstellung  der  jungfräulichen  Erde  und  der  Maria  bei 
Methodius,  Bischof  von  Tyrus  (f  311),  bei  J.  Firmicus  Maternus,  bei 
Ephräm  dem  Syrer  und  Ambrosius.  Der  erste  schreibt  in  seinem 
»Gastmahl  der  zehn  Jungfrauen«  ....  »neubildend  aus  der  Jung¬ 
frau  und  dem  Geiste  bildete  er  ihn.  Denn  auch  im  Anfänge,  als 
die  Erde  noch  jungfräulich  und  ungepflügt  war,  nahm  er  Erde 


:)  Aehnlich  adv.  Judaeos  XIII: 
rigata  etc. 

2)  De  carne  Christi  17. 


utique  illa  terra  virgo  nondum  pluviis 


33 


und  bildete  das  vernünftigste  Wesen  aus  derselben  ohne  Zeugung  *). 
Der  zweite  sagt  in  seiner  um  340  geschriebenen  Abhandlung  ȟber 
den  Irrthum  der  heidnischen  Religionen«:  »Der  (erste)  Mensch  ist 
aus  dem  Lehm  jungfräulicher  Erde  gemacht  worden  ....  Dieser 
hat  durch  Verachtung  der  Verhaltungsbefehle  Gottes  das  menschliche 
Geschlecht  in  die  Fesseln  der  Sterblichkeit  geschlagen.  Das  musste 
nun  wieder  gut  gemacht  werden  ....  Der  aus  dem  Lehm  jung¬ 
fräulicher  Erde  gemachte  Adam  hat  durch  eigene  Pflichtverletzung 
das  verheissene  Leben  verloren;  der  durch  die  Jungfrau  Maria  und 
den  heiligen  Geist  geborene  Christus  hat  sowohl  die  Unsterblichkeit 
als  auch  das  Reich  erlangt  ....« *  2 ) 

Ephräm  hat  die  Wendung:  »Die  Erde  als  Jungfrau  gebar  den 
ersten  Adam,  das  Haupt  der  Erde,  eine  Jungfrau  wiederum  gebar 
heute  den  neuen  Adam,  das  Haupt  des  Himmels  3).«  Ambrosius 
endlich  äussert  sich  so:  »Der  erste  Mensch  war  von  der  Erde  und 
dem  Himmel,  der  zweite  von  dem  Himmel  und  der  Erde;  dieser 
aus  Gott  und  Maria,  welche  von  der  Erde,  jener  aus  der  Erde  und 
dem  Geiste,  welcher  vom  Himmel  ist.  Eeide  jedoch  sind  aus  einer 
Jungfrau  und  ohne  geschlechtliche  Vermischung ,  dieser  aus  einer 
unverletzten,  jener  aus  einer  unberührten,  weil  sie  noch  nicht  durch 
Samen,  durch  die  Pflugschar,  durch  den  Regen  verwundet  war4). 

Die  Gegenüberstellung  von  Eva  und  Maria  kommt  häufiger  vor. 
Der  KirchenhislorikSr  Eusebius  5),  der  syrische  Bischof  Aphraates  6), 
Cyrill  von  Jerusalem,  Ephraem  der  Syrer7),  Zeno  von  Verona, 
Epiphanius,  Ambrosius,  Chrysostonms,  Augustinus  bringen  dieselbe 
theils  kürzer,  theils  ausführlicher.  Cyrill  z.  B.  sagt  in  seiner  zwölften 
Katechese:  »Durch  die  Jungfrau  Eva  kam  der  Tod.  Es  musste 
darum  durch  eine  Jungfrau  oder  vielmehr  aus  einer  Jungfrau  das 
Leben  erscheinen ,  damit ,  wie  jene  die  Schlange  betrog ,  so  dieser 
Gabriel  die  frohe  Botschaft  brachte  8).« 

Etwas  weiter  unten  gewinnt  er  derselben  Vergleichung  eine  ganz 


b  Or.  III,  Thalia  c.  4. 

2)  De  errore  prof.  rel.  c.  26. 

3)  Op.  syr.  et  lat.  Tom.  II,  p.  397,  a.  Edit.  Rom.  1740. 

4)  Sermo  45,  1. 

5)  Lib.  1  de  fide  adv.  Sabell. 

e)  Sermo  de  devotis  c.  6. 

7)  Opera,  Tom,  II,  syr.  et  lat.  p.  318,  327,  328. 

8)  Catech.  XII,  15. 

Lehner,  Die  Marienverehrung. 


3 


34 


eigene  Seite  ab:  »Das  weibliche  Geschlecht  war  den  Männern  Dank 
schuldig;  denn  Eva  war  aus  Adam  geboren,  nicht  von  einer  Mutter 
empfangen,  sondern  nur  von  einem  Manne  gleichsam  geboren.  Maria 
stattete  den  Dank  ab,  da  sie  nicht  aus  einem  Manne,  sondern  aus 
sich  allein  unbefleckt  aus  dem  heiligen  Geiste  durch  die  Kraft  Gottes 
gebar  1).« 

Bei  Zeno  (f  ca.  380)  erscheint  die  Vergleichung  mit  eigenthüm- 
licher  Nüance:  »Von  dem  Weib,  welches  zuerst  gesündigt  hatte, 
fängt  die  Sorge  der  Beschneidung  an.  Und  weil  der  Teufel ,  mit 
seinem  Rathe  durch  das  Ohr  sich  einschleichend,  die  Eva  verwundet 
und  dem  Tod  geweiht  hatte,  reinigt  Christus,  indem  er  durch  das 
Ohr2)  in  Maria  eingeht,  alle  Fehler  des  Herzens  und  heilt  die 
Wunde  des  Weibes,  da  er  von  der  Jungfrau  geboren  wird.  Ver¬ 
nehmet  das  Zeichen  des  Heiles!  Auf  die  Verführung  folgt  die  Un¬ 
versehrtheit,  auf  das  Gebären  die  Jungfräulichkeit  3 4).« 

Epiphanias  führt,  wie  Irenäus,  die  Antithese  gründlicher  und  viel¬ 
seitiger  durch;  wir  werden  später  ebenfalls  noch  darauf  zurückkommen 
müssen.  Hieher  gehört  nur  Folgendes:  »Eva  ist  für  die  Menschen 
der  Grund  des  Todes  geworden,  denn  durch  sie  kam  der  Tod  in  die 
Welt;  Maria  der  Grund  des  Lebens,  denn  durch  sie  wurde  uns  das 
Leben  geboren  ....  Und  da  Eva  noch  Jungfrau  war  dort  beim 
Sündenfall  durch  Ungehorsam,  so  kam  wiederum  durch  die  Jungfrau 
der  Gehorsam  der  Gnade  i).« 

Ambrosius  schreibt  in  seinem  Briefe  an  die  Kirche  von  Vercelli 
a.  396:  »Eine  Jungfrau  gebar  das  Heil  der  Welt,  eine  Jungfrau 
gebar  das  Leben  für  alle  ....  Durch  Mann  und  Weib  ist  das 
Fleisch  aus  dem  Paradiese  hinausgeworfen  worden,  durch  eine  Jung¬ 
frau  ist  es  mit  Gott  verbunden  5).« 

Augustinus  endlich  sagt:  »Weil  durch  das  weibliche  Geschlecht 
der  Mensch  gefallen  ist,  ist  durch  das  weibliche  Geschlecht  der  Mensch 


9  Ibid.  29. 

2)  Dasselbe  sagt  der  oben  citirte  Gaudentius:  »per  maternas  illapsus  aures« 
Sermo  13,  und  manche  andere,  s.  unten. 

3)  Lib.  II,  Tract.  13,  n.  10.  Vgl.  auch  Lib.  I,  Tract.  2,  n.  9.  »0  caritas, 

quam  pia  et  quam  opulenta!  ...  Tu  Deum  in  hominem  demutare  voluisti.  ,  .  . 
Tu  virginali  carceri  novem  mensibus  religasti.  TuEvam  in  Maria  redintegrasti, 
Tu  Adam  in  Christo  renovasti.« 

4)  Haer.  78,  18. 

5)  Epist.  63,  n.  33.  Vgl.  auch  De  instit.  virg.  c.  5. 


35 


wieder  hergestellt  worden,  da  eine  J  u  n  g  f  r  a  u  Christum  geboren _ 

Durch  das  Weib  der  Tod,  durch  das  Weib  das  Leben  1).« 

Einen  neuen,  der  obigen  Antithesen  sich  nicht  bedienenden 
Beweis  für  die  Noth Wendigkeit  der  jungfräulichen  Empfängniss  haben 
wir  von  Lactantius  aus  dem  Jahr  320  nachzuholen:  Christus  musste 
in  Allem  dem  Vater  ähnlich  sein.  »Weil  Gott  der  Vater,  der  Ur¬ 
sprung  und  Anfang  aller  Dinge,  der  Eltern  entbehrt,  wird  er  vom 
Trismegistus  ganz  richtig  vaterlos  und  mutterlos  genannt,  weil  er 
aus  Niemand  hervorgebracht  ist.  Desswegen  musste  auch  der  Sohn 
zweimal  geboren  werden,  damit  er  ebenfalls  vaterlos  und  mutterlos 
würde.  Bei  seiner  ersten  geistigen  Geburt  war  er  mutterlos,  weil 
er  ohne  mütterliche  Verrichtung  von  Gott  dem  Vater  allein  gezeugt 
ist.  Bei  der  zweiten,  fleischlichen  Geburt  aber  war  er  vaterlos,  weil 
er  ohne  väterliche  Verrichtung  aus  jungfräulicher  Gebärmutter  hervor¬ 
gebracht  worden  ist2).«  Wenige  Kapitel  weiter  unten  in  demselben 
Buch  »Göttlicher  Unterweisungen«,  dem  obige  Stelle  entnommen  ist, 
schreibt  er:  »Damit  es  gewiss  wäre,  dass  er  von  Gott  geschickt  sei, 
durfte  jener  nicht  so  geboren  werden,  wie  der  Mensch  geboren  wird, 
aus  zwei  sterblichen  Eltern  gebildet ;  sondern  damit  es  klar  erschiene, 
dass  jener  auch  im  Menschen  ein  himmlischer  sei,  ist  er  ohne  Mit¬ 
wirkung  eines  Erzeugers  erschaffen  worden.  Denn  er  hatte  zum 
geistigen  Vater  Gott,  und  wie  der  Vater  seines  Geistes  Gott  ohne 
Mutter  ist,  so  ist  die  Mutter  seines  Körpers  die  Jungfrau  ohne  Vater  3).« 
In  dem  »Auszug«  aus  dem  genannten  Werke  wiederholt  sich  dann 
ungefähr  dieselbe  Beweisführung.  »Wiedergeboren  ist  er  also  aus  der 
Jungfrau  ohne  Vater  als  Mensch,  damit  er,  wie  er  bei  seiner  ersten, 
geistigen  Geburt  geschaffen  und  aus  Gott  allein  heiliger  Geist  ge¬ 
worden  ist,  so  bei  seiner  zweiten,  fleischlichen  Geburt  aus  der  Mutter 
allein  erzeugt,  heiliges  Fleisch  werde,  auf  dass  durch  ihn  das  Fleisch, 
welches  der  Sünde  unterworfen  gewesen  war,  vom  Untergang  er¬ 
rettet  würde4).« 

Cyrillus  von  Jerusalem ,  den  wir  oben  schon  herbeigezogen 
haben,  bringt  schliesslich  noch  folgenden  Beweis:  »Es  geziemte  sich 
für  den  Reinsten  und  Lehrer  der  Reinheit,  aus  reinem  Brautgemach 


')  Sermo  232,  c.  2. 

2)  Div.  inst.  1.  IV,  c.  13. 

3)  Ibid.  c.  25. 

4)  Epit.  d.  i.  c.  43. 


her vorzugelien.  Denn  wenn  schon  ein  würdiger  Priester  Jesu  sich 
des  Weibes  enthält,  wie  konnte  Jesus  selbst  vom  Manne  und  Weibe 
stammen?«  !) 

Werfen  wir  nun  einen  Blick  auf  das  Voranstehende  zurück,  so 
gewinnen  wir  den  Eindruck,  dass  die  jungfräuliche  Empfängniss  von 
dem  Zeitpunkt  ihres  Bekanntwerdens  an  bei  den  Christen  nicht  nur 
immer  allgemeineren  Glauben  gefunden  hat,  sondern  durch  die  Be¬ 
mühungen  der  christlichen  Wissenschaft  zur  allgemeinen  Ueberzeugung 
geworden  ist.  Um  das  wissenschaftliche  Verfahren  kurz  zu  rekapi- 
tuliren,  so  wird  die  Möglichkeit  dieses  Wunders  bewiesen: 

1.  durch  Beispiele  von  andern  Wundern  aus  der  heiligen 
Geschichte ; 

2.  durch  Beispiele  aus  der  Naturgeschichte; 

3.  durch  Beispiele  aus  der  Mythologie; 
die  Wirklichkeit 

1.  durch  den  evangelischen  Bericht; 

2.  durch  die  alttestamentlichen  Prophezeiungen; 

3.  durch  Exegese  von  Bibeltexten; 

die  Noth wendigkeit,  weil  nach  dem  göttlichen  Erlösungsplan 

1.  durch  eine  Jungfrau  das  Heil  kommen  musste,  wie  durch 
eine  Jungfrau  das  Verderben  gekommen  war; 

2.  der  Messias  als  zweiter  Adam  einen  eben  so  reinen  Ursprung 
haben  musste,  wie  der  erste  Adam; 

3.  weil  die  zweite  Person  der  Trinität  der  ersten  in  Allem 
ähnlich,  also  bei  ihrer  Menschwerdung  vaterlos  sein  musste; 

4.  weil  der  Reinste  keinen  unreinen  Ursprung  haben  durfte. 

Es  kann  daher  nicht '  überraschen,  wenn  Epiphanius  in  seiner 

Schrift  gegen  die  Antidikomarianiten  ausruft:  »Wer  hat  jemals,  oder 
in  welchem  Zeitalter  hat  einer  es  gewagt,  den  Namen  der  heiligen 
Maria  zu  nennen,  ohne,  wenn  man  ihn  fragte,  sogleich  beizusetzen, 
die  Jungfrau?« *  2)  Diess  liesse  sich  denn  auch  durch  hundert  Bei¬ 
spiele  aus  den  Kirchenschriftstellern  von  Ignatius  an  belegen,  welche 
wirklich  bei  auch  nur  gelegentlicher  Erwähnung  des  Namens  Maria 
sehr  häufig  das  Prädikat  Jungfrau  nicht  vergessen.  Doch  ist  das 
nach  dem  Bisherigen  überflüssig. 


*)  Catech.  XII,  25. 

2)  Haeres.  LXXVII1,  6. 


Mutter 


Dass  Maria  die  Mutter  Jesu  war,  berichten  alle  vier  Evangelien 
nebst  der  Apostelgeschichte.  Doch  lassen  die  biblischen  Erzählungen 
auch  für  diesen  Zug  eine  doppelte  Auffassung  zu.  Diejenigen,  welche 
Jesus  für  des  Zimmermanns  Sohn  halten,  müssen  natürlich  seine 
Mutter  wie  jede  andere  Mutter  ansehen;  wer  aber  um  ihr  göttliches 
Geheimniss  weiss,  wie  Elisabeth,  dem  erscheint  sie  nothwendig  in 
höherer  Würde.  »Woher  mir  das,  dass  die  Mutter  meines  Herrn 
zu  mir  kommt?« 

Ueberhaupt  ist  es  der  Zug  der  Mutterschaft,  der  aufs  engste 
mit  der  Vorstellung  von  Christus  zusammenhängt.  Es  kann  sich 
hier  nicht  darum  handeln,  eine  Geschichte  des  christologischen  Be¬ 
griffs  zu  geben;  es  dürfen  nur  diejenigen  Entwickelungsstufen  kurz 
berührt  werden ,  mit  welchen  der  Name  Mariens  ausdrücklich  in 
Verbindung  gebracht  wird. 

Was  nun  diejenige  Vorstellung  betrifft,  nach  welcher  Maria 
sich  von  keiner  andern  Mutter  unterscheidet,  so  fällt  das  Hieher- 
gehörige  mit  dem  zusammen,  was  über  den  vulgären  Ebionitismus 
und  verwandte  Richtungen  bei  dem  Zug  der  Jungfräulichkeit  vor¬ 
gebracht  worden  ist.  Es  wäre  höchstens  noch  anzuführen ,  dass, 
da  auf  die  Eltern  eines  ausgezeichneten  Menschen  immer  ein  Strahl 
von  dem  Ruhme  des  Sohnes  zurückfällt,  ohne  Zweifel  auch  bei  den 
Ebioniten  u.  s.  w.  Maria  in  höherer  Achtung  stehen  musste,  als 
irgend  ein  anderes  Weib  eines  beliebigen  anderen  Zimmermanns. 
Ebenso  ist  der  Schluss  psychologisch  gerechtfertigt,  dass  Juden  und 
Heiden ,  welche  Christus  für  einen  Betrüger  und  Staatsverbrecher 
hielten,  auch  seine  Mutter  darum  scheel  ansahen.  Jedoch  haben 
wir  für  das  Erstere  gar  keinen ,  für  das  Letztere  keinen  weiteren 
Beleg  aus  den  Schriftstellern  aufzuführen,  als  die  im  vorigen  Kapitel 
vorgebrachten. 


38 


Anders  gestaltete  sich  die  Sache  für  diejenigen,  welche  in 
Christus  den  Mensch  gewordenen  Gott  sahen,  sei  es  nun  im  Sinne 
des  Neuen  Testaments  oder  in  irgendwelchem  religionsphilosophischen 
Sinne. 

Wir  haben  im  vorigen  Abschnitt  gesehen ,  dass  ein  Theil  der 
ältesten  Religionsphilosophen,  der  Gnostiker,  in  ihrer  Ansicht  über 
die  Mutter  Christi  mit  den  Ebioniten  zusammentraf.  Ein  anderer 
Theil  nun,  mit  dem  wir  es  hier  vorzugsweise  zu  thun  haben,  leugnete 
entweder  jedes  Verhältniss  Christi  zu  Maria  oder  fasste  es  in  traum¬ 
haft  phantastischer  Weise  auf.  Es  sind  diess  diejenigen  Gnostiker, 
welche  dem  Doketismus  eine  Stelle  in  ihrem  Systeme  eingeräumt 
hatten,  d.  h.  derjenigen  Auffassung,  nach  welcher  Christus  bloss  in 
einem  Scheinkörper  auf  Erden  sich  gezeigt  habe.  Die  Anfänge  dieser 
phantastischen  Ansicht  greifen  noch  ins  erste  Jahrhundert  zurück.  * 

Hatte  schon  früh  in  den  apostolischen  Zeiten  der,  aus  der 
Apostelgeschichte  *)  berüchtigte,  samaritanische  Gaukler  Simon  Magus 
von  sich  ausgesagt,  dass  er  selber  als  Jesus  scheinbar  gelitten 
habe*  2),  so  behauptete  sein  Schüler  Menander  ungefähr  dasselbe  von 
sich 3).  Diese  beiden  standen  somit  noch  ganz  ausserhalb  des 
Christenthums.  Saturninus  (um  125)  aber,  der  Schüler  des  letzteren, 
stellte  den  Satz  auf:  Der  höchste  Aeon,  Christus,  vong,  sei  ungeboren, 
unkörperlich,  bloss  dem  Scheine  nach  Mensch  geworden  4).  Dasselbe, 
nur  mit  etwas  andern  Worten,  behauptete  Cerdo 5)  (»Christus  sei 
nicht  aus  Maria  geboren,  noch  im  Fleische  erschienen,  sondern 
scheinbar  gewesen«  etc.),  der  Lehrer  des  einflussreichen  Marcäon 
(um  150) 6).  Der  letztere  hat  ein  »Evangelium«  zurechtgemacht, 
cl.  h.  eine  Verstümmelung  des  Lukasevangeliums,  in  welchem  die 
ganze  Jugendgeschichte  Christi  fehlt,  denn  er  lehrte,  Christus  habe 
sich  zu  Kapernaum  plötzlich  in  einem  Scheinkörper  niedergelassen. 
Auch  liess  er  unter  Anderem  die  Stelle  Luc.  VIII,  19:  »Einst  kamen 
seine  Mutter  etc.«  weg,  brachte  bloss  den  folgenden  Vers  20:  »Man 
meldete  ihm:  Deine  Mutter  etc.«  und  schloss  aus  der  Antwort  des 


0  Acta  VIII,  9—24. 

2)  Iren.  haer.  I,  23,  1,  3;  Epiphan.  haer.  XXI,  1. 

3)  »Eadem  dicens,  quae  Simon  ipse;  quidquid  se  Simon  dixerat,  hoc  se 
Menander  esse  dicebat.«  Tertull.  de  praesc.  c.  46. 

4)  Iren.  haer.  I,  24.  1. 

5)  Epiph.  haer.  XLI,  1. 

G)  Iren.  haer.  I,  27,  III,  3,  4.  Epiph,  haer.  XLII. 


39 


Herrn ,  er  habe  eben  damit  seine  Mutter  verleugnet 1).  Apelles, 
Schüler  des  Mareion,  gab  zwar  den  Doketismus  seines  Lehrers  bei¬ 
nahe  vollständig  wieder  auf,  leugnete  aber  doch  den  Zusammenhang 
Christi  mit  Maria.  Er  lehrte:  Christus  habe  nicht  von  der  Jungfrau 
Maria,  nicht  von  Mannes  Samen,  aber  doch  in  Wahrheit  Fleisch 
angenommen.  Als  er  vom  Himmel  auf  die  Erde  gekommen  sei, 
habe  er  aus  den  vier  Elementen,  aus  dem  Kalten  und  Warmen, 
dem  Trockenen  und  Feuchten  sich  einen  Körper  gebildet 2).  Der 
Aegypter  Valentin,  der  um  160  starb,  meinte:  »Jesus  Christus  habe 
seinen  Körper  von  oben  gebracht,  und  sei,  wie  Wasser  durch  einen 
Kanal,  durch  Maria  die  Jungfrau  hindurchgegangen  und  habe  nichts 
von  der  Gebärmutter  der  Jungfrau  genommen3).«  Dass  Barde- 
sanes,  der  um  172  zu  Edessa  wirkte,  sich  an  den  Doketismus 
Valentins  angelehnt  hat ,  geht  aus  der  Apologetik  des  Epiphanius 
gegenüber  seinem  Systeme  hervor4).  Die  Ophiten  endlich,  um 
das  Jahr  150  entstanden,  Hessen  den  himmlischen  Christus  bei  der 
Taufe  des  Johannes  mit  dem  von  einer  Jungfrau  geborenen  Menschen 
Jesus  sich  verbinden 5)  und  verzichteten  daher  auf  den  Doketismus 
wenigstens  insoweit,  als  Maria  dabei  ins  Spiel  kommt. 

Die  gnostischen  Systeme  bewegten  sich,  wie  aus  den  im  Obigen 
angegebenen  Daten  erhellt,  hauptsächlich  innerhalb  des  zweiten  Jahr¬ 
hunderts  und  neigten  sich  im  Verlauf  des  dritten  schon  stark  ihrem 
Verfalle  zu,  wie  schon  früher  bemerkt  wurde. 

Der  Doketismus  jedoch  bildete  auch  einen  Bestandteil  eines 
neuen  Systems,  das  in  der  zweiten  Hälfte  des  dritten  Jahrhunderts 
in  Persien  entsprang  und  nach  seinem  Stifter,  dem  persischen 
Charlatan  Manes,  den  Namen  Manichäismus  erhielt. 

Es  sind  uns  sehr  interessante  Akten  einer  Disputation,  die  um 
das  Jahr  277  zwischen  Manes  und  Archelaus,  Bischof  von  Kaskar 
in  Mesopotamien,  stattgefunden  hat,  in  einer  alten  lateinischen 
Uebersetzung  aufbewahrt.  Ihre  Aechtheit  ist  zwar  nicht  über  jedes 
Bedenken  erhaben,  wir  theilen  aber  dennoch  den  bezüglichen  Ab¬ 
schnitt  mit ,  weil  darin  ein  Doket  redend  eingeführt  und  das 


0  Epiph.  haer.  XLII,  11. 

2j  Epipli.  haer.  XLIV,  2. 

3)  Epiph.  haer.  XXXI,  7 ;  vgl.  Ihid.  4;  Iren.  haer.  I,  7,  2;  Hippol.  Phil.  "VI,  35,  36. 

4)  Epiph.  haer.  LVI,  2. 

r>)  Iren.  haer.  I,  30,  11,  12. 


40 


exegetische  Verfahren  des  Doketismus  anschaulich  geschildert  wird. 
Manes  spricht:  »Jesus  ....  erschien  zwar  in  Gestalt  eines  Menschen, 
war  jedoch  kein  Mensch.«  Archelaus  fragt  darauf:  »Also  glaubst 
du  nicht,  dass  er  aus  Maria,  der  Jungfrau  sei?«  Manes:  »Ferne 
sei  es  von  mir,  zuzugestehen,  dass  unser  Herr  durch  die  natür¬ 
lichen  Organe  des  Weibes  (vom  Himmel)  herabgekommen  sei;  denn 
er  selbst  gibt  Zeugniss  davon ,  dass  er  aus  dem  Schoosse  des 
Vaters  herabgekommen  sei  ...  .  So  Einer,  wie  du,  sagte  einst  zu 
ihm:  Maria,  deine  Mutter  und  deine  Brüder  stehen  draussen.  Das 
hat  aber  der  Herr  nicht  gut  aufgenommen,  sondern  den,  der’s 
gesagt  hatte,  hart  angelassen  mit  den  Worten:  Wer  ist  meine 
Mutter  und  wer  sind  meine  Brüder?  Und  er  hat  dargethan,  dass 
diejenigen,  welche  seinen  Willen  thun,  ihm  Mütter  und  Brüder  seien. 
Wenn  du  aber  behaupten  willst,  dass  Maria  seine  Mutter  sei,  so 
kannst  du  diess  nicht  ohne  Gefahr  für  dich.  Denn  ohne  Zweifel 
wird  auch  gezeigt,  dass  er  Brüder  aus  ihr  gehabt  habe.  Nun  sage, 
ob  diese  von  Joseph  gezeugt  seien,  oder  von  demselben  heiligen 
Geiste.  Ist  das  Letztere  der  Fall,  so  haben  wir  auch  viele  Christus. 
Sind  sie  nicht  von  demselben  heiligen  Geiste,  behauptest  du  aber 
dennoch,  dass  er  Brüder  gehabt  habe,  so  ist  diess  ohne  Zweifel  so 
zu  verstehen,  dass  nach  dem  heiligen  Geiste,  nach  Gabriel,  die 
keuscheste  und  unbefleckte  Jungfrau  den  Joseph  geheirathet  habe. 
Wenn  nun  auch  das  durchaus  absurd  ist,  dass  ihr  Joseph  bei¬ 
gewohnt  habe,  so  sage,  ob  er  (Christus)  Brüder  gehabt  habe.  Oder 
bürdest  du  ihr  gar  das  Verbrechen  des  Ehebruchs  auf?  ....  Wenn 
nun  nichts  hievon  der  makellosen  Jungfrau  zukommt,  woher  willst 
du  die  Beweise  dafür  nehmen,  dass  er  Brüder  gehabt  habe?  Wenn 
du  diess  nicht  beweisen  kannst,  wie  kann  dann  Maria  seine  Mutter 
sein,  wie  jener  behauptet,  der  zu  schreiben  gewagt  hat :  Siehe,  deine 
Mutter  und  Brüder  stehen  draussen.  Wenn  nun  auch  jener  das  zu 
sagen  gewagt  hat,  so  kann  doch  Niemand  mächtiger  oder  grösser 
sein,  als  derjenige  selber,  welcher  uns  seine  Mutter  und  Brüder  ge¬ 
zeigt  hat.  —  Aber  auch  einen  Sohn  Davids  will  er  sich  nicht  nennen 
hören.  Der  Apostel  Petrus,  der  hervorragendste  aller  seiner  Schüler, 
konnte  ihn  doch  damals  kennen.  Als  jeder  seine  Meinung  über  ihn 
äusserte,  sprach  Petrus:  Du  bist  Christus,  der  Sohn  des  lebendigen 
Gottes.  Christus  pries  ihn  sofort  selig  und  sprach:  Das  hat  dir 
mein  himmlischer  Vater  geoffenbart.  Sieh,  welch  ein  Unterschied 
in  den  Antworten  Jesu!  .Jenem,  welcher  gesagt  hatte:  Siehe,  deine 


41 


Mutter  und  Brüder  stehen  draussen,  antwortete  er:  Wer  ist  mir 
Mutter  und  Brüder  etc.,  dem  aber,  welcher  sagte:  Du  bist  Christus  etc., 
erwidert  er  mit  Heil  und  Segen.  Lassest  du  ihn  darum  von  Maria 
geboren  werden,  so  lügt  er  selbst  mit  Petrus;  sagt  aber  Petrus  die 
Wahrheit,  so  hat  natürlich  jener  andere  (im  Evangelium)  gelogen. 
Hat  dieser  gelogen,  so  ist  der  Grund  beim  Schriftsteller  (Evangelisten) 
zu  suchen«  .  .  .  .  *). 

Von  diesem  Disputationsprotokoll  übrigens  abgesehen  bezeugt  auch 
der,  bei  Epiphanius  aufbewahrte,  Brief  des  Manes  an  Marcellus,  sowie 
die  Darlegung  und  Bekämpfung  der  ganzen  Manichäischen  Häresie 
durch  den  genannten  Kirchenvater,  dass  das  System  den  Doketis- 
mus  in  sich  aufgenommen  habe 2). 

Der  Manichäismus  hatte  ein  sehr  zähes  Leben;  er  zählte  bei¬ 
spielsweise  noch  den  h.  Augustin  eine  Zeit  lang  zu  seinen  Anhängern 
und  überdauerte  auch  diesen  Kirchenvater  noch  lange.  Einige  Aus¬ 
züge  aus  dem  Buche  des  letzteren  gegen  seinen  Zeitgenossen,  den 
Manichäer  Faustus,  charakterisiren  auch  ihrerseits  das  Verhalten 
dieses  Systems  zu  Maria.  Faustus  sagt  z.  B.:  mit  Unrecht  lade 
man  dem  Matthäus  den  Trug  auf,  als  ob  er  den  Sohn  Gottes  in 
die  Gebärmutter  eines  Weibes  eingeschlossen  hätte.  In  seinem 
Stammbaum  spreche  er  nur  vom  Sohne  Davids,  erst  nach  der 
Taufe  werde  Jesus  als  Sohn  Gottes  erklärt.  »Du  siehst  also,  dass 
das,  was  dreissig  Jahre  vorher,  wie  dem  Lukas  scheint,  von  Maria 
geboren  ist,  nicht  der  Sohn  Gottes  selbst  sei,  sondern  das,  was 
nachher  von  der  Taufe  im  Jordan  geworden  ist.«  »Wenn  euer 
Symbolum  so  beschaffen  ist,  dass  ihr  glaubet  an  Jesum  Christum, 
den  Sohn  Gottes,  der  geboren  sei  aus  der  Jungfrau  Maria,  so 
empfanget  ihr  also  den  Sohn  Gottes  von  Maria,  Matthäus  empfängt 
ihn  vom  Jordan,  wir  (Manichäer)  empfangen  ihn  aus  Gott.«  »Der¬ 
jenige,  welchen  Maria  geboren  hat,  wenn  er  überhaupt  existirte, 
wird  aber  auch  mit  Unrecht  ein  Sohn  Davids  genannt,  wenn  nicht 
feststeht,  dass  er  von  Joseph  erzeugt  sei.«  Denn  der  Stammbaum 
bei  Matthäus  gehe  ja  von  Abraham  durch  David  auf  Joseph  herab, 
nicht  auf  Maria.  Diese  sei  bekanntlich  gar  keine  Tochter  Davids 
gewesen,  sondern  die  Tochter  eines  gewissen  Priesters,  Namens 


') 

*) 

lehrer 


Disp.  S.  Archel.  cum  Man.  V,  2,  c.  NLVII.  Galland.  III. 

Epipb.  haer.  LXVI,  6,  wo  jener  schreibt,  dass  die  gewöhnlichen  Christen- 
„Xptaxöv  Maptag  «vog  uvawög  s'Xe*fov  slvai  tnov  etc.“  S.  auch  Ibid.  26. 


42 


Joachim,  aus  dem  Stamme  Levi.  Um  die  Davidische  Abstammung 
ihres  vorgeblichen  Sohnes  zu  retten,  müsste  man  sie  entweder  für 
Josephs  Frau  oder  Tochter  erklären  1).  — 

Fassen  wir  nun  das  Obige  zusammen,  so  war  also  Maria  nach 
den  doketischen  Lehren  gar  nicht  die  Mutter  Christi.  Entweder  hat 
letzterer  durchaus  keine  Beziehung  zu  ihr,  sondern  ist  gleich  als 
Mann  in  einem  Scheinleib  oder  wirklichen ,  aber  selbstgeschaffenen, 
Leib  auf  der  Welt  erschienen;  oder  aber  er  ist  durch  Maria  als 
Gespenst  bloss  hindurchgegangen,  ohne  Fleisch  von  ihr  anzunehmen; 
oder  endlich  drittens:  Maria  ist  jungfräuliche  Mutter  des  Menschen 
Jesu ,  aber  nicht  Christi.  Die  erstere  Lehre  wird  theils  durch 
Streichen  einiger  Abschnitte,  theils  durch  gewaltsame  Exegese  einiger 
Stellen  im  Evangelium  gestützt  lind  aus  diesem  herausgelesen,  dass 
Christus  selbst  seine  Mutter  verleugne.  Solche  exegetische  Eigen- 
thümlichkeiten  theilt  Tertullian  noch  mehrere  mit,  wie  wir  unten 
sehen  werden. 

Hiegegen  war  nun  die  biblische  Anschauung  zu  vertheidigen. 
Schon  die  Bibel  selbst  wehrt  sich  gegen  die  cloketische  Auffassung, 
wenn  sie  auch  den  Namen  Marias  hiebei  nicht  nennt.  Die  Stelle 
wenigstens  im  Johannesevangelium:  »Das  Wort  ist  Fleisch  gewor¬ 
den«  2)  in  Verbindung  mit  der  Stelle  im  ersten  Johannesbriefe:  »Jeder 
Geist,  der  bekennt  Jesus  Christus,  den  im  Fleisch  gekommenen,  ist 
aus  Gott,  und  jeder  Geist,  der  Jesus  nicht  bekennt,  ist  nicht  aus 
Gott3)«,  wird  so  gedeutet,  dass  damit  gegen  schon  bestehende 
doketische  Meinungen  angekämpft  werde. 

Der  h.  Ignatius  dagegen,  Bischof  von  Antiochien,  der  wahr¬ 
scheinlich  im  Jahre  107  zu  Rom  den  Martyrtod  erlitt,  zieht  die 
Mutter  des  Herrn  ausdrücklich  in  seine  Abwehr  des  Doketismus 
herein.  Er  hebt  hervor,  dass  Christus  »wahrhaft  aus  der  Jungfrau 
geboren«  sei4),  nennt  ihn  »einen  fleischgewordenen  Gott,  sowohl 
aus  Maria,  als  aus  Gott«5)  und  führt  diesen  Gedanken  auch  etwas 
weiter  aus  mit  den  Worten:  »Unser  Gott  Jesus  Christus  wurde  von 
Maria  im  Schoosse  getragen  nach  dem  Rathschluss  Gottes,  einerseits 


')  Contra  Faustum  1.  XXIII,  1—4, 

2)  Job.  I,  14. 

3)  I.  Job.  IV,  2,  3. 

4)  Ep.  ad  Smyrn.  1. 

5)  Ep.  ad  Epbes.  7. 


43 


aus  dem  Samen  Davids,  andererseits  aus  dem  heiligen  Geiste1 2).« 
Wir  bemerken  hier  beiläufig,  dass  uns  die  Ignatiusfrage  nicht  un¬ 
bekannt  ist;  doch  es  thut  hier  nichts  zur  Sache,  ob  einer  der  mit- 
getheilten  Aussprüche,  oder  auch  alle,  aus  dem  ersten  Jahrzehend 
des  zweiten  Jahrhunderts  stammen  oder  ein  paar  Decennien  später 
fallen. 

Wie  Ignatius  bekämpft  auch  sein  Freund  Polykarp,  Bischof  von 
Smyrna,  den  Doketismus  in  seinem  (zwischen  108  und  150  —  so¬ 
weit  gehen  die  verschiedenen  Ansichten  aus  einander  —  geschriebenen) 
Briefe  an  die  Philipper  *).  Doch  nennt  er  bei  dieser  Gelegenheit 
Maria  nicht. 

Desto  häufiger  thut  diess  der,  uns  aus  dem  vorigen  Kapitel 
schon  bekannte,  Schüler  Polykarps,  der  heilige  Irenäus,  sowohl  in 
seiner  Darlegung,  als  auch  in  seiner  ausführlichen  Bekämpfung  der 
gnostischen  Aufstellungen  über  die  Erscheinung  Christi.  Seine  histo¬ 
rische  und  spekulative  Begründung  der  Menschwerdung  gehört  natür¬ 
lich  nicht  hieher,  sondern  nur  die  Stellen,  in  welchen  von  Maria 
die  Rede  ist  und  auch  von  diesen  nur  die  bezeichnendsten.  Bei  der 
Widerlegung  der  Doketen  also  gebraucht  er  Wendungen,  wie  die 
folgenden:  ».  .  .  .  Der  aus  Maria  Geborene  ....  ist  der  Menschen¬ 
sohn  ....  Das  Evangelium  kennt  keinen  andern  Menschensohn 
ausser  dem,  welcher  aus  Maria  ist,  welcher  auch  gelitten  hat,  und 
keinen  Christus,  welcher  vor  dem  Leiden  von  Jesus  davon  geflogen 
ist3).«  »Es  irren  diejenigen,  welche  sagen,  er  habe  nichts  aus  der 
Jungfrau  empfangen  .  .  .  .,  denn  wenn  er  nicht  vom  Menschen  die 
Substanz  des  Fleisches  empfing  .  .  .  .,  wenn  er  nicht  das  geworden 
ist,  was  wir  waren,  so  hat  er  nichts  Grosses  damit  gethan,  dass 
er  gelitten  hat  .  .  .  ,4)«.  »Seine  Herabkunft  in  Maria  wäre  über¬ 
flüssig.  Denn  warum  stieg  er  in  dieselbe  herab,  wenn  er  nichts 
von  ihr  zu  nehmen  beabsichtigte?  Oder  wenn  er  nichts  aus  Maria 
genommen  hätte,  so  hätte  er  niemals  ....  Speisen  genossen,  nicht 
.  .  .  .  vierzig  Tage  gefastet  .  .  .  .5)«  »Wir  haben  gezeigt,  dass  es 
dasselbe  ist  zu  sagen,  er  sei  scheinbar  erschienen,  und  er  habe  nichts 


J)  Ibid.  18.  Vgl.  Ep.  ad  Trall,  9. 

2)  Gap.  7. 

3)  Haer.  III,  16,  5. 

4)  Ibid.  III,  22,  1. 

■')  Ibid.  III,  22,  2. 


44 


t 


von  Maria  empfangen1).«  Etwas  ausführlicher  wird  schliesslich 
bei  Maria  verweilt  in  folgender  Stelle:  »Dieser  Sohn  Gottes,  unser 
Herr,  das  in  die  Erscheinung  tretende  Wort  des  Vaters,  der  Men¬ 
schensohn  ist  Menschen sohn  geworden,  weil  er  aus  Maria,  welche 
von  Menschen  ihr  Geschlecht  herleitet,  welche  ebenfalls 
Mensch  war,  nach  seiner  menschlich en  Natur  abstammt2).« 
Diesen  Stellen  Hessen  sich  noch  mehrere  beifügen,  die  denselben 
Gedanken  ausdrücken,  nemlich  dass  Maria  die  wahre  wirkliche 
Mutter  Christi  gewesen  sei.  Ueberhaupt  ist  durch  das  ganze  Buch 
des  Irenaus  häufig  von  Maria  die  Rede,  mehrmals  werden  Auszüge 
aus  den  Verkünd igungsscenen  bei  Matthäus  und  Lukas  gegeben 
und  alttestamentliche  Stellen  prophetisch  gedeutet  und  zwar  zu  dem 
angegebenen  Zwecke3). 

Näher  auf  die  Sache  geht  Tertullian  ein,  bei  welchem,  wie 
Möhler  sagt,  »das  Faktum  der  göttlichen  Inkarnation  recht  eigent¬ 
lich  die  belebende  Mitte  für  seine  gesammte,  theoretische  und 
praktische  Darstellung  des  Christenthums  bildet4)«.  In  seinem,  um 
210  verfassten,  Buche  »über  das  Fleisch  Christi«  spricht  er  nicht 
nur  so  nebenher  von  Maria  als  der  wirklichen  Mutter  des  Herrn, 
sondern  behandelt  den  Zug  der  Mutterschaft  ausdrücklich  mit 
anatomisch -physiologischer  Gelehrsamkeit  neben  den  exegetischen 
Beweisen,  die  er  dafür  vorbringt. 

»So  oft,  sagt  er,  über  die  Geburt  (Christi)  gestritten  wird, 
behaupten  alle,  welche-  dieselbe,  als  im  voraus  für  die  Wahrheit  des 
Fleisches  in  Christo  entscheidend,  verschmähen,  Gott  selbst  leugne 
seine  Geburt,  weil  er  gesagt  habe:  wer  ist  meine  Mutter  etc.«  Darauf 
erwidert  er:  »Es  hätte  wohl  Niemand  ihm  angekündigt,  dass  Mutter 
und  Brüder  draussen  stehen ,  wenn  er  nicht  gewiss  gewesen  wäre, 
dass  er  Mutter  und  Brüder  habe  und  dass  es  eben  jene  seien ,  die 
er  damals  anmeldete«  5).  Dann  mit  Bezug  auf  die  Stelle  im  Galater¬ 
briefe  IV,  4:  »Geworden  aus  dem  Weibe«  sagt  er:  »Was  ist  das  für 
eine  Winkelzügigkeit  von  euch,  dass  ihr  selbst  die  Präposition  ,ausl 
streichen  und  lieber  eine  andere  gebrauchen  wollet,  die  in  diesem 


0  Ibid.  V,  1,  2. 

2)  Ibid.  III,  19,  3. 

3)  S.  z.  B.  III,  9,  2  u.  10.  2;  16,  2.  3,  4,  5;  23,  7;  IV,  9,  2;  33,  11. 

4)  Patrologie  S.  760. 

5)  De  carne  Chr.  7. 


45 


Fall  in*  der  heiligen  Schrift  sich  nicht  findet.  Durch  die  Jungfrau, 
sagt  ihr,  sei  er  geboren,  nicht  aus  der  Jungfrau,  und  in  der  Gebär¬ 
mutter,  nicht  aus  der  Gebärmutter,  weil  auch  der  Engel  zu  Joseph 
im  Traume  gesprochen  habe:  was  in  ihr  geboren  ist  etc.,  nicht: 
was  aus  ihr  geboren  ist.  Ich  meinte  doch,  wenn  er  auch  ,aus 
ihr‘  gesagt  hätte,  so  hätte  er  damit  ebensogut  auch  ,in  ihr‘ 
gesagt.  Denn  in  ihr  war,  was  aus  ihr  war.  Somit  stimmt  also 
das  ,aus  ihr4  und  ,in  ihr1  zusammen,  weil  aus  ihr  war,  was  in 
ihr  war.  Gut  jedoch  ist  es,  dass  Matthäus  auch  diese  Präposition 
(aus)  gebraucht,  indem  er  die  Abstammung  des  Herrn  von  Abraham 
bis  auf  Maria  durchgeht:  Jakob,  sagt  er,  zeugte  Joseph,  den  Mann 
Mariä,  aus  welcher  geboren  ist  Christus.  Aber  auch  Paulus  legt 
diesen  Grammatikern  Schweigen  auf :  Es  sandte,  sagt  er,  Gott  seinen 
Sohn,  geworden  aus  dem  Weibe.  Heisst  es  also  ,durch‘  das 
Weib,  oder  ,in4  dem  Weibe?  Diess  wenigstens  eindringlicher,  in¬ 
sofern  er  vielmehr  sagt  , geworden4 ,  als  , geboren4,  denn  einfacher 
hätte  er  den  Ausdruck  , geboren4  gebraucht.  Dadurch  aber,  dass  er 
geworden4  sagte,  hat  er  den  Ausspruch:  ,das  Wort  ist  Fleisch  ge¬ 
worden4  bestätigt  und  die  Wahrheit  erhärtet,  dass  das  Fleisch  aus 
der  Jungfrau  geworden  sei.  Uns  unterstützen  auch  in  diesem  Falle 
die  Psalmen ,  nicht  aber  die  des  abtrünnigen ,  häretischen  und  pla¬ 
tonischen  Valentin,  sondern  die  des  heiligen  und  anerkannten  Pro¬ 
pheten  David.  Jener  verkündet  bei  uns  Christum,  durch  welchen 
sich  Christus  selbst  verkündet  hat.  Vernimm  Christum  und  höre 
den  Herrn,  wie  er  sich  mit  Gott  dem  Vater  bespricht:  ,Denn  du 
bist  es,  der  mich  losgerissen  aus  dem  Leibe  meiner  Mutter4  *).  Das 
ist  eine  Stelle.  ,Du  meine  Hoffnung  von  den  Brüsten  meiner  Mutter 
her;  dir  ward  ich  zugeworfen  aus  dem  Mutterschoosse.4  Das  ist  eine 
zweite  Stelle.  ,Und  vom  Leibe  meiner  Mutter  an  bist,  du  mein  Gott.4 
Das  ist  noch  eine  Stelle.  Nun  wollen  wir  den  Sinn  der  Stellen  er¬ 
örtern.  ,Du  hast  mich  aus  dem  Leibe  losgerissen,4  sagt  er.  Was 
wird  losgerissen,  wenn  nicht  das,  was  anhängt,  was  demjenigen  ein¬ 
befestigt  und  eingefügt  ist,  von  dem  es  losgerissen  wird,  um  entfernt 
zu  werden?  Haftete  er  nicht  im  Mutterleibe  fest,  wie  ist  er  los¬ 
gerissen  worden?  Hing  der,  welcher  losgerissen  worden,  an,  wie 
hätte  er  gehaftet,  wenn  er  nicht,  so  lange  er  zum  Mutterleib 
gehörte,  durch  jene  Nabelschnur,  die  gleichsam  eine  Ranke  des 


Ps.  XXI,  10  u.  11  finden  sich  diese  Stellen. 


46 


Mutterkuchens  ist.  seinem  Ursprung  von  der  Gebärmutter  angeknüpft 
war?  ....  Welche  Mutterbrüste  nennt  er  übrigens?  Ohne  Zweifel 
jene,  die  er  gesogen.  Ueber  die  Beschaffenheit  der  Brüste  mögen 
die  Hebammen,  Aerzte  und  Physiologen  Aufschluss  geben,  ob  sie 
auch  aus  anderen  Ursachen  zu  fliessen  pflegen ,  indem  sie  auch 
ohne  Befruchtung  das  auszuscheidende  Blut  durch  die  Adern  auf¬ 
wärts  leiten  und  eben  durch  die  blosse  Ortsveränderung  dasselbe  in 
den  edleren  Milchstoff  verwandeln.  Daher  geschieht  es  sogar,  dass 
zur  Zeit  des  Säugens  die  Katamenien  ausbleiben.  Wenn  aber  das 
Wort  aus  sich  Fleisch  geworden  ist,  nicht  aus  der  Vereinigung 
mit  der  Gebärmutter,  ohne  dass  diese  etwas  mitgewirkt,  gethan,  ge¬ 
litten ;  auf  welche  Weise  ergoss  dann  dieselbe  ihren  Quell  in  die 
Brüste,  welche  sie  ohne  jenes  nicht  ändert?  Sie  konnte  das  Blut 
zur  Zuführung  der  Milch  nicht  haben ,  wenn  sie  nicht  die  Ursache 
des  Blutes  selbst  hatte,  nemlich  die  Losreissung  ihres  Fleisches.  Was 
das  Neue  in  der  Geburt  Christi  aus  der  Jungfrau  gewesen  ist,  liegt 
hiemit  zu  Tage,  nemlich  nur  allein  diess,  dass  er  aus  einer  Jungfrau 
geboren  ist,  dem  Grunde  gemäss,  den  wir  angegeben  haben,  und 
dann  damit  auch  unsere  Wiedergeburt  jungfräulich  wäre,  geistiger 
Weise,  von  allen  Flecken  geheiligt  durch  Christus,  der  selbst  jung¬ 
fräulich  ist,  auch  dem  Fleische  nach,  weil  aus  dem  Fleische  der 
Jungfrau.  Wenn  sie  also  behaupten,  das  sei  eben  das  Neue,  dass 
das  Wort  Gottes,  sowie  nicht  aus  des  Mannes  Samen,  so  auch  nicht 
aus  der  Jungfrau  Fleisch  —  Fleisch  geworden  sei :  wesshalb  soll 
nicht  das  die  ganze  Neuheit  sein,  dass  sein  Fleisch  nicht  aus  Samen 
erzeugt,  aber  dennoch  aus  Fleisch  hervorgegangen  ist?  Ich  will  noch 
näher  auf  den  Kampf  eingehen.  , Siehe,  heisst  es,  eine  Jungfrau 
wird  in  ihrem  Schooss  empfangen.1  Was  denn?  Allerdings  Gottes 
Wort ,  nicht  des  Mannes  Samen ;  sicherlich ,  damit  sie  den  Sohn 
gebäre;  denn  es  heisst  weiter:  ,Und  sie  wird  einen  Sohn  gebären.4 
Also  wie  es  ihres  Wesens  war,  zu  empfangen,  so  ist  auch  ihres 
Wesens,  was  sie  geboren,  obwohl  das,  was  sie  empfangen,  nicht 
ihres  Wesens  war.  Dagegen,  wenn  das  Wort  aus  sich  Fleisch  ge¬ 
worden  ist,  so  hat  es  sich  schon  selbst  empfangen  und  geboren  und 
die  Prophezeiung  ist  nichtig.  Denn  nicht  hat  die  Jungfrau  empfangen 
noch  auch  geboren,  wenn  nicht  das,  was  sie  aus  des  Wortes  Empfäng¬ 
nis  geboren  hat,  ihr  Fleisch  ist.  Wird  aber  nur  dieser  Ausspruch 
des  Propheten  entkräftet  werden?  Oder  nicht  auch  der  Ausspruch 
des,  die  Empfängnis  und  Geburt  der  Jungfrau  ankündigenden,  Engels? 


47 


Oder  nicht  auch  die  ganze  Schrift,  soweit  sie  von  der  Mutter 
Christi  spricht?  Denn  wie  ist  sie  Mutter,  wenn  nicht,  weil  er  in 
ihrem  Schoosse  gewesen?  ,Aber  nichts  (wenden  die  Doketen  ein) 
hat  er  aus  ihrem  Schoosse  empfangen,  was  sie,  in  deren  Schooss  er 
gewesen ,  zur  Mutter  machte.  Zu  diesem  Namen  berechtigt  kein 
fremdes  Fleisch.  Den  Schooss  der  Mutter  spricht  nur  das  Kind 
desselben,  das  Fleisch  an.  Es  ist  aber  nicht  das  Kind  des  Schoosses, 
wenn  es  sich  selbst  geboren  hat.4  Es  wird  also  auch  Elisabeth 
schweigen,  die  den  Propheten  trägt,  das  seines  Herrn  schon  bewusste 
Kind,  und  die  überdiess  vom  heiligen  Geiste  erfüllt  ist.  Denn  ohne 
Grund  spricht  sie  wohl:  , woher  mir  das,  dass  die  Mutter  meines 
Herrn  zu  mir  kommt.4  Wenn  Maria  Jesum  nicht  als  Sohn,  sondern 
als  Gast  im  Leibe  trug,  wie  kann  jene  sagen:  gesegnet  sei  die  Frucht 
deines  Leibes?  Wie  ist  derjenige  Frucht  des  Leibes,  welcher  nicht 
aus  dem  Leibe  hervorgesprosst,  welcher  nicht  im  Leibe  Wurzel  ge¬ 
fasst,  welcher  nicht  derjenigen  angehört,  der  der  Mutterschooss  an¬ 
gehört.  Und  wer  zumal  ist  Frucht  des  Leibes?  Christus.  Oder  wird 
er,  nachdem  er  die  Blüthe  des  Reises,  hervorgegangen  aus  der  Wurzel 
Jesse  ist,  die  Wurzel  Jesse  aber  das  Geschlecht  Davids,  das  Reis 
aus  der  Wurzel  Maria  aus  David,  die  Blüthe  aus  dem  Reis  der 
Sohn  Mariä,  welcher  genannt  wird  Christus,  —  wird  er  etwa  nicht 
auch  die  Frucht  sein?  Denn  die  Blüthe  ist  die  Frucht,  weil  durch 
die  Blüthe  und  aus  der  Blüthe  alle  Frucht  zur  Frucht  sich  ent¬ 
wickelt.  Wie  also?  Sie  sprechen  sowohl  der  Frucht  ihre  Blüthe 
ab,  als  auch  der  Blüthe  ihr  Reis  und  dem  Reis  seine  Wurzel,  damit 
nicht  die  Wurzel  durch  ihr  Reis  das  Eigenthumsrecht  dessen ,  was 
aus  dem  Reis  ist,  das  Eigenthumsrecht  der  Blüthe  und  Frucht  bean¬ 
sprucht.  Wenn  man  nemlich  die  ganze  Stufenleiter  des  Geschlechts 
vom  letzten  bis  zum  ersten  durchgeht,  so  mögen  sie  wissen,  dass 
das  Fleisch  Christi  nicht  nur  der  Maria,  sondern  auch  durch  Maria  dem 
David  und  dem  Jesse  durch  David  anhänge.  Daher  schwört  ihm 
Gott,  dass  diese  Frucht  aus  Davids  Lenden,  d.  h.  aus  der  Nach¬ 
kommenschaft  seines  Fleisches,  ihm  auf  seinem  Throne  folgen  werde. 
Wenn  aus  Davids  Lenden,  um  wie  viel  mehr  aus  Marias  Lenden, 
wegen  welcher  in  Davids  Lenden?«  x) 

Nicht  mit  der  physiologischen  Detailmalerei  Tertullians,  aber 
doch  immerhin  klar  genug,  verficht  Origenes  den  Zug  wirklicher 


b  De  carne  Chr.  20  u.  21. 


48 


Mutterschaft  gegen  die  phantastischen  Widersacher.  Das  geht  schon 
aus  mancher  gelegentlichen  Bemerkung  hervor.  So  sagt  er  in  der 
Vorrede  zu  seinem  Buch  »über  die  Grundlehren«  *) :  »Er  nahm  einen 
Körper  an,  der  unserem  Körper  ähnlich  ist  und  sich  nur  dadurch 
von  demselben  unterscheidet,  dass  er  vom  heiligen  Geist  aus  einer 
Jungfrau  geboren  ist.«  In  seiner  achten  Homilie  zur  Genesis  heisst 
es:  »Christus  ist  das  Wort  Gottes,  aber  das  Wort  ist  Fleisch  ge¬ 
worden.  Ein  Theil  also  in  Christus  ist  von  oben ,  der  andere  aus 
der  menschlichen  Natur  und  dem  jungfräulichen  Mutterleibe  ange¬ 
nommen« *  2).  In  seiner  17.  Homilie  zu  demselben  Buche  macht  er 
zu  der  oben  beim  Zug  der  Jungfräulichkeit  mitgetheilten  Deutung 
des  »jungen  Löwen«  den  Zusatz:  »Hierin  wird  auch  auf  das  Hand¬ 
greiflichste  die  Wahrheit  der  Fleischesannahme  aus  der  Jungfrau 
dargelegt«  3).  In  seiner  sechsten  Homilie  zum  Buch  Exodus  steht: 
». . .  Jesus  Christus,  als  er  Fleisch  aus  der  Jungfrau  Maria  für  unser 
Heil  annahm«  4).  In  seinem  Commentar  zum  Römerbrief  bespricht 
er  den  unterschiedlichen  Gebrauch  der  Präpositionen  »durch«  und 
»aus«  in  der  heiligen  Schrift  und  kommt  hiebei  auch  auf  die  Stelle 
des  Galaterbriefs  »geworden  aus  dem  Weibe«.  Auf  die  aufgewor¬ 
fene  Frage:  warum  der  Apostel  hier  die  Präposition  »aus«  gebraucht 
habe  und  nicht  die  Präposition  »durch«,  antwortet  er:  »Von  jedem 
Menschen  kann  man  sagen,  dass  er  durch  das  Weib  geworden  ist, 
weil  er,  bevor  er  durch  das  Weib  geboren  wurde,  aus  dem  Manne 
den  Anfang  nahm;  von  Christus  aber,  welcher  nicht  aus  dem  Samen 
des  Mannes  den  Ursprung  seines  Fleisches  erhielt ,  wird  mit  Recht 
gesagt,  er  sei  geworden  aus  dem  Weibe.  Denn  ihr  selbst,  d.  h. 
dem  Weibe,  wird  auch  der  erste  Ursprung  des  Fleisches 
zugeschrieben«  5)  ..  ..  Auch  das  Fragment  des  Commentars  zum 
Galaterbrief,  welches  uns  erhalten  ist,  und  worin  ziemlich  ausführlich 
aus  dem  Leben  Christi  nachgewiesen  ist,  dass  er  wahrer  Mensch 
gewesen  sei,  hat  die  Notiz:  »man  muss  also  nicht  auf  diejenigen 
hören,  welche  sagen,  er  sei  durch  Maria  und  nicht  aus  Maria 
geboren«  6).  Schliesslich  findet  sich  noch  im  Commentar  zum 


x)  num.  4. 

2)  hom.  VIII,  9. 

3)  Bd.  II,  p.  108. 

4)  hom.  VI,  1. 

5)  Bd.  IV,  p.  519 

6)  Ihid.  p.  691. 


49 


Johannesevangelium  der  Satz:  »die  Seele  Jesu  ....  nahm  den  Körper 
aus  Maria  an.« 

In  ein  paar  andern  Stellen  macht  Origenes  ausdrücklich  doketische 
Gegner  namhaft.  In  seiner  17.  Homilie  zu  Lukas  z.  B.  knüpft  er 
an  die  Stelle  Luk.  II,  34  an  »als  Zeichen,  dem  man  widersprechen 
wird«.  »Allem,  sagt  er,  was  die  Geschichte  von  dem  Heiland  erzählt, 
wird  widersprochen.  Eine  Jungfrau  ist  seine  Mutter,  —  diesem  wird 
widersprochen.  Die  Marcioniten  widersprechen  diesem  Zeichen  und 
sagen,  er  sei  gar  nicht  vom  Weibe  geboren  1).«  Ebenso  kehrt  er 
sich  in  dem  Gommentar  zum  Johannesevangelium  gegen  Marcion: 
»Ich  aber  meine,  dass  auch  Marcion  die  wahre  Lehre  von  sich  stösst, 
indem  er  seinen  (Christi)  Ursprung  aus  Maria  verwarf  und  behauptete, 
dass  er  nach  seiner  göttlichen  Natur  aus  Maria  nicht  geboren  sei, 
aus  welchem  Grunde  er  auch  wagte,  diese  Stellen  aus  dem  Evan¬ 
gelium  zu  vertilgen  2).«  Endlich  in  dem  Fragment  zum  Titusbrief 
fasst  er  die  verschiedenen  Nüancen  des  Doketismus  zusammen :  Häre¬ 
tiker,  sagt  er,  seien  unter  andern  auch  diejenigen,  »welche  ihn 
(Christus)  zwar  als  Gott  bekennen,  aber  nicht  zugeben,  dass  er  eine 
menschliche  Seele  und  einen  irdischen  Leib  angenommen  habe,  welche 
unter  dem  Scheine  ,  dem  Herrn  Jesus  gleichsam  eine  höhere  Ehre 
anzuthun,  behaupten,  dass  Alles,  was  er  getlian  habe,  mehr  gethan 
zu  werden  schien,  als  wirklich  gethan  wurde,  und  welche  behaupten, 
dass  er  nicht  von  der  Jungfrau  geboren,  sondern  als  Mann  von 
dreissig  Jahren  in  Judäa  erschienen  sei.  Andere  glauben  zwar,  dass 
er  aus  der  Jungfrau  hervorgegangen  sei ,  aber  sie  behaupten  dabei, 
dass  die  Jungfrau  mehr  gemeint  habe  zu  gebären,  als  wahrhaft  ge¬ 
boren  habe.  Sie  versichern  nemlich,  auch  der  Jungfrau  sei  das  Ge- 
heimniss  der  vermeintlichen  Geburt  verborgen  gewesen.«  Er  gibt 
dann  sofort  seinem  Verdammungsurtheil  über  solche  Ansichten  in 
dem  Ausrufe  Ausdruck:  »Wie  sollen  nicht  diese  fern  von  der  Kirche 
zu  setzen  sein?  3)« 

Aus  den  oben  angezogenen  Akten  der  Disputation  des  Manes 
mit  Archelaus  haben  wir  hier  nur  noch  auszuheben,  dass  letzterer 
in  ruhiger  Erwiderung  die  falsche  Exegese  des  erstem  zurückweist. 
Er  erklärt,  jene  angebliche  Verleugnung  der  Mutter  sei  nicht  anders 


b  Bd.  III,  p.  952. 

2)  Bd.  IV,  p.  165. 

3)  Ibid.  pag.  695. 

Lehn  er.  Die  Marienverehrung. 


4 


50 


zu  verstehen,  als  dass  Christus  damit  die  ungelegene  Unterbrechung 
seiner  Berufsthätigkeit  durch  Privatangelegenheiten  habe  bezeichnen 
wollen  *) ,  und  fasst  sich  schliesslich  in  den  Ausspruch  zusammen : 
»Wie  alles  Gesetz  und  alle  Propheten  in  zwei  Worten  bestehen,  so 
beruht  auch  alle  unsere  Hoffnung  auf  der  Geburt  der  seligen  Maria *  2).« 

Auch  Ambrosius  nimmt  bei  Erklärung  der  Lukasstelle  VIII,  21 
»Mutter  und  Brüder  sind  mir  diejenigen  etc.«  die  Gelegenheit  wahr, 
die  doketische  Auslegung  abzuweisen.  Er  sagt,  Christus  habe  mit 
diesem  Ausspruch  nur  seine  eigene  Lehre  befolgt,  dass  man  um 
Gottes  willen  Vater  und  Mutter  verlassen  müsse,  und  so  seinen  Zu¬ 
hörern  ein  Beispiel  gegeben.  »Es  wird  also  hier  nicht  (wie  gewisse 
Häretiker  damit  Fallstricke  legen)  die  Mutter  verleugnet,  welche 
sogar  vom  Kreuze  herab  anerkannt  wird  3),  sondern  der  körperlichen 
Verwandtschaft  wird  der  Vollzug  des  himmlischen  Auftrags  voran¬ 
gestellt  4). « 

Von  Ephräm  dem  Syrer  (f  zwischen  373  und  380)  haben  wir 
rhetorische  Polemiken  gegen  Doketen  und  Marcioniten  u.  s.  w.  Aber 
auch  in  andern  Schriften  von  ihm  werden  ihre  Ansichten  bekämpft. 
So  sagt  er  z.  B.  in  seiner  Rede  über  die  Verklärung  Jesu:  »Er 
(Christus)  wohnte  im  Mutterschoosse  der  Jungfrau,  ohne  an  dem  Miss- 
geruche  der  Natur  Eckel  zu  haben  und  trat  aus  ihr  als  fleisch¬ 
gewordener  Gott  hervor  5)«  ....  »Sie  kannten  ihn  als  Maria’s  Sohn, 
als  den  Menschen,  der  mit  ihnen  in  der  Welt  herumwandelte  6)« 
»Ward  er  nicht  Fleisch,  wozu  wurde  Maria  ins  Mittel  gezogen? 

War  er  nicht  Fleisch,  wen  säugte  Maria?«  7)  .  .  .  . 

Dass  Epiphanius  in  seiner  Bekämpfung  der  Häresieen  für  den 
Zug  wahrer  Muttserschaft  kräftig  eintritt,  lässt  sich  erwarten.  Er 
erklärt  die  Frage  Christi:  wer  ist  meine  Mutter  etc.  ungefähr  so  wie 
Archelaus:  »Damit  verleugnete  er  seine  Mutter  nicht,  sondern  wies 
die  ungelegene  Bemerkung  desjenigen  ab,  der  sie  ankündigte8).« 


0  Disp.  48. 

2)  Disp.  49. 

3)  Joann.  XIX,  26,  27. 

4)  Expos.  Ev.  sec.  Luc.  VI,  36 — 89. 

5)  no.  4. 

6)  no.  5. 

7)  no.  12.  Diese  Stellen  sind  der  Uebersetzung  Zingerle’s  entnommen. 
Kempten  1870.  Bd.  I,  S.  237  fl. 

8)  haer.  XLII,  pag.  326,  ed.  Petav. 


51 


Gegen  die  Manichäer  hebt  er  hervor,  dass  Christus  einen  Körper 
hatte,  »welcher  aus  Maria,  welcher  wahrhaft  geboren  ist1)«,  und 
führt  diesen  Gedanken  in  mehrfachen  Wendungen  weiter  aus.  Z.  B. 
»Er  hat  in  Wahrheit  den  Körper  von  Maria  erhalten,  indem  er  sich 
das  Fleisch  aus  dem  heiligen  Mutterleib  bildete  und  die  menschliche 
Seele  annahm,  und  den  Verstand  und  Alles,  was  zum  Menschen 
gehört,  ausser  der  Sünde,  mit  sich,  mit  seiner  Gottheit  vereinigte  2).« 
»Wir  aber  sagen,  dass  er  sowohl  als  Gott  vom  Himmel  gekommen 
sei,  als  auch  im  Mutterleib  der  Jungfrau  Maria  die  gewöhnliche  Zeit 
der  Schwangerschaft  zugebracht  habe  bis  zur  vollständigen  Mensch¬ 
werdung  3)  .  .  .  .«  »Christus  wurde  in  Wahrheit  geboren  von  Maria, 
der  immerwährenden  Jungfrau,  nahm  den  Körper  in  Wahrheit  an, 
nicht  zum  Scheine ,  Fleisch  in  Wahrheit,  einen  Körper  in  Wahrheit 
mit  Knochen  und  Nerven  und  all  dem  Unsrigen  4).« 

Ghrysostomus  behandelt  den  Gegenstand  in  einer  seiner  Homilien 
zum  Matthäusevangelium.  »Dass  er  (Christus)  aus  dem  Fleisch  der 
Jungfrau  hervorgegangen  ist,  hat  er  mit  den  Worten  erklärt:  »was 
in  ihr  geboren  ist«  5)  und  Paulus  sagt:  »geworden  aus  dem  Weibe.« 
Aus  dem  Weibe,  sagt  er,  indem  er  denjenigen  den  Mund  verstopft, 
welche  behaupteten,  Christus  sei  durch  sie  wie  durch  eine  Art  Canal 
hindurchgegangen.  Denn  wenn  diess  sich  so  verhielte,  was  wäre 
da  der  Mutterleib  nöthig  gewesen?  Wenn  es  sich  so  verhielte,  hätte 
er  nichts  mit  uns  gemeinsam,  sondern  ein  anderes  wäre  jenes  Fleisch, 
nicht  aus  unserer  Masse.  Wie  wäre  er  aus  der  Wurzel  Jesse?  wie 
wäre  er  die  Ruthe,  oder  der  Menschensohn?  wie  die  Blume?  wie 
wäre  Maria  seine  Mutter?  auf  welche  Weise  wäre  er  aus  dem  Samen 
Davids?  wie  hätte  er  Knechtsgestalt  angenommen?  ....  Dass  er 
also  aus  uns,  aus  unserer  Masse  und  aus  dem  Mutterleib  der  Jung¬ 
frau  hervorgegangen  ist,  das  ist  offenbar  aus  dem  Gesagten  und  noch 
aus  sehr  vielem  Anderen  6j.« 

Die  vielbesprochene  Stelle  des  Galaterbriefs  ist  auch  für  Hierony¬ 
mus  der  Anlass,  die  Doketen  zu  korrigiren.  »Gebt  wohl  Acht,  sagt 

b  haer.  LXVI,  87. 

2)  haer.  XX,  pag.  47,  ed.  Pet.  Wiederholt  Anaceph.  p.  1118. 

3)  haer.  XXX,  27. 

4)  haer.  expos.  fid.  15.  Wörtlich  wiederholt  in  Anaceph.  pag.  1135,  1136 
ed.  Pet. 

5)  Matth.  I,  20. 

6)  Hom.  in  Matth.  4,  3. 


er,  (der  Apostel)  hat  nicht  gesagt:  geworden  durch  das  Weib,  wie 
Marcion  und  die  übrigen  Häresieen  wollen,  welche  das  Fleisch  Christi 
fälschlich  als  ein  vermeintliches  bezeichnen,  sondern  aus  dem  Weibe, 
damit  man  glaube,  nicht  er  sei  durch  dasselbe,  sondern  aus  dem¬ 
selben  geboren  x).«  Hieronymus  schliesst  sich  ferner  mit  seiner  Er¬ 
klärung  der  Worte  Christi:  wer  ist  meine  Mutter  u.  s.  w.  ganz  an 
Ambrosius  an.  Nur  nennt  er  die  »Häretiker«  ausdrücklich:  »Er 
verleugnete  also  die  Mutter  nicht  nach  Marcion  und  Manichäus, 
so  dass  man  glauben  müsste,  er  sei  von  einem  Gespenst  geboren, 
sondern  zog  die  Apostel  seiner  Verwandtschaft  vor«  ....*) 

Augustinus  endlich,  der,  wie  oben  erwähnt,  selbst  durch  den 
Manichäismus  hindurchgegangen  war,  bekämpft  die  doketischen  Sätze 
desselben  mit  weitläufiger  Gründlichkeit.  Wir  theilen  nur  Einiges  aus 
seinen  Ausführungen  mit.  In  seinem  Buche  gegen  Faustus  sagt  er  z.  B.: 
Durch  die  ganze  heilige  Schrift  werde  bewiesen,  dass  eben  derselbe  der 
Sohn  Gottes  genannt  werde,  welcher  auch  der  Sohn  Davids  genannt 
werde  wegen  der  Knechtsgestalt,  die  er  aus  der  Jungfrau  Maria,  dem 
Weibe  Josephs,  angenommen  habe.  Aus  Matthäus  selbst  erhelle  das. 
Denn  derselbe,  welcher  im  1.  Vers  des  1.  Kapitels  des  Matthäus¬ 
evangeliums  Sohn  Davids  genannt  werde,  heisse  im  23.  Vers  des  nem- 
lichen  Kapitels  Sohn  der  Jungfrau  und  »Gottmituns«.  Dieser  Name 
»Gottmituns«  sei  doch  nicht  weniger  als  »Gottes  Sohn«.  Ebenso  ver¬ 
stehe  Paulus  unter  dem,  welcher  »göttlicher  Natur«  war  und  »Knechts¬ 
gestalt  annahm« * 2  3),  welcher  »aus  dem  Weibe  geworden«  4)  und 
»welcher  aus  dem  Samen  Davids  entsprossen  sei«  5)  einen  und  eben¬ 
denselben  6).  Dass  es  dem  Faustus  absurd  vorkomme,  den  Sohn 
Gottes  in  eines  Weibes  Mutterleib  einzuschliessen,  komme  daher,  weil 
die  Manichäer  in  ihrer  Beschränktheit  meinen,  die  Katholiken  »schliessen 
den  Sohn  Gottes  so  in  den  Mutterleib  ein,  dass  er  dann  nicht  auch 
ausserhalb  desselben  sei,  dass  er  die  Regierung  Himmels  und  der 
Erde  aufgegeben,  dass  er  sich  vom  Vater  getrennt  habe«  7).  Es  sei 
eine  falsche  Auffassung  der  Natur,  wenn  die  Manichäer  meinen,  den 


')  Comm.  in  epist.  ad  Galat.  II.  4. 

2)  In  Matth,  c.  XII. 

s)  Philipp.  II,  6,  7. 

4)  Galat.  IV,  4. 

5)  II.  Timoth.  II,  8. 

6)  Contra  Faust.  XXIII,  7. 

7)  Ibid.  10. 


53 


Geburtsgliedern  als  solchen  hänge  etwas  Unehrbares  an.  Sie  mögen 
an  I.  Gor.  XII,  22 — 25  denken,  wo  die  richtige  Ansicht  von  allen 
Gliedern  des  menschlichen  Körpers  zu  lesen  sei.  »Um  wie  viel  mehr 
hatten  jene  Glieder  nichts  Schimpfliches  bei  der  heiligen  .Jungfrau 
Maria,  welche  Christi  Fleisch  durch  Glauben  empfing  und  bei  welcher 
diese  Glieder  nicht  einmal  erlaubter  menschlicher  Empfängniss, 
sondern  nur  göttlicher  Geburt  gedient  haben!«  *)  —  Die  Manichäer 
hatten  auch  aus  der  Erwiderung  Christi  an  Maria  auf  der  Hochzeit 
zu  Kana:  »Weib,  was  habe  ich  mit  dir  zu  schaffen?«  gefolgert,  dass 
Maria  nicht  die  Mutter  Christi  sein  könne.  Augustinus  setzt  mit 
ermüdender  Weitschweifigkeit  die  Nichtigkeit  dieser  Folgerung  aus¬ 
einander.  In  dem  kleinen  Abschnitt  kommt  der  Name  Maria  gegen  * 
zwanzigmal,  das  Wort  Mutter  noch  viel  häufiger  vor.  Er  sagt:  der¬ 
selbe  Johannes,  der  jene  Erwiderung  Christi  berichte,  nenne  ja  bei 
der  nemlichen  Gelegenheit  Maria  zweimal  die  Mutter  Christi:  »die 
Mutter  Jesu  war  da«  und  »die  Mutter  Jesu  sagte  zu  ihm«  2).  Man 
müsse  die  Erwiderung  Christi  nur  richtig  verstehen.  Der  Schlüssel 
zum  Verständnisse  liege  in  dem  zweiten  Theil  der  Erwiderung: 
»Meine  Stunde  ist  noch  nicht  gekommen.«  Jesus  sei  im  Begriffe 
gewesen,  ein  Wunder  zu  thun,  also  seine  göttliche  Natur  zu  bethätigen. 
»Maria  aber  war  Mutter  seines  Fleisches,  Mutter  seiner  Menschheit, 
Mutter  der  Schwachheit,  welche  er  unseretwegen  angenommen.« 
Jesus  mache  sie  daher  in  dem  ersten  Theil  seiner  Erwiderung  darauf 
aufmerksam,  dass  sie  mit  seiner  göttlichen  Natur  nichts  zu  schaffen 
habe,  in  dem  zweiten  Theile  weise  er  auf  die  Zeit  hin,  in  welcher 
seine  menschliche  Natur  vorwiegen  und  dann  auch  der  Mutter  ihr 
R.eeht  von  ihm  widerfahren  werde.  Das  sei  die  Zeit  seines  Leidens. 
»Weil  also  jene  nicht  Mutter  seiner  Gottheit  war,  das  Wunder  aber, 
welches  er  zu  wirken  im  Begriffe  stand,  durch  seine  Gottheit  geschah, 
antwortete  er  ihr:  was  habe  ich  u.  s.  w. ,  aber  du  darfst  nicht 
glauben,  dass  ich  dich  als  Mutter  verleugne,  meine  Stunde  u.  s.  w., 


J)  Ibid.  XXIX,  4.  Gegen  diese  falsche  Anschauung  der  Natur  polemisiren 
viele  Kirchenväter,  so  z.  B.  auch  der  Bischof  Atticus  von  Konstantinopel  in  seinem 
um  415  geschriebenen  Brief  an  Cyrill  von  Alexandrien :  »Nam  si  turpe  est.  Deo  in 
virgine  habitare,  turpius  etiam  virginem  facere.  Si  vero  virginem  fingere  contu- 
meliam  esse  non  duxit,  nec  habitare  in  ea  turpitudinem  .judicavit.«  Galland. 
T.  VIII,  p.  662.  S.  auch  Zacchaei  Christiani  et  Apollonii  philos.  Consult.  lib.  I,  c.  10. 
Galland.  T.  IX,  p.  208. 

2)  Joann.  II,  1,  3. 


54 


denn  dort  werde  ich  dich  anerkennen,  wenn  die  Schwachheit,  deren 
Mutter  du  bist,  am  Kreuze  hängt.  Erproben  wir,  ob  das  wahr  ist. 
Als  der  Herr  litt,  wie  derselbe  Evangelist  sagt,  der  die  Mutter  des 
Herrn  kannte  und  der  auch  bei  dieser  Hochzeit  die  Mutter  des  Herrn 
uns  vorführt,  erzählt  er:  Es  war  dort  beim  Kreuze  die  Mutter  Jesu 
u.  s.  w.  x)  Er  empfiehlt  die  Mutter  dem  Schüler,  er  empfiehlt  die 
Mutter,  da  er  vor  der  Mutter  sterben  und  vor  dem  Tode  der  Mutter 
auferstehen  sollte,  er  empfiehlt  als  Mensch  dem  Menschen  den  Menschen. 
Das  hatte  Maria  geboren.  Jene  Stunde  war  nun  gekommen *  2).« 

Die  letzte  Behauptung,  die  wir  oben  (S.  41)  der  Polemik  des 
Manichäers  Faustus  entnommen  haben ,  dass  nemlich  Maria  keine 
Davididin,  sondern  eine  Levitin  sei,  veranlasst  dann  den  h.  Augustin, 
auch  hierauf  ausführlich  zu  antworten.  Doch  bevor  wir  seine  Ansicht 
über  die  Sache  mittheilen,  müssen  wir  etwas  weiter  ausholen. 

Es  gehörte  sowohl  nach  dem  Glauben  der  Juden,  als  der  Christen 
zum  Wesen  des  Messias,  von  David  abzustammen.  Diese  Davidische 
Abstammung  wird  durch  das  ganze  Neue  Testament  und  zwar  auch 
schon  in  seinen  ältesten  Büchern  betont.  Bei  seiner  vaterlosen  Geburt 
war  nur  seine  Mutter  der  Beweis  für  seine  irdische  Herkunft.  Maria 
aber  wird  nirgends  ausdrücklich  Davids  Tochter  genannt,  wenn  man 
nicht  den  Stammbaum  bei  Lukas  so  auslegt,  wie  wir  in  der  Ein¬ 
leitung  (S.  5)  gezeigt  haben.  Diese  Auslegung  war  der  alten  Kirche 
fremd,  man  betrachtete  auch  das  Geschlechtsregister  bei  Lukas  als 
Stammbaum  Josephs,  wie  das  bei  Matthäus,  und  suchte  die  Wider¬ 
sprüche  der  beiden  Stammbäume  auf  andere  Weise  zu  heben.  Der 
erste  3),  welcher  sich  diese  Aufgabe  stellte,  war  der  christliche 
Chronograph  Julius  Afrikanus  im  Anfänge  des  dritten  Jahrhunderts. 
Sein  Auskunftsmittel  war  die  Annahme  einer  Leviratsehe  4).  Nach 
ihm  sind  nemlich  Jakob  (der  Vater  Josephs  bei  Matthäus)  und  Heb 
(nach  gewöhnlicher  Exegese  der  Vater  Josephs  bei  Lukas)  Brüder 
von  derselben  Mutter,  aber  von  verschiedenen  Vätern  her.  Heb 
starb  ohne  Nachkommenschaft,  darum  hatte  sein  Bruder  Jakob  nach 


Ü  Joann.  XIX,  25 — 27. 

2)  In  evang.  Joann.  tract.  9,  cap.  2. 

3)  D.  1).  so  viel  wir  noch  wissen;  dass  vor  ihm  schon  andere  »gewaltsame« 
Versuche  gemacht  worden  seien,  sagt  Euseb.  h.  e.  I.  7. 

4)  Epist.  ad  Aristid.  bei  Euseb.  h.  e.  I,  7.  Vgl.  Quaest..  Euseb.  IV,  ad  Steph. 
bei  Ang.  Mai  sc.  vet.  n.  coli.  I,  S.  21  ff. 


ebräischem  Gesetze  *)  der  Witwe  desselben  Samen  zu  erwecken.  Er 
zeugte  also  mit  ihr  den  Joseph,  aber  im  Namen  seines  Bruders, 
darum  heisst  Joseph  sowohl  ein  Sohn  Jakobs  als  Helis.  Der  Kirchen¬ 
historiker  Eusebius  im  ersten  Drittel  des  vierten  Jahrhunderts  meint : 
Matthäus  gebe  die  wahre  Genealogie  Josephs,  Lukas  aber  eine  andere 
Stammsage,  um  die  verbrecherischen  Nachkommen  Davids  zu  ver¬ 
meiden  2) ;  u.  s.  w.  u.  s.  w.  Niemand  aber  sah  in  den  Genealogieen 
eine  Hindeutung  auf  Maria. 

Trotzdem  wurde  Maria  von  Anfang  an  als  Davididin  betrachtet. 
Aus  dem  Neuen  Testamente  liess  sich  diess  wenigstens  folgern,  da, 
wie  gesagt,  ihr  vaterloser  Sohn  so  häutig  ein  Sohn  Davids  heisst; 
am  meisten  war  es  nahe  gelegt  in  der  Verkündigung  des  Gabriel, 
welcher  Maria  versichert,  dass  Gott  ihrem  von  oben  empfangenen 
Sohne  den  Thron  seines  Vaters  David  geben  werde3).  Von  den 
Kirchenvätern  wird  die  Folgerung  ausdrücklich  gezogen.  Abgesehen 
von  den  gelegentlichen  Hinweisungen,  die  im  bisherigen  Verlauf 
unserer  Untersuchung  schon  vorgekommen  sind,  nennt  Justin  Maria 
»die  Jungfrau,  welche  aus  Davids  ....  Geschlecht  entsprungen  war  4), 
Irenäus  »die  Jungfrau,  welche  aus  dem  Geschlechte  Davids  war«  5). 
Tertullian  sagt:  »die  Jungfrau,  aus  welcher  Christus  geboren  werden 
musste,  musste  ihr  Geschlecht  aus  dem  Samen  Davids  herleiten«, 
denn  die  »Ruthe«  (virga)  aus  der  Wurzel  Jesse  6)  bedeute  Maria  7). 
Origenes  meint,  »Maria  sei  nach  dem  Gesetze  ohne  Zweifel  mit  ihrem 
Stammgenossen  und  Verwandten  (Joseph)  verbunden  worden«  und 
daher  gehe  aus  dem  Stammbaum  bei  Matthäus  ihre  Davidische  Ab¬ 
stammung  hervor.  Elisabeth,  die  aus  Aarons  Geschlecht  sein  solle, 
war  ihre  Verwandte  als  Israelitin  8).  Eusebius  vertritt  dieselbe  An¬ 
sicht.  Er  sagt:  Wenn  die  Evangelisten  den  Joseph  vom  Stamme 


')  Deuter.  XXV,  5. 

2)  Quaest.  Euseb.  III,  ad  Steph.  A.  Mai.  s.  v.  n.  c.  I,  S.  16  ff. 

3J  Luc.  I,  32—35. 

4)  Tryph.  n.  100;  Vgl.  43,  45;  aus  Apol.  32. 

5)  Haer.  III,  21,  5;  Vgl.  16. 

6)  Jesai.  XI,  1. 

7)  Adv.  Jud.  8;  adv.  Marc.  V,  8  und  noch  mehrmals,  z.  B.  adv.  Marc.  III,  17,  20. 
S.  namentlich  auch  den  Schluss  der  oben  aus  Car.  Chr.  20  u,  21  übersetzten 
Stelle:  durch  Maria  dem  David  anhängend;  aus  Marias  Lenden,  wegen 
welcher  in  Davids  Lenden.  S.  47. 

8)  Comm,  in  ep.  ad  Rom.  I,  5. 


Davids  herleiten ,  so  erweisen  sie  hiedurch  auch  die  Abstammung 
Marias  von  David  ....  Denn  nach  Moses  Gesetz  war  es  nicht  erlaubt, 
von  anderswoher  die  Ehegenossen  zu  holen ,  als  aus  dem  eigenen 
Geschlechte  und  dem  eigenen  Stamme,  damit  nicht  das  Erbe  eines 
Geschlechts  aus  dem  einen  in  einen  andern  Stamm  überginge x). 
(Eusebius  denkt  hier  offenbar,  wie  ohne  Zweifel  auch  Origenes,  an 
die  Stelle  Numeri  XXXVI,  7.  Diese  Stelle  gilt  für  Erbtöchter, 
folglich  hielten  die  beiden,  nebenbei  bemerkt,  Maria  für  eine  solche.) 
Elisabeth  war  ihre  Verwandte  als  Israelitin  und  in  geistigem  Sinne, 
als  solche,  welche  eine  ähnliche  Mission  hatte,  da  sie  zur  Mutter  des 
Vorläufers  bestimmt  war.  Dass  die  Evangelisten  Josephs  Stamm¬ 
baum  gaben ,  geschah  nach  hergebrachtem  Schriftgebrauch ,  da  nie 
vorher  das  Geschlecht  eines  Menschen  durch  die  Mutter  beschrieben 
war.  Aehnlich  äussert  sich  Ghrysostomus :  »Es  war  bei  den  Juden 
nicht  Sitte,  die  Genealogieen  der  Frauen  zu  geben,  und  dann  war 
ja  auch  mit  Josephs  Genealogie  der  Zweck  erreicht,  denn  Niemand 
durfte  aus  der  Familie  hinaus  heirathen *  2).  Hilarius  nimmt  in  seinem 
um  355  geschriebenen  Matthäuscommentar  auch  eine  Leviratsehe 
an  und  sagt:  es  habe  nichts  zu  bedeuten,  dass  Josephs  und  nicht 
Marias  Geschlechtsregister  gegeben  wurde,  denn  es  sei  eine  und 
dieselbe  Verwandtschaft  des  ganzen  Stammes  3).  Auch  Epiphanius 
kommt  öfter  auf  die  Sache  zurück.  Er  sagt:  »Aus  David  ist  nach 
der  Geschlechtsfolge  Maria,«  »Christus  ist  dem  Fleische  nach  aus 
Davids  Stamm  geboren,  d.  h.  aus  der  heiligen  Jungfrau  Maria«.  »Er 
war  aus  Davids  Samen  wegen  der  Maria  (8ia.  r?)v  Ma^iav)  4).«  Nicht 
minder  versichert  Cyrill  von  Jerusalem:  »Aus  David  also  war  die 
heilige  Jungfrau  5).«  Augustinus  antwortet  auf  die  betreffende  Be¬ 
merkung  des  Faustus  ebenso  ausführlich  wie  auf  die  übrigen.  Die 
Grundlage  seiner  Beweisführung  bildet  der  »katholische  und  aposto¬ 
lische  Glaube,  dass  unser  Herr  und  Heiland  Jesus  Christus  sowohl 
Sohn  Gottes  sei  nach  seiner  Gottheit,  als  auch  Sohn  Davids  nach 
dem  Fleische«.  Dass  Matthäus  die  Geschlechtsfolge  auf  Joseph  her¬ 
abführe,  beweise  nichts  gegen  die  Davidische  Abstammung  Marias, 

0  Quaest.  ev.  ad  Steph.  1,  7  und  h.  e.  I.  7. 

2)  Hom.  II,  in  Matth.  T.  VII,  pag.  25.  Edit.  Montfaucon.  S.  auch  homil. 
in  Matth.  IV,  3.  oben  S.  51. 

3)  Comm.  in  Matth.  Edit.  Paris  1652,  p.  496,  vgl.  de  trin.  lih.  X. 

4)  Haer.  XXIX,  1,  2,  4. 

5)  Cateches.  XII,  23,  24. 


diese  könne  dessenungeachtet  einer  Ader  Davidischen  Blutes  ent¬ 
sprungen  sein.  Es  sei  schicklich  gewesen,  dass  Joseph,  der  nicht  in 
fleischlicher,  aber  in  um  so  innigerer  geistiger  Ehe  mit  seinem  Weibe 
verbunden  gewesen  sei,  als  Mann  vom  Evangelisten  durch  Mitthei¬ 
lung  seines  Stammbaumes  geehrt  worden  sei  .  .  .  .  »Wir  glauben 
darum,  dass  auch  Maria  zur  Verwandtschaft  Davids  gehört  habe, 
weil  wir  denjenigen  Schriften  glauben,  welche  beides  sagen,  sowohl 
dass  Christus  aus  dem  Samen  Davids  stamme,  als  auch  dass  Maria 
seine  Mutter  gewesen  sei,  und  zwar  nicht  durch  Beiwohnung,  son¬ 
dern  als  Jungfrau.  Wer  daher  sagt,  dass  Maria  nicht  zur  Bluts¬ 
verwandtschaft  Davids  gehört  habe,  der  kämpft  offenbar  gegen  die 
so  hervorragende  Autorität  dieser  Schriften  an  ...  .  Mich  bindet 
daher  das,  was  Faustus  über  die  Abstammung  Marias  aufgestellt 
hat,  dass  sie  einen  Priester,  Namens  Joachim,  aus  dem  Stamme  Levi 
zum  Vater  gehabt  habe,  keineswegs,  weil  es  nicht  kanonisch  ist. 
Aber  wenn  ich  auch  dieses  glaubte,  so  möchte  ich  lieber  sagen, 
dass  auch  Joachim  auf  irgend  eine  Weise  zum  Blute  Davids  gehört 
habe  und  auf  irgend  eine  Weise  aus  dem  Stamm  Juda  in  den 
Stamm  Levi  adoptirt  worden  sei,  entweder  er  selbst  oder  einer  seiner 
Vorfahren,  oder  wenigstens  so  im  Stamme  Levi  geboren  worden  sei, 
dass  er  irgendwelche  Blutsverwandtschaft  von  Davids  Familie  her¬ 
leite.  Dass  so  etwas  geschehen  konnte,  gestehe  Faustus  selber  zu, 
da  er  sage,  Maria  sei  aus  dem  Stamme  Levi,  während  sie  doch 
bekanntlich  in  die  Familie  Davids,  d.  h.  in  den  Stamm  Juda  ver- 
heirathet  worden  sei  und  da  er  ferner  sage,  Christus  könnte  als 
Davids  Sohn  angenommen  werden,  wenn  Maria  die  Tochter  Josephs 
wäre.  Wenn  daher  die  Tochter  Josephs  in  den  Stamm  Levi  gehei- 
rathet  hätte,  so  würde  doch  ein  Sohn  von  ihr,  der  im  Stamme  Levi 
geboren  worden  wäre,  nicht  unpassend  auch  ein  Sohn  Davids  ge¬ 
nannt  werden.  Ebenso,  wenn  etwa  die  Mutter  jenes  Joachim,  welchen 
Faustus  den  Vater  Mariens  nennt,  vom  Stamme  Juda  und  dem  Ge- 
schlechte  Davids  in  den  Stamm  Levi  geheirathet  hätte,  so  würde 
nicht  mit  Unrecht  Joachim  und  Maria  und  der  Sohn  Marias  auch 
so  in  Wahrheit  noch  dem  Samen  Davids  zugeschrieben  werden. 
Dieses  also,  oder  etwas  dem  Aehnliches  würde  ich  lieber  annehmen, 
wenn  ich  durch  die  Autorität  jener  apokryphen  Schrift  J),  wo  Joachim 


’)  Diess  ist  die  gnostische  „fsvva  Mapioc S.  Tischendorf,  Evang.  apocr.  ed.  II. 
Proleg.  pag.  XXIII,  Anm.  2. 


58 


der  Vater  Mariens  heisst,  mich  bestimmen  liesse,  als  glauben,  dass 
das  Evangelium  lüge,  in  welchem  geschrieben  steht,  dass  Jesus 
Christus,  der  Sohn  Gottes,  unser  Heiland,  nach  dem  Fleische  aus  dem 
Samen  Davids  und  durch  die  Jungfrau  Maria  geboren  sei  *).  Uebri- 
gens  sei  die  Verwandtschaft  Marias  mit  dem  priesterlichen  Stamm 
ebenso  gewiss,  da  ja  Elisabeth,  eine  Tochter  Aarons,  ihre  Verwandte 
gewesen  sei,  und  die  Verschiedenheit  der  beiden  Genealogieen  weise 
darauf  hin,  da  die  eine  von  David  durch  Salomo  den  König,  die 
andere  durch  Nathan  den  Propheten,  also  eine  priesterliche  Person, 
die  Abstammung  Christi  herleite.  In  Maria  sei  daher  das  königliche 
sowohl,  als  das  priesterliche  Blut  geflossen,  was  ganz  in  der  Ord¬ 
nung  sei,  da  ihrem  Sohne  sowohl  das  königliche,  als  das  hohen- 
priesterliche  Amt  zukomme *  2).  — 

Gegen  den  Doketismus  der  Gnostiker  und  Manichäer  also  musste 
die  wirkliche  physische  Mutterschaft  Mariens  vertheidigt  werden  und 
wurde,  wie  wir  gesehen  haben,  warm  vertheidigt.  Begreiflich.  Denn 
erstlich  gilt,  den  Kirchenvätern  der  biblische  Bericht  in  vollem  Sinn 
als  Geschichte,  und  zwar  als  göttlich  beglaubigte  Geschichte,  und 
dann  haben  sie  auch  ihre  wissenschaftlichen  Gründe  für  die  Ueber- 
zeugung  von  dem  genannten  Zuge.  Der  Erlöser  musste,  wie  wir 
im  vorigen  Kapitel  gesehen  haben,  im  vollen  Sinne  Mensch  sein, 
und  konnte  das  nur,  wenn  er  auf  demselben  Wege  Mensch  wurde, 
wie  jeder  andere  Mensch,  den  Ursprungskeim  ausgenommen,  da  er 
ebenso,  im  vollen  Sinne  Gott  sein  musste.  Er  musste  von  einer 


!)  Contra  Faust.  XXIII.  5 — 9. 

2)  De  div.  quaest.  9.  61  und  De  cons.  evang.  II,  2.  Das  Verwandtschafts- 
verhältniss  der  Maria  und  Elisabeth  beschäftigte  auch  andere  Kirchenväter. 
Epiphanius  haer.  78,  13  z.  B.  meint:  Maria  war  mit  Elisabeth  doppelt  verwandt. 
Die  beiden  Phylen  (Juda  und  Levi)  vermischten  sich  allein  mit  einander,  die 
königliche  mit  der  priesterlichen,  die  priesterliche  mit  der  königlichen.  So  nahm 
zur  Zeit  des  Auszugs  aus  Aegypten  Naasson,  der  Häuptling  des  Stammes  Juda, 
die  Elisabeth,  die  ältere  Tochter  des  Aaron  zur  Frau,  Exod.  VI,  23.  (Die  Sache 
ist  beinahe  umgekehrt;  Aaron  nahm  die  Elisabeth,  die  Schwester  des  Naasson 
zur  Frau.)  »Daher  misskennen  viele  von  den  Häresieen  die  Genealogie  Christi 
und  glauben  nicht  daran  und  meinen,  sie  widerstreite  der  Wahrheit,  indem  sie 
sagen :  Wie  kann  die  von  dem  Stamme  David  und  Juda  Abstammende  verwandt 
sein  mit  Elisabeth,  der  vom  Stamme  Levi ?«  Ja,  schon  »die  Testamente  der  zwölf 
Patriarchen«,  eine  apokryphe  Schrift,  die  aus  dem  Ende  des  ersten,  oder  Anfang 
des  zweiten  Jahrhunderts  stammt,  spricht  davon  (c.  VII),  dass  der  Herr  aus  Levi 
stamme  als  Hohenpriester,  und  aus  Juda  als  König. 


59 


Tochter  Adams  geboren  werden,  weil  er  nur  so  die  ganze  Mensch¬ 
heit  vor  und  nach  ihm  erlösen  konnte  (um  jetzt  eine  weitere  Be¬ 
ziehung  der  Irenäusstelle,  die  wir  oben  S.  30  mitgetheilt  haben,  bloss- 
zulegen).  Maria  ist  diese  Tochter  Adams  und  ist  als  Mutter  des 
Erlösers  »für  sich  und  das  ganze  Menschengeschlecht  (das  vor-  wie 
nachchristliche)  zur  Ursache  des  Heiles  geworden«  *).  Maria  ist 
daher  erstens  die  physische  Vermittlerin  zwischen  Gottheit  und 
Menschheit.  »Gottes  Natur  ist  in  die  Natur  des  Menschen  aus  der 
Geburt  der  Jungfrau  geboren  worden *  2).« 

Weiter  musste  der  Erlöser  nicht  bloss  Sohn  Adams,  sondern 
auch  Sohn  Davids  sein;  das  gehörte  namentlich  auch  zu  seiner 
historischen  Beglaubigung,  und  das  konnte  er,  da  er  keinen  irdischen 
Vater  hatte,  nur  durch  seine  Mutter,  die  Davididin  Maria  sein.  Maria 
ist  also  zweitens  der  Beweis  für  die  davidische,  die  königliche  Ab¬ 
stammung  des  Erlösers. 

Durch  ihre  Verwandtschaft  mit  dem  priesterlichen  Geschlecht 
der  Elisabeth  endlich  führt  sie  ihrem  Sohne,  den  neben  der  könig¬ 
lichen  die  hohenpriesterliche  Würde  ziert,  auch  priesterliches  Blut  zu. 

Der  Zug  der  Mutterschaft  ist  hiemit  historisch  und  philosophisch 
begründet  und  wird  von  den  Häresieen,  welche  nach  Ueberwindung 
des  Gnosticismus  auftauchen,  auch  nicht  mehr  in  Frage  gestellt.  Die 
weitere  Entwickelung  zeigt  darum  keinen  Kampf  um  die  Existenz 
des  Begriffes  mehr.  Dagegen  wächst  derselbe  nach  der  Tiefe  und 
ringt  nach  einer  Formel  oder  einem  Ausdruck,  der  all  das  prägnant 
in  sich  fasst,  was  das  gläubige  Herz  sowohl,  als  der  streitfertige 
Verstand  unter  dem  Begriff  fühlt  oder  denkt. 

Zunächst  nun  zeigt  der  rationalistische  Rückschlag,  den  die 
Vorstellung  von  Christus  im  dritten  Jahrhundert  erfuhr,  die  Erschei¬ 
nung,  dass  Maria  sowohl  von  Freund  als  Feind  wenigstens  beständig 
in  den  dogmatischen  Streit  hereingezogen  wird,  so  dass  sich  unwill¬ 
kürlich  die  Bemerkung  aufdrängt  ,  wo  immer  es  sich  um  Christus 
handelt,  handelt  es  sich  auch  um  Maria,  wenngleich  natürlich  in 
untergeordneter  Weise. 

Die  Häretiker  nemlich,  die  uns  jetzt  beschäftigen,  stellten  den 
gnostischen  Träumereien  die  abstrakte  Einheit  des  göttlichen  Wesens 
gegenüber  und  verwarfen  die  Lehre  von  der  Dreipersönlichkeit  und 


9  S.  oben  S.  29. 

2)  Hilarius,  tract.  in  psalm.  LIV. 


(50 


damit  von  der  Menschwerdung  des  Sohnes.  Die  Consequenz  für 
unsern  Gegenstand  war  eine  Art  Herabsetzung  oder  schiefe  Auffassung 
des  Zugs  der  Mutterschaft. 

Der  Name  dieser  Rationalisten  ist:  Antitrini tarier  oder  Monar- 
chianer  (weil  sie  die  Einheit  Gottes,  ftorap^ia,  so  nachdrücklich  be¬ 
tonten).  Sie  theilten  sich  hauptsächlich  in  zwei  Richtungen.  Die 
Einen  erklärten  Christus  für  einen  zwar  wunderbar  entstandenen, 
aber  dennoch  blossen  Menschen,  in  welchem,  wie  bei  den  Propheten 
des  alten  Bundes  und  bei  gotterleuchteten  Sehern  des  Heiclenthums, 
zweitweilig  eine  göttliche  Kraft  (öüva/iug,  daher  ihr  Name  Dynamiker) 
wirksam  gewesen  sei.  Die  Andern  behaupteten:  der  Eine  (einpersön¬ 
liche)  Gott  hätte  sich  durch  Maria  gebären  lassen  und  er,  der  Vater, 
hätte  für  die  Menschheit  gelitten,  wesswegen  sie  Patripassianer  x) 
heissen. 

Die  Vorläufer  der  erstem  Richtung  reichen  noch  in  das  zweite 
Jahrhundert  hinein.  Schon  die  von  Epiphanius  2)  mit  dem  »amphi- 
bolischen  Spottnamen«  Aloger  belegten  Bekämpfer  des  Montanismus 
bestritten  die  Gottheit  Christi.  Theodotus,  der  Gerber  aus  Byzanz, 
soll  um  das  Jahr  192  seine  Verleugnung  Christi  mit  den  Worten 
entschuldigt  haben :  er  habe  einen  Menschen  verleugnet.  »Jesus  sei 
ein  Mensch,  aus  der  Jungfrau  geboren  nach  dem  Rathschluss 
des  Vaters«,  lässt  ihn  Hippolytus  3)  lehren.  Natalis,  Asklepiades, 
Theodotus  der  Jüngere,  der  Wechsler  4),  Artemon  werden  nach  ein¬ 
ander  als  Häupter  dieser  Schule  genannt;  der  bedeutendste  aber 
war  Paul  von  Samosata,  seit  260  Bischof  von  Antiochien.  Ihm  ist 
Christus  ebenfalls  ein  blosser  Mensch,  nicht  Gottmensch,  jedoch 
wunderbar  von  der  Jungfrau  geboren  5).  »Der  göttliche  Logos 
habe  in  demselben  nicht  persönlich ,  sondern  eigenschaftlich ,  als 
Kraft,  gewohnt,  übrigens  durch  beständige  Durchdringung  ihn  gehei¬ 
ligt  und  des  göttlichen  Namens  würdig  gemacht«  6);  darum  nennt 
er  Christus  auch  »Gott  aus  der  Jungfrau«  7). 


’)  Auch  »Modalisten«,  weil  sie  unter  den  Namen  Vater,  Sohn  und  Geist  nicht 
Personen,  sondern  blosse  Wirkungsarten,  modi,  verstanden. 

2)  Haeres.  LI,  3. 

3)  Philosophum.  VII,  35. 

4)  Ibid.  VII,  36. 

5)  Athanas.  c.  Apoll.  II,  3. 

6)  Hefele,  Concilieng.  I,  S.  116. 

7)  Athanas.  c.  Apoll.  II,  3. 


—  61  — 

Die  Analogieen  dieser  Richtung  mit  dem  alten  Ebionitismus 
springen  in  die  Augen;  ebenso  augenfällig  ist  aber  auch,  dass  ihre 
Vertreter  doch  nicht  mehr  von  einer  Zeugung  auf  dem  natürlichen 
Wege  sprechen  und  die  Jungfräulichkeit  Mariä  nicht  anfechten,  wenn 
sie  auch  die  Gottesmutterschaft  leugnen. 

Praxeas,  Noetus,  Epigonus,  und  vor  Allen  Sabellius  werden  als 
diejenigen  genannt,  die  ebenfalls  theils  am  Ende  des  zweiten,  be¬ 
sonders  aber  in  der  ersten  Hälfte  des  dritten  Jahrhunderts  gelehrt 
haben,  der  Vater  hätte  selbst  dem  Leiden  für  die  Menschheit  sich 
unterzogen.  So  behauptet  Praxeas:  »Der  Vater  selbst  sei  in  die 
Jungfrau  herabgestiegen,  er  selbst  sei  aus  ihr  geboren,  er 
selbst  hätte  gelitten,  kurz  er  selbst  sei  Jesus  Christus1).«  Aehnlich 
spricht  sich  Noetus  aus:  »Es  sei  ein  und  derselbe,  welcher  Vater 
und  Sohn  genannt  werde,  ein  und  derselbe  sei  jener,  welcher  sich 
geoffenbart  und  der  Geburt  aus  der  Jungfrau  sich  unterzogen 
habe  2)«,  »unerzeugt,  wenn  er  nicht  geboren  werde,  erzeugt,  wenn 
er  aus  der  Jungfrau  geboren  werde«3). 

Augenscheinlich  wurden  von  dieser  Richtung,  die  wiederum  mit 
dem  Doketismus  etwas  Analoges  hat,  die  wunderbaren  Verhältnisse 
und  die  hohe  Würde  Mariä  als  Mutter  nicht  angetastet,  aber  schief 
aufgefasst,  indem  sie  für  dieselbe  zur  Mutter  des  Vaters  ward. 

Wie  die  genannten  Häretiker  bei  der  Darlegung  ihrer  Ansichten 
Maria  nicht  umgingen,  so  auch  die  Kirchenväter.  Zum  Beweise  ge¬ 
nügen  ein  paar  Beispiele.  Die  Sache  weiter  zu  verfolgen,  ist  nament¬ 
lich  desswegen  überflüssig,  weil  die  Kirchenväter  bei  der  Bekämpfung 
der  gleich  nachher  zu  besprechenden  Häresieen  häufig  die  Anti- 
trinitarier  mit  darunter  verstanden  und  ihre  Aeusserungen  gegen 
die  Arianer  u.  s.  w.  auch  gegen  diese  gelten. 

Als  direkte  beinahe  gleichzeitige  Erwiderung  gegen  die  Ansicht 
der  Dynamiker  steht  uns  ein  Ausspruch  des  Pabstes  Felix  I.  (269 
bis  274)  zu  Gebote.  In  dem  Fragment  eines  Briefes,  den  er  an 
den  Bischof  Maximus  und  den  Klerus  von  Alexandrien  wegen  Paul 
von  Samosata  sandte,  findet  sich  folgende  Stelle:  »In  Betreff  der 
Fleischwerdung  des  Logos  ....  glauben  wir  an  unsern  Herrn  Jesus 
Christus,  den  aus  der  Jungfrau  Maria  geborenen.  Wir 


fl  Tertull.  adv.  Prax.  c.  1. 

*)  Philos.  IX,  10. 

3)  Ibid.  X,  27. 


glauben,  dass  es  Gottes  ewiger  Sohn  und  Logos  und  nicht  ein  von 
Gott  aufgenommener  Mensch  ist  ....  Sondern  als  vollkommener 
Gott  wurde  er  zugleich  auch  vollkommener  Mensch,  fleisch  ge  wor¬ 
den  aus  der  Jungfrau1)«.  Der  spätere  Epiphanius,  der  in  seinem 
Häresieenwerke  die  Aloger,  die  Theodotianer,  den  Paul  von  Samo- 
sata  mit  eigenen  langen  Kapiteln  bedenkt,  bringt  hierin  sehr  viel 
von  Maria.  Gegen  die  Aloger,  »die  den  von  Johannes  verkündigten 
Logos  nicht  annehmen«,  und  desshalb  das  Johannesevangelium  ver¬ 
warfen,  macht  er  geltend,  dass  die  Evangelisten  sich  gewissermassen 
in  den  zu  erzählenden  Stoff  getheilt  haben  und  so  sich  gegenseitig 
ergänzen  und  weist  diess  namentlich  in  der  Behandlung  der  Kind¬ 
heitsgeschichte  nach,  wobei  begreiflich  der  Mutter  des  Herrn  sehr 
häufig  und  sehr  eindringlich  Erwähnung  geschieht.  Wir  entnehmen 
ihm  nur  ein  paar  charakteristische  Sätze.  (Christus)  »existirte  nicht 
erst  seit  den  Zeiten  Marias2)«,  sondern  »das  Wort  kam  von  oben 
herab  und  nahm  Fleisch  an  von  der  Jungfrau3)«,  »in  deren 
Mutterleib  es  neun ,  nach  Andern  zehn  Monate  getragen  wurde« 4). 
Theodotus  den  Gerber  nennt  er  »einen  von  der  Häresie  der  Aloger 
abgerissenen  Lappen5)«.  Auch  gegen  ihn  bringt  er  die  breite  Aus¬ 
legung  der  Verkündigungsscene  als  Hauptbeweis  und  sagt  z.  B. : 
der  Sohn  der  Maria,  der  Emmanuel  »ist  Gottmensch,  vom  Vater 
gezeugt,  anfangs-  und  zeitlos,  Mensch  von  Maria,  wegen  der 
Ankunft  im  Fleische6)«,  während  er  gegen  Paul  von  Samosata  die 
Mutter  Christi  nicht  in  die  Polemik  verwebt. 

Wird  hier  die  Jungfrau  als  Mutter  eines  von  Ursprung  an 
göttlichen  Sohnes7)  festgehalten,  so  war  den  Patripassianern 
gegenüber  zu  erinnern,  dass  sie  Mutter  Gottes  des  Sohnes,  des 
Wortes  sei. 


Ü  Felic.  I,  frag.  ep.  Galland.  III,  pag.  542. 

2)  Haer.  LI,  12  u.  18. 

3)  Ibid.  20. 

4)  Ibid.  29. 

5)  Haer.  LIV,  1. 

fi)  Ibid.  3. 

')  Es  existirt  ein  Brief,  angeblich  von  Dionysius  von  Alexandrien  (f  265)  an 
Faul  von  Samosata,  in  welchem  Maria  öfters  ttsotoxo?  genannt  wird.  Wäre  der 
Gebrauch  dieses  Wortes  das  einzige  Bedenken  gegen  seine  Aechtheit,  so  hätten 
wir  gar  keines  dagegen.  Einer  muss  einmal  das  berühmte  Wort  zuerst  gebraucht 
haben,  und  wie  Paul  von  Samosata  es  von  den  Orthodoxen  herausforderte,  kann 
Niemanden  entgehen. 


(53 


Diess  thut  denn  auch  der  heilige  Ilippolytus ,  Schüler  des 
Irenaus,  Bischof  einer  schismatischen  Partei  in  Rom  unter  Pabst 
Callixtus,  in  seiner  Schrift  gegen  »die  Häresie  des  Noetus«  (ge¬ 
schrieben  um  230).  »Lasst  uns  also  glauben,  schreibt  er,  liebe 
Brüder,  nach  der  Ueberlieferung  der  Apostel:  dass  Gott,  das  Wort 
(a 6yog)  vom  Himmel  gekommen  ist  in  die  heilige  Jungfrau 
Maria,  um  aus  ihr  Fleisch  zu  wer d e n ,  die  menschliche  Seele 
(die  vernünftige,  mein’  ich)  anzunehmen,  ganz  und  gar  Mensch  zu 
werden  mit  Ausnahme  der  Sünde,  und  so  den  Gefallenen  zu  retten.« 
Ein  wenig  weiter  unten  drückt  er  sich  so  aus:  »Wie  es  also  ver¬ 
kündet  ward,  also  ist  er  erschienen,  ein  neuer  Mensch,  geworden 
aus  der  Jungfrau  und  dem  heiligen  Geiste.  Das  Himmlische 
hat  er  vom  Vater,  als  Wort  (Xdyog),  das  Irdische,  von  dem  alten 
Adam,  dadurch,  dass  er  aus  der  Jungfrau  Fleisch  geworden 
ist1).«  Derselbe  Gedanke  begegnet  uns  auch  in  seinem  Buch  »über 
Christus  und  den  Antichrist«.  »Der  Logos  Gottes,  an  sich  fleisch¬ 
los,  nahm  an  das  heilige  Fleisch  aus  der  heiligen  Jung¬ 
frau2).«  Und  weiter  unten:  »Als  dieser  (Johannes)  den  Gruss  der 
Elisabeth  hörte,  hüpfte  er  jubelnd  auf  im  Leibe  seiner  Mutter,  weil 
er  Gott  den  Logos  im  Leibe  der  Jungfrau  empfangen  sah3).« 
Ja,  einmal  apostrophirt  er  Maria  in  einer  Rede,  von  der  uns  Theo- 
doret  Fragmente  aufbewahrt  hat,  folgendermassen :  »Sage  mir,  o 
selige  Maria,  was  war  das,  was  du  in  deinem  Leibe  empfangen, 
was  war  das,  was  du  in  deinem  jungfräulichen  Schoosse  getragen 
hast?  Das  Wort,  der  Erstgeborene  Gottes  war  es,  der  vom  Himmel 
in  dich  herabkam  u.  s.  f.  4).« 

In  ähnlicher  Weise  wie  Hippolytus  sprechen  sich  auch  Tertul- 
lian  in  seinem  Buch  »gegen  Praxeas«  5)  und  Novatian  in  seinem 
etwa  um  260  geschriebenen  Werke  »über  die  Dreieinigkeit«  G)  aus. 

Wollen  wir  aus  den  obigen  Aeusserungen  der  Kirchenväter  eine 
Formel  für  Maria  ziehen ,  so  erscheint  sie  als  Mutter  des  fleisch¬ 
gewordenen,  von  Ewigkeit  her  erzeugten,  Sohnes  Gottes.  Diese  oder 
eine  ähnliche  Formel  ist  aber,  wie  es  scheint,  im  Kampf  mit  dem 

0  Contra  haeresin  Noeti  17,  vgl.  ibid.  4. 

2)  Demonstratio  de  Christo  et  Antichristo  4. 

3)  Ibid.  45. 

4)  Ex  serm.  in  Elcanam  et  Annam,  Galland.  II,  S.  496. 

3)  Adv.  Prax.  17. 

6)  De  trin.  19  (al.  24). 


04 


Antitrinitarismus  allein  noch  nicht  aufgesetzt  worden;  es  bedurfte 
dafür  einer  weiteren  Entwickelung  der  Lehre  von  Christus,  und  diese 
brachte  erst  das  vierte  Jahrhundert  im  Kampf  mit  dem  meist  ge¬ 
nannten  Häretiker  der  alten  Kirche,  mit  Aldus. 

Der  Arianismus,  soweit  er  für  unsern  Gegenstand  in  Betrach¬ 
tung  kommt,  ist  eine  Fortsetzung  der  rationalistischen  Reaktion 
gegen  die  Trinitätslehre,  aber  nach  einer  andern  Seite,  als  bei  den 
Monarchianern.  Arius  (f  336),  Schüler  des  Priesters  Lucian  von 
Antiochien ,  wo  von  jeher  eine  rationalistische  Richtung  in  der 
Theologie  eingebürgert  war,  konnte  den  Gedanken  einer  »ewigen 
Zeugung«  des  Sohnes  nicht  fassen.  Wenn  der  Logos  gezeugt  ist, 
räsonnirte  sein  »gesunder  Menschenverstand«,  so  kann  er  nicht 
ebenso  ewig  sein,  wie  der  Erzeuger.  Er  ist  vielmehr  ein  Geschöpf 
des  Vaters,  von  dem  Wesen  desselben  verschieden,  aus  dem  Nichts 
gemacht;  freilich  das  vornehmste  Geschöpf,  weil  hervorgebracht  vor 
der  Weltschöpfung  und  zu  dem  Behufe  hervorgebracht,  dass  durch 
ihn  die  Welt  geschaffen  würde.  Er  ist  ein  freies  Wesen  in  dem 
Sinne,  dass  er  sich  für  das  Gute  oder  Böse  entscheiden  konnte. 
Wenn  er  jenes  wählte,  so  ist  dies  das  Verdienst  seines  Willens,  nicht 
seines  Wesens.  Sein  Name  »Sohn  Gottes«  ist  darum  nur  ein  Ehren¬ 
titel,  den  ihm  der  Vater  in  Voraussicht  seiner  Vollkommenheit  gegeben, 
und  bezeichnet  keineswegs  die  Wesensgleichheit  mit  dem  Vater. 

Insoweit  bezieht  sich,  wie  man  sieht,  die  Theorie  des  Arianis¬ 
mus  eigentlich  auf  das  transcendente  Verhältniss  der  beiden  ersten 
Personen  der  Trinität  zu  einander.  Im  engsten  Zusammenhang  da¬ 
mit  steht  begreiflich  seine  Vorstellung  von  der  Person  des  auf  Erden 
wandelnden  Heilandes. 

Dieser  ist  ihm  anfänglich  nicht  mehr,  als  jeder  andere  Mensch. 
Aber  durch  seine,  alle  übrigen  Menschen  überragende,  sittliche  Voll¬ 
kommenheit  hat  er  eine  Art  göttlicher  Würde  erreicht  und  damit 
verdient,  Gottes  Sohn  genannt  zu  werden.  Daher  nahm  auch  Arius, 
durch  die  Empörung  des  christlichen  Gefühls  zu  dieser  Metonymie 
gedrängt,  keinen  Anstand,  ihm  sogar  das  Prädikat  »wahrer  Gott« 
beizulegen.  Athanasius  drückt  den  Gegensatz  zur  Kirchenlehre  bündig 
so  aus:  »Anstatt  zu  fragen,  warum  Christus,  obschon  Gott,  Mensch 
geworden  sei,  fragten  sie,  warum  er,  da  er  Mensch  wäre,  Gott  ge¬ 
worden  sei1).«  Das  Missliche  dieser  Ansicht  —  volle  zeitweise 


!)  De  decret.  Nie.  c.  1. 


05 


Degradation  ihres  Logos  zur  blossen  Menschenseele  —  sahen  die 
Arianer  später  ein  und  lehrten  daher,  der  Logos  habe  sich,  als  er 
auf  Erden  erschien,  nicht  mit  einem  ganzen  Menschen,  sondern  nur 
mit  einem  menschlichen  Leibe  verbunden 1).  Hierin  nähert  sich 
also  der  Arianismus  seinem  spätem  Gegensatz,  dem  Apollinarismus 
(wovon  unten),  trennt  sich  aber  wieder  dadurch  von  ihm,  dass  er 
einen  wirklichen  irdischen  Leib  festhielt,  während  letzterer  das  Fleisch 
Christi  zu  einem  himmlischen  verflüchtigte. 

Diess  dürften  die  Punkte  sein,  worin  der  Arianismus  unsern 
Gegenstand  berührt2).  Der  geschichtsphilosophische  Zusammenhang 
desselben  mit  frühem  Theorieen  ist  für  unsern  Zweck  nicht  von  Be¬ 
lang,  ebenso  überflüssig  wäre  es,  den  verschiedenen  Phasen,  die  er 
das  ganze  vierte  Jahrhundert  hindurch  durchlief,  bis  ins  Einzelne  nach¬ 
zugehen.  Wir  nennen  bloss  die  hauptsächlichsten  Parteiführer,  und  die 
theilweise  nach  ihnen  benannten  Spaltungen  in  der  Häresie  selbst. 

Nachdem  auf  der  ersten  allgemeinen  Synode  von  Nicäa  (325) 
die  »Wesensgleichheit«  des  Sohnes  mit  dem  Vater  ausgesprochen 
war,  drehte  sich  der  fernere  Streit  eigentlich  nur  um  dieses  Wort. 
Wahrscheinlich  ist  es  Eusebius,  Bischof  von  Nikomedien,  der  schon 
bei  seiner  Unterschrift  des  Concils  von  Nicäa  anstatt  des  Wortes 
ojuooi'cnoe  (wesensgleich)  das  Wort  cnoiovcnog  (wesensähnlich)  setzte 
und  durch  diesen  Trug  der  Vater  des  Semiarianismus  wurde,  als 
dessen  Parteihaupt  später  Basilius,  Bischof  von  Ancyra,  galt.  In 
ihren zweideutigen  Bekenntnissen  nähern  sich  die  Halbarianer  der 
orthodoxen  Ansicht  oft  auf  Haarschärfe,  halten  aber  immer  den 
Punkt,  worauf  es  eben  ankommt,  —  Gleichheit  oder  Aehnlichkeit 
des  Wesens  —  in  einer  gewissen  Vagheit.  Doch  lässt  sich  immer 
durchschauen,  dass  sie  den  Sohn  dem  Vater  dem  Wesen  nach  mehr 
oder  weniger  subordiniren. 

Eine  volle  Wesensverschiedenheit  dagegen  behaupteten  Aetius, 
Diakon  von  Antiochien  und  Eunomius,  Bischof  von  Kyzikus  (f  395). 
Letzterer  lehrte:  »Christus  sei  dem  Vater  unähnlich  dem  Wesen 
nach  und  in  Allem.«  Darum  wurde  die  Partei,  die  diese  Ansicht 
zu  der  ihrigen  machte,  Eunomianer  oder  Anomöer  (von  cu’huuog, 


:)  Athan.  adv.  Apoll.  II,  16;  Epipli.  haer.  69,  n.  49  u.  50;  August,  de  haer.  19; 
Theodoret.  dial.  II.  u.  III;  Hefele,  Gone.  I,  S.  238,  A.  4. 

2)  Vgl.  die  beiden  Briefe  des  Bisch.  Alexander  von  Alexandrien  bei  Sokrates, 
h.  e.  I,  6  und  Theodoret,  li.  e.  I,  4. 

Lehner,  Die  Marienverelirung. 


5 


66 


unähnlich)  genannt.  Merkwürdigerweise  wurde  hiebei  dem  Erlöser 
dennoch  das  Prädikat  der  »Göttlichkeit«  gelassen,  freilich  in  dem 
eigenthümlichen  Sinne  eines  Geschenkes  vom  Vater.  Von  dem 
alten  Arianismus  unterscheidet  sich  daher  die  anomöische  Lehre 
besonders  dadurch,  dass  jener  den  Sohn  wegen  seiner  sittlichen 
Grösse  sich  vergöttlichen  lässt,  diese  aber  die  göttliche  Würde  als 
etwas  ihm  Anerschaffenes  darstellt. 

Ein  späteres  Haupt  der  Halbarianer  war  Macedonius,  Bischof 
von  Konstantinopel,  der  nicht  bloss  die  Wesensgleichheit  des  Sohnes 
leugnete,  sondern  auch  die  Gottheit  des  heiligen  Geistes  verwarf. 
Uebrigens  hiessen  schon  dem  Eusebius  von  Cäsarea  die  Worte:  »der 
heilige  Geist  geht  vom  Vater  aus«  ebensoviel,  wie  wenn  ein  Ge¬ 
sandter  von  der  Umgebung  eines  Königs  ausgeht 1).  Die  Anhänger 
des  Macedonius  erhielten  darum  auch  den  Namen  »Pneumatomachen«, 
Gegner  des  heiligen  Geistes. 

Eine  vermittelnde  Stellung  wollte  Photinus,  Bischof  von  Sir- 
mium,  einnehmen,  indem  er,  wie  schon  sein  Lehrer,  Marcellus 
von  Ancyra2),  zwischen  Logos  und  Sohn  eine  Unterscheidung 
machte  (341).  Mit  dem  ersteren  Ausdruck  bezeichnete  er  die  zweite 
Person  der  Trinität  als  »die  im  Vater  einerseits  ruhende,  anderer¬ 
seits  aus  ihm  thätig  hervortretende  Vernunft«  (Bestimmungen,  die 
von  dem  alten  Alexandriner  Philo  stammen);  den  zweiten  Ausdruck 
»Sohn«  wollte  er  nur  für  die  Einwohnung  des  Logos  in  dem  Men¬ 
schen  Jesus  gebraucht  wissen  und  behauptete  darum:  »der  Sohn 
existire  erst  seit  der  Geburt  Jesu  aus  Maria.«  Christus  ist  ihm 
daher  nur  ein  Mensch,  dem  die  in  Thätigkeit  hervortretende  Ver¬ 
nunft  Gottes  ganz  besonders  innewohnt  und  in  ihm  wirksam  ist. 
Wegen  seiner  Tugend  wird  er  von  Gott  verherrlicht  und  zum  Sohn 
adoptirt 3),  aber  er  ist  nicht  Gottmensch. 

Eine  Zwischenstellung  zwischen  Anomöern  und  Halbarianern 
nahm  endlich  Acacius,  Bischof  von  Cäsarea  ein,  indem  er  sowohl 
die  Wesensgleichheit  und  Wesensähnlichkeit,  als  auch  die  Wesens¬ 
verschiedenheit  in  seiner  auf  der  Synode  von  Seleucia  (359)  abge¬ 
gebenen  Glaubensformel  verwarf4)  und,  wie  der  heilige  Hilarius 


')  Möhler,  Athanas.  II,  S.  43. 

2)  Hefele,  Conc.  I,  S.  457. 

3)  Ibid.  S.  612. 

4)  Ibid.  S.  692. 


67 


bemerkt,  sehr  unklar  behauptete:  der  Sohn  sei  zwar  dem  Vater, 
aber  nicht  Gott  ähnlich,  vielmehr  Gott  unähnlich.  Gott  habe  ge¬ 
wollt,  dass  eine  Kreatur  entstehe,  die  dasselbe  wolle,  wie  er; 
darum  sei  der  Logos  ein  Sohn  des  Willens,  nicht  der  Gottheit 
(an  sich)  und  ähnlich  dem  Willen,  nicht  dem  Wesen  Gottes  x). 
Seine  Partei  hiess  nach  ihm  die  Acacianer. 

Wie  schon  angedeutet,  war  beinahe  das  ganze  vierte  Jahr¬ 
hundert  von  den  arianischen  Streitigkeiten  erfüllt.  Synoden  über 
Synoden  wurden  gehalten,  die  Kaiser  mischten  sich  darein,  indem 
sie  bald  die  orthodoxe,  bald  die  arianische  Partei  begünstigten,  mit 
Ausnahme  des  kurzregierenden  Julian ,  dem  natürlich  beide  gleich¬ 
gültig  waren. 

Es  fragt  sich  nun,  w  i  e  hängt  denn  dieser  Meinungskampf  über 
eigentlich  transcendente  Dinge,  da  er  sich  ja  beinahe  ausschliesslich 
um  das  Verhältniss  der  Personen  der  Dreieinigkeit  zu  einander  dreht, 
mit  unserem  Gegenstand  zusammen?  Offenbar  so:  Ist  der  Sohn 
dem  Vater  nicht  wesensgleich,  sondern  untergeordneten  Wesens,  ist 
er  in  irgend  welcher  Auffassung  ein  Geschöpf  desselben,  so  ist  con- 
sequenter  Weise  Maria  nicht  Mutter  einer  fleischgewordenen  Person  der 
göttlichen  Dreieinigkeit,  sondern  Mutter  eines  Geschöpfes,  wenn  auch 
des  vorzüglichsten,  gottähnlichsten,  vor  aller  Welt  hervorgebrachten. 
Ferner  hat  der  Arianismus  ja  nicht  bloss  eine  transcendente,  son¬ 
dern  auch  eine  immanente  Seite,  er  befasst  sich  nicht  allein  mit  der 
Spekulation  über  das  vorweltliche  Wesen  des  Logos,  sondern  hat 
auch  seine  eigene  Ansicht  über  die  Art  und  Weise  seiner  Erschei¬ 
nung  auf  Erden,  indem  für  ihn  Christus,  der  »Gottmensch«,  bald  nur 
die  Verbindung  des  Logos  mit  einem  menschlichen  Leibe,  bald  ein 
blosser,  von  dem  Geiste  Gottes  besonders  erleuchteter  Mensch  ist 
(um  Photins  Ansicht  zu  popularisiren).  Diese  Vorstellung  greift 
also  beinahe  auf  den  alten  Ebionitismus  zurück,  wie  denn  auch  nach 
einer  Nachricht  des  Marius  Mercator,  dem  wir  im  Folgenden  noch 
mehr  begegnen  werden,  Photin  den  Erlöser  geradezu  für  einen  Sohn 
Josephs  und  Mariens  gehalten  haben  soll *  2).  Ja  lange  vor  ihm  ana- 
thematisirte  Pabst  Damasus  (366— 84)  den  Photmus,  »welcher  Ebions 
Häresie  erneuend  den  Herrn  Jesum  Christum  nur  aus  Maria 
bekennt,«  und  »diejenigen,  welche  zwei  Söhne  annehmen,  einen  vor 


')  Hilar.  c.  Const.  irap.  n.  14,  S.  1249,  bei  Hefele  I,  S.  693. 

2)  Mar.  Mercat.  Diss.  de  XII  anath.  Nest.  p.  164. 


—  68  - 

der  Weltschöpfung,  den  andern  nach  der  Fleischesannahme  aus  der 
Jungfrau  *)• 

Es  ist  daher  begreiflich,  dass  in  den  Schriften  und  Gegen¬ 
schriften,  in  den  Diskussionen  auf  den  Synoden,  die  der  Arianismus 
veranlasste,  der  Name  Maria  unzählige  Mal  mitgenannt  werden  musste. 
Wollten  wir  den  Nachweis  im  Einzelnen  liefern,  so  müssten  wir 
geradezu  alle  Kirchenschriftsteller  des  vierten  Jahrhunderts,  die  sich 
auf  die  Frage  des  Arianismus  eingelassen  haben,  der  Reihe  nach 
aufzählen  und  durch  eine  Fluth  von  Citaten  den  Leser  ersticken. 
Da  wir  ohnehin  noch  Gelegenheit  finden  werden,  in  anderem  Zu¬ 
sammenhänge  eine  erkleckliche  Menge  aufzuführen,  die  wir  zum  guten 
Theile  ebenso  hier  verwenden  könnten,  beschränken  wir  uns  darauf, 
ausser  dem  bereits  Angeführten  noch  einiges  Charakteristische  bei¬ 
zubringen. 

Bischof  Zeno  von  Verona  (3(30 — 380)  z.  B.  spricht  von  einer 
Sekte  (wir  brauchen  sie  nach  dem  Obigen  nicht  näher  zu  bezeich¬ 
nen) ,  welche  behauptete:  »Jesus  Christus  habe  vom  Leibe  der 
Jungfrau  Maria  seinen  Anfang  genommen  und  sei  nachher  wegen 
seiner  Gerechtigkeit  Gott  geworden,  nicht  (als  solcher)  geboren *  2).« 
Oder  die  Arianer  gebrauchten  die  Wendung:  »Wenn  er  (der  Sohn) 
sich  in  Maria  herabgelassen,  wenn  er  der  Jungfrau  Leib  erfüllt 
hat,  so  ist  offenbar  etwas  Anderes  aus  ihr  geboren,  als  was  in  sie 
gekommen  war.«  Die  orthodoxe  Erwiderung  hierauf  lautet:  »Vom 
heiligen  Geiste  hat  die  Jungfrau  empfangen  und  das,  was  sie 
empfing,  hat  sie  geboren,  d.  h.  den  mit  seinem  Menschen  vereinigten 
Gott3)«,  oder  wie  der  hl.  Athanasius  sich  ausdrückt:  »Denn  das 
Wort,  welches  von  oben  aus  dem  Vater  auf  unaussprechliche,  un¬ 
erklärliche,  unbegreifliche  Weise  und  von  Ewigkeit  erzeugt  ist,  dieses 
Wort  selbst  wird  hienieden  aus  der  Jungfrau  Maria,  der 
Gottesgebärerin,  geboren,  damit  die  früher  von  unten  Geborenen 
von  oben  wiedergeboren  würden ,  d.  h.  aus  Gott.  So  erhielt  er 
eine  Mutter  auf  Erden,  der  seinen  Vater  im  Himmel  hat4).«  Der 
heilige  Athanasius,  dieser  Hauptvorkämpfer  der  kirchlichen  Vorstel¬ 
lung,  ist  es  besonders,  der  dem  philosophisch -kritischen  Verfahren 

G  Damas.  epist.  III,  ad  Pauliin.  etc.  De  capit.  fid.  c.  Maced;  et  Eunom.  et 
Apoll,  haer.  bei  Galland.  VI,  S.  326. 

2)  Lib.  II,  Tract.  VIII.  De  nativ.  Dom.  cap.  1.  bei  Galland.  V. 

3)  Phoebad.  Agin.  episc.  tract.  de  fide  orth.  c.  Arian.  VIII.  Galland.  V.  S.  262. 

4)  Athan.  de  incarn.  et  c.  Arian.  8,  Bd.  I,  S.  875. 


69 


seiner  Gegner  immer'  die  positiven  Thatsachen  der  Offenbarung  ent¬ 
gegenhält  (ohne  ihnen  übrigens  an  dialektischer  Gewandtheit  nach¬ 
zustehen)  und  daher  stets  aufs  Neue  auf  den  einfachen  Inhalt  des 
evangelischen  Berichtes  zurückkommend,  so  oft  es  sich  um  die 
Menschwerdung  des  Gottessohnes  handelt,  beinahe  nie  versäumt,  die 
Mutter  desselben  zu  erwähnen.  So  kommt,  um  nur  Eines  anzu¬ 
führen,  in  der  kleinen  Schrift,  die  den  Titel  »grössere  Rede  über  den 
Glauben«  führt,  der  Name  Mariä  im  obengenannten  Zusammenhänge 
mindestens  zehn  Mal  vor  x).  Auch  der  heilige  Hilarius,  der  Atha¬ 
nasius  des  Abendlandes,  bedient  sich,  wenn  er  den  Arianismus  be¬ 
spricht,  solcher  Wendungen,  dass  die  heilige  Jungfrau  eine  Stelle 
darin  findet.  »Die  Arianer,  sagt  er,  verwerfen  das  öi-toovcnog  (wesens¬ 
gleich),  weil  sie  glauben,  es  werde  damit  gelehrt,  der  Vater  und  der 
Sohn  seien  eine  Person,  der  Vater  habe  sich  aus  seiner  Unendlich¬ 
keit  in  eine  Jungfrau  herabgelassen* 2).«  Oder  einen  verdächtigten 
Kirchenlehrer  vertheidigend  schreibt  er :  Marcellus  von  Ancyra  »gab 
dem  Gott  Logos  nicht  den  Anfang  aus  der  heiligen  Jungfrau 
Maria,  wie  jene  (die  Arianer)  lehren«  3).  Diese  Beispiele  mögen 
genügen,  um  darzuthun,  wie  die  Kirchenväter,  mochten  sie  die  alba¬ 
nische  Lehre  darlegen  oder  bekämpfen,  immer  den  Namen  Maria 
hereingezogen  haben.  Wie  eigenthiimlich  übrigens  von  den  Arianern 
selbst  bei  der  Verbreitung  ihrer  transcendenten  Begriffe  über  den 
Logos  auf  das  Verhältniss  Mariens  zu  Christus  angespielt  wurde, 
sehen  wir  aus  der  Frage:  »Hattest  du  einen  Sohn,  bevor  du  ge¬ 
barst?«  womit  sie  sich  besonders  gerne  an  die  Frauen  wandten,  um 
sie  für  ihre  Ansicht  über  das  Spätersein  des  Logos  zu  gewinnen  4). 
Es  wollte  nemlich  hiemit  gesagt  sein,  Gott  könne  gar  keinen  Sohn 
haben  im  orthodoxen  Sinne,  sondern  derjenige,  den  man  so  nenne, 
sei  ein  Geschöpf  Gottes,  woraus  dann  natürlich  folgte,  dass  Maria 
nicht  Mutter  eines  göttlichen  Sohnes  sei.  Eben  dahin  zielt  auch  der 
Witz  des  Arianers  Eudoxius :  »Wenn  der  Vater  einen  Sohn  hätte, 
so  müsste  er  auch  eine  Frau  haben  5).«  Es  ist  darum  begreiflich, 
dass  die  von  ihrem  Sohne  unzertrennliche  Persönlichkeit  auch  von 


*)  Sermo  maj.  de  iide,  Galland.  V,  S.  161  ff. 

2)  De  trin.  IV,  4. 

3)  Fragm.  II,  S.  1287.  Vgl.  auch  De  trin.  I.  22;  II,  25. 

4)  Athan.  or.  I,  c.  Arian.  bei  Hefele  I,  S.  246. 

5)  Hilar.  c.  Const.  §.  13. 


70 


den  bald  mehr  orthodoxen,  bald  mehr  arianischen  Synoden  in  ihre 
Glaubensformeln  und  Anathematismen  ausdrücklich  aufgenommen 
wird.  So  steht  der  Artikel  »er  hat  Fleisch  angenommen  aus  der 
Jungfrau«  oder  »er  wurde  geboren  aus  der  Jungfrau«  in  dem  Sym- 
bolum  der  Synode  zu  Antiochien  vom  Jahre  341  (in  encaeniis  = 
bei  der  Kirchweihe)  *).  Und  unter  den,  der  ersten  sirmischen  Formel 
(a.  351)  angehängten,  Anathematismen  finden  sich  folgende:  »Wenn 
Einer  sagt,  der  Unerzeugte  (Vater)  oder  ein  Theil  von  ihm  sei  aus 
Maria  geboren;  wenn  Einer  sagt,  der  Sohn  sei  zwar  vor  Maria 
gewesen  etc.;  wenn  Einer  den  Sohn  Mariens  einen  blossen  Men¬ 
schen  nennt;  wenn  Einer  glaubt,  dass  der  aus  Maria  geborene 
Gottmensch  der  Unerzeugte  (selbst)  sei;  wenn  Einer  behauptet,  erst 
seit  der  Geburt  aus  Maria,  erst  seit  dem  werde  er  Christus  und 
Sohn  genannt  und  habe  Gott  zu  sein  angefangen,  —  der  sei  Ana¬ 
thema *  2).  Endlich  nahm  auch  die  zweite  allgemeine  Synode  zu 
Konstantinopel  (381)  den  Artikel,  der  schon,  wenn  auch  in  etwas 
anderer  Fassung  im  alten  »apostolischen  Symbolum«  stand,  »welcher 
.  .  .  .  Fleisch  annahm  aus  dem  heiligen  Geiste  und  aus  Maria, 
der  Jungfrau«  in  ihr  Glaubensbekenntniss  auf3),  während  das 
nicänische  den  Namen  Mariens  nicht  enthält. 

Wurde  nun  so  durch  die  arianische  Häresie  die  kirchliche  Vor¬ 
stellung  von  Maria  alterirt,  wenn  auch  die  neue  Irrlehre  ebensowenig 
wie  die  meisten  frühem,  sich  unmittelbar  gegen  sie  kehrte;  musste 
sich  in  zweiter  Linie  durch  den  ganzen  Verlauf  der  arianischen 
Streitigkeiten  der  unzertrennliche  Zusammenhang  zwischen  Sohn  und 
Mutter  aufs  Neue  aufdrängen  und  darum  der  Name  und  die  Würde 
der  letzteren  überall  da  im  Munde  geführt  werden,  wo  es  sich  um 
das  Wesen  des  Sohnes  handelte:  so  gab  der  falsche  Gegensatz  des 
Arianismus,  der  apollinaristische  Irrthum  eigentlich  noch  näheren 
Anlass  zu  schiefer  oder  ganz  falscher  Auffassung  des  Verhältnisses 
der  heiligen  Jungfrau  zum  Erlöser  und  damit  ihrer  Bedeutung  und 
Würde,  und  forderte  darum  noch  dringender  zur  Berichtigung  auf. 

Der  Apollinarismus  nemlich  befasst  sich  nicht  mehr  so  fast 


b  Hefele  I,  S.  503.  505,  507,  508. 

a)  Ibid.  S.  619,  620,  263. 

3)  Ibid.  II,  S.  11.  Derselbe  Passus  auch  in  dem  Glaubensbekenntnisse,  das 
ein  Brief  des  Bischofs  Marcellus  von  Ancyra  in  cap.  IV.  enthält.  Galland.  V, 
S.  16  u.  17. 


71 


mit  dem  vorweltlichen  Verhältnisse  der  Personen  der  Trinität,  sondern 
wirft  sich  schon  (und  hiedurch  wird  er  zum  Vorläufer  des  Nestoria- 
nismus)  auf  die  im  engern  Sinn  christologische  Frage:  auf  welche 
Weise  die  göttliche  und  menschliche  Natur  in  Christus  verbunden  seien. 

Apollinaris,  Bischof  von  Loodicea  (ums  Jahr  362)  hatte  nemlich 
als  Gegner  des  Arianismus  in  dem  Bestreben,  die  Einheit  des  Gött¬ 
lichen  und  Menschlichen  in  Christus  recht  hervorzuheben,  die  Theorie 
aufgestellt,  dass,  wie  (nach  Plato)  jeder  Mensch  aus  Leib,  Seele  und 
Geist,  so  auch  die  Persönlichkeit  Christi  aus  drei  Faktoren  bestehe, 
nemlich  aus  Leib,  Seele  und  —  Logos.  Dieser,  die  zweite  Person 
der  göttlichen  Dreieinigkeit,  habe  sich  in  Christus  an  die  Stelle  des 
(menschlischen)  Geistes  gesetzt  und  mit  den  beiden  andern  Faktoren 
zu  einer  eigenthümlichen  Einheit,  dem  Gottmenschen,  verbunden. 
Würde  man  eine  vollständige,  dreitheilige  menschliche  Natur  anneh¬ 
men,  so  hätte  man  zwei  Söhne  Gottes,  zwei  Personen  und  damit 
statt  einer  Dreieinigkeit  eine  Viereinigkeit. 

Es  springt  in  die  Augen,  dass  diesem  »Gottmenschen«  die  volle 
Menschheit  vorenthalten  ist  und  dass  der  Apollinarismus  einen  ana¬ 
logen  Gegensatz  zum  Arianismus  bildet,  wie  der  alte  Doketismus 
zum  Ebionitismus.  Noch  auffallender  wird  diese  Analogie,  wenn 
man  dazu  nimmt,  dass  Polemius,  Schüler  des  Apollinaris,  auch  den 
Leib  und  die  (animalische)  Seele  Christi  mit  dem  Logos  in  eine 
physische  Einheit  Zusammengehen  Hess ,  so  dass  von  den  späteren 
Apollinaristen  auch  das  Fleisch  Christi  für  ewig  erklärt  wurde  x). 
Hiefür  bedienten  sie  sich  der  Formeln:  »wir  sagen,  der  aus  Maria 
(der  ganze  Christus)  ist  gleichen  Wesens  mit  dem  Vater« *  2),  »Gott 
ist  von  einer  Jungfrau  geboren,  nicht  Gott  und  Mensch«  3).  Die 
Polemianer  wurden  darum  auch  Sarkolaträ  (Fleischanbeter)  genannt. 
Ja  ein  Theil  der  Anhänger  dieser  Richtung  huldigte  geradezu  der 
alten  doketischen  Ansicht,  dass  »das  Wort  nur  scheinbar  Fleisch 
angenommen  habe«  4). 

Die  Polemik  der  Kirchenväter  nahm  darum  ganz  consequenter 
Weise  die  Apollinaristen  mit  den  doketischen  Marcioniten  und 
Manichäern  zusammen,  wie  dieses  z.  B.  von  dem  heiligen  Athana- 


3  Greg.  Nyss.  Antirrh.  adv.  Apoll.  XIII,  bei  Galland.  VI,  S.  527. 

2)  Atlian.  c.  Apoll.  I,  10. 

3)  Ibid.  II,  4. 

4)  Ibid.  I,  2  und  III,  3,  4. 


72 


sius  in  seiner  Schrift  gegen  Apollinaris  geschieht.  »Durch  eure,  wie 
ihr  glaubt,  religiöse  Erdichtung,  sagt  er,  leugnet  ihr  entweder  das 
aus  der  Jungfrau  und  Gottesgebärerin  angenommene  Fleisch  oder 
ihr  lästert  die  Gottheit  x).«  Er  führt  sodann  den  Marcion  und  die 
Manichäer  neben  den  Apollinaristen  namentlich  auf  und  entgegnet: 
»Darum  ist  es  Frevel ,  dass  ein  frommer  Mensch  solcher  Wortdich¬ 
tungen  sich  bediene,  es  ist  vielmehr  zu  sagen,  dass  das  Wort, 
welches  von  Ewigkeit  her  dem  Vater  wesensgleich  ist,  in  der  letzten 
Zeit  aus  der  heiligen  Jungfrau  und  Gottesgebärerin  Adams  Bildung 
und  Erschaffung  erneute  und  sich'  zu  eigen  machte,  und  dass  Chri¬ 
stus,  der  von  Ewigkeit  her  Gott  ist,  so  als  Mensch  erschien *  2).« 

Wie  hier  Athanasius  in  seiner  Polemik  gegen  den  Doketismus 
der  Apollinaristen  im  Allgemeinen  ausdrücklich  der  Mutter  Jesu 
gedenkt,  so  versäumt  er  diess  auch  sonst  nicht.  Gegen  die  »Ewig¬ 
keit  des  Fleisches  Christi«  z.  B.  äussert  er  sich  in  derselben  Schrift 
folgendermassen :  »Aber  ihr  sagt,  dass  unerschaffen  (das  Fleisch) 
geworden  sei,  was  (weil  es)  vereinigt  sei  mit  dem  Unerschaffenen 
(dem  Logos).  Es  wird  sich  zeigen,  dass  euer  Irrthum  sich  als 
solcher  erweist.  Denn  die  Verbindung  des  Fleisches  mit  der  Gött¬ 
lichkeit  des  Wortes  leitet  sich  aus  dem  Mutterleibe  her,  denn  von 
daher  hat  das  Wort,  als  es  vom  Himmel  kam,  demselben  (dem 
Fleische)  den  Ursprung  gegeben.  Es  (das  Fleisch)  war  nemlich 
nicht,  bevor  das  Wort  angekommen  war,  oder  vor  der  Gottes¬ 
gebärerin  Maria,  deren  Abstammung  von  Adam,  deren  Geschlecht 
von  Abraham  und  David  sich  herschreibt,  wie  auch  das  ihres  Bräu¬ 
tigams  Joseph.  Denn  sie  waren  zwei  in  einem  Fleische,  wie  es 
geschrieben  steht  3),  nicht  durch  gegenseitige  Vermischung,  sondern 
weil  sie  von  einem  und  demselben  Stamm  ihren  Ursprung  her¬ 
leiteten;  dass  sie  nemlich  unbefleckt  verblieben  sind,  ist  bezeugt.  Es 
wird  also  Christus  in  Bethlehem,  der  Stadt  Juda  geboren,  und  nennt 
den  Joseph  seinen  Vater,  der  denselben  Ursprung,  wie  Maria,  aus 
David  hat« . 4) 

Gegen  Doketismus  und  Sarkolatrie  zugleich  kehrt  sich  in  dem 
Briefe  an  den  korinthischen  Bischof  Epiktet  der  Ausspruch:  »Mensch- 


x)  Ibid.  I,  12. 

2)  Ibid.  I,  13. 

3)  Genes.  II,  24. 

4)  Athan.  c.  Apoll.  I,  4. 


73 


lieh  also  von  Natur  und  wirklich  war  der  Leib  des  Herrn,  welcher 
aus  Maria  hervorging  nach  den  heiligen  Schriften;  wirklich,  sage 
ich,  da  er  derselbe  war,  wie  der  unserige.  Denn  Maria  ist  eine 
Schwester  von  uns,  da  wir  sämmtlich  von  Adam  stammen  x).«  Und 
gegen  die  Unterstellung  der  Viereinigkeit  verwahrt  er  sich  in  der¬ 
selben  Schrift  also:  »Gar  sehr  aber  werden  die  erröthen,  welche 
auch  nur  einmal  gedacht  haben ,  es  könne  anstatt  der  Dreieinigkeit 
eine  Viereinigkeit  werden,  wenn  man  sage,  dass  der  Leib  (Christi) 
aus  Maria  stamme.  Denn  wenn  wir,  sagen  sie,  den  Leib  für  wesens¬ 
gleich  mit  dem  Worte  erklären,  so  bleibt  die  Dreieinigkeit  als  Drei¬ 
einigkeit,  indem  das  Wort  nichts  Aeusserliches  in  sie  hereinbringt; 
wenn  wir  aber  einen  menschlichen  Körper,  aus  Maria  erzeugt,  an¬ 
nehmen,  so  muss  notlnvendig,  da  der  Körper  seiner  (Substanz) 
Wesenheit  nach  etwas  Aeusserliches  ist  und  in  ihm  das  Wort  wohnt, 
statt  der  Dreieinigkeit  wegen  des  Hinzutretens  des  Körpers  eine 
Viereinigkeit  herauskommen *  2).«  Schon  hiedurch  dürfte  klar  geworden 
sein,  wie  Maria  beim  Apollinarismus  mitbetheiligt  war.  Noch  ein¬ 
leuchtender  wird  diess  durch  einige  dem  hl.  Gregor  von  Nyssa  ent¬ 
nommene  Stellen.  Indem  dieser  die  Meinung  von  der  Ewigkeit  des 
Leibes  Christi  ad  absurdum  führen  will,  bedient,  er  sich  folgender 
Demonstrationsweise:  »Wenn  das  Fleisch  ewig  ist,  wenn  das  aus 
Maria  Stammende  (rö  ex  A Iagiag)  vor  Abrahams  Geburt  war,  dann 
ist  die  Jungfrau  älter  als  Nachor;  ja  auch  vor  Adam  ist  Maria. 
Doch  was  sage  ich,  sie  ist  älter  als  die  Zusammenordnung  des  Be¬ 
stehenden,  ja  uranfänglicher  als  die  Weltschöpfung.  Denn  wenn  er 
(der  Sohn)  Fleisch  annahm  in  der  Jungfrau,  das  Fleisch  aber  Jesus 
genannt  wird,  wenn  weiter  durch  den  Apostel  bezeugt  ist,  dass  jener 
vor  dem  All  sei,  so  beweist  offenbar  der  Treffliche  (Apollinaris),  dass 
auch  Maria  mit  der  Ewigkeit  des  Vaters  zusammengedacht  werden 
muss  3).«  Weiter  unten  fährt  er  nach  Anführung  der  Beweisgründe 
seines  Gegners  also  fort:  ».  .  .  .  Er  sagt,  aus  dem  Himmel  sei  der 
Mensch  herabgestiegen,  und  doch  ist  auf  Erden  Maria,  auf  der  Erde 
die  Höhle,  irdisch  die  Krippe.  Und  wie  übersiedelt  jener  uns  den 
Menschen  vom  Himmel  her  auf  die  Erde?  Da  doch  die  ganze 
Schrift  einig  ist  in  Betreff  der  Jungfrau ,  der  Geburt ,  des  Fleisches, 


’)  Athan.  ad  Epictet.  ep.  7,  Bd.  I,  S.  906. 

2)  Ibid.  8. 

3)  Greg.  Nyss.  Antirrh.  adv.  Apoll,  XIII.  Galland.  VI,  S.  527. 


74 


der  Windeln,  der  Mutterbrust,  der  Krippe,  des  menschlichen  Rüst¬ 
zeugs,  sieht  dieser  von  Allem  ab  und  bildet  dem  Logos  einen  andern 
wurzellosen  und  mit  unserer  Natur  nicht  zusammenhängenden  Men¬ 
schen  an  !).«  Ein  paar  Kapitel  später  stellt  er  Maria  noch  mehr  in 
den  Vordergrund:  ».  .  .  .  Wiederum  sage  ich,  es  ist  Maria  vergessen 
worden,  welcher  Gabriel  die  frohe  Botschaft  bringt,  auf  welche,  wie 
wir  glauben,  der  heilige  Geist  herabgekommen  ist,  welche  die  Kraft 
des  Höchsten  überschattet ,  von  welcher  geboren  wird  Jesus  .  .  . ; 
entweder  beweise  er  nun,  dass  nicht  auf  Erden  die  Jungfrau  ist, 
oder  bilde  er  uns  keinen  himmlischen  Menschen.  Er  fürchte  nicht, 
dass  die  weniger  Gebildeten  gegen  das  Göttliche  sich  dadurch  ver¬ 
sündigen  möchten,  dass  sie  bei  der  Annahme  des  Menschlichen  das 
Göttliche  nicht  zugestehen  würden.  Denn  die  Geburt  aus  dem  Weibe 
enthält  das  Menschliche,  die  Jungfräulichkeit  aber,  welche  der  Geburt 
dienstbar  war,  bewies  das  Uebermenschliche *  2).« 

Mit  dem  Vorstehenden  glauben  wir  erwiesen  zu  haben ,  dass, 
wie  bei  den  früheren  häretischen  Ansichten  über  Christus,  so  auch 
bei  den  so  eben  behandelten  Maria  nothwendig  mittelbar  und  un¬ 
mittelbar  in  den  Meinungskampf  verflochten  wurde.  Freilich  haben 
wir  unsere  Belege  grossentheils  nur  gelehrten  Streitschriften  entnehmen 
können  und  es  könnte  darum  scheinen,  dass  die  ganze  Angelegenheit 
mehr  Sache  gelehrter  Controverse  gewesen  sei  und  dass  ihr  die  Masse 
der  Gläubigen  fern  gestanden  habe.  Doch  haben  wir  oben  schon  an¬ 
gedeutet,  dass  die  Verbreiter  der  arianischen  Häresie  sich  alsbald 
an  das  Volk  wandten;  auch  was  wir  über  die  Menge  der  Synoden 
und  die  Theilnahme  der  Kaiser  sagten,  wies  auf  ein  allgemeines 
Interesse.  Nun  wissen  wir  aber  ferner,  das  Arius  seine  Lehren 
unter  Anderem  auch  in  »Lieder  für  Schiffer,  Müller  und  Wanderer« 
kleidete3),  und  der  Kirchenhistoriker  Sokrates  erzählt  uns,  »dass 
in  allen  Familien  ein  dialektischer  Krieg  stattfand«  4),  ja  Gregor  von 
Nyssa  drückt  sich  folgendermassen  aus:  »Alles  in  der  Stadt  ist 
voll  von  solchen,  welche  über  die  unbegreiflichen  Dinge  dogmatisiren, 
die  Strassen,  die  Märkte,  die  Kleidertrödler,  die  an  den  Wechsel¬ 
tischen  Sitzenden,  die  mit  Esswaaren  Handelnden.  Wenn  du  Einen 


*)  Ibid.  XXXIII. 

2)  Ibid.  XXXVII. 

3)  Neand.  Kircheng.  II,  S.  C16. 

4)  Ibid.  S.  627. 


75 


fragst,  wie  viele  Obolen  es  beträgt,  dogmatisirt  er  dir  etwas  vor  über 
das  Gezeugtsein  und  Ungezeugtsein.  Wenn  du  nach  dem  Preise  des 
Brodes  fragst,  antwortet  er  dir:  ,Der  Vater  ist  grösser  als  der  Sohn 
und  der  Sohn  ist  dem  Vater  subordinirtd  Wenn  du  fragst:  ,ist 
das  Bad  schon  fertig'?1  antwortet  er  dir:  ,Der  Sohn  Gottes  ist  aus 
Nichts  geschaffen  1)h<.  Diese  anschauliche  Schilderung  bezieht  sich 
zwar  zunächst  nur  auf  Konstantinopel,  allein  bei  der  allgemein  ver¬ 
breiteten  Dogmatisirsucht  gilt  sie  gewiss  für  jede  bedeutendere  Stadt 
wenigstens  des  Orients.  Wir  dürfen  darum  als  sicher  annehmen, 
dass  die  Kirchenlehrer,  vom  Patriarchen  angefangen  bis  zum  letzten 
Pfarrer  herunter,  übergenug  Anlass  und  Aufforderung  hatten,  mit 
denselben  Argumenten,  wie  in  ihren  wissenschaftlichen  Werken,  sich 
in  Predigt  und  Homilie  an  das  Volk  zu  wenden.  Und  wenn  nun 
das  Volk  auch  bei  diesen  Anlässen  immer  wieder  »Maria«  hörte,  so 
konnte  diess  nur  dazu  beitragen,  das  durch  die  ganze  bisherige  Ge¬ 
schichte  verherrlichte  Bild  der  Mutter  Christi  als  integrirenden  Be- 
standtheil  seiner  Glaubensvorstellungen  immer  tiefer  ihm  einzuprägen. 

Aber  es  blieb  nicht  bloss  bei  dieser  allgemeinen  und  mehr 
sekundären  Wirkung.  Die  Sache  machte  positiv  einen  Schritt  vor¬ 
wärts  durch  einen  Ausdruck ,  der  vielleicht  aus  dem  vorigen  Jahr¬ 
hundert  stammt,  jetzt  aber  den  so  eben  abgehandelten  Häresieen 
gegenüber  in  häufigeren  Gebrauch  kam.  Wir  haben  ihn  oben  schon 
ein  paar  Mal  von  Athanasius  vernommen;  es  ist  der  Titel  »Gottes¬ 
gebärerin«,  der  von  nun  an  der  heiligen  Jungfrau  beigelegt  wird. 
Gleich  Alexander,  Bischof  von  Alexandrien,  bedient  sich  desselben 
in  einem  der  Briefe,  die  er  über  die  Häresie  seines  Priesters  Arius 
an  andere  Bischöfe  richtete:  »Jesus  Christus,  der  wahrhaft  und  nicht 
scheinbar  Fleisch  angenommen  hat  aus  der  Gottesgebärerin  Maria2).« 
Ausser  ihm  hat  das  Wort,  wie  gesagt,  der  heilige  Athanasius  und 
zwar  an  mindestens  zehn  Stellen,  ferner  Eusebius,  der  Geschicht¬ 
schreiber,  die  Gregore  von  Nazianz  und  von  Nyssa,  Chrysostomus, 
Philo,  Bischof  von  Carpasia,  Cyrillus,  Bischof  von  Jerusalem,  Epi- 
phanius  und  Theodor  von  Mopsuestia  3).«  Wir  sprechen  hier  nur 

p  Orat.  de  deit.  fil.  et  spir.  s.  Tom.  III,  f.  466,  bei  Neand.  1.  c.  S.  627,  A.  7. 

2)  Alex,  episc.  Alex.  ep.  de  Arian.  liaer.  c.  XII. 

3)  Athan.  c.  Apoll.  I,  4,  12,  13;  orat.  c.  Arian.  III,  14,  29,  33;  IV,  32;  de 
incarn.  et  c.  Arian.  8,  22.  —  Euseb.  Quaest.  ad  Marinum,  Angelo  Mai,  Vet.  patr. 
nova  coli.  I,  S.  69  ff.  —  Gregor  Naz.  ad  Cledon.  presb.  epist.  I,  ed.  Morell. 
Paris  1630.  I,  S.  758;  orat.  XXXV,  p.  564.  —  Philon.  episc.  Carpas.  enarrat.  in 


76 


von  Schriftstellern  des  vierten  Jahrhunderts  und  wagen  auch  hier 
nicht  den  Anspruch  auf  Vollständigkeit  zu  machen,  da  wir  zwar 
alle  durchgegangen,  aber  nicht  ganz  gelesen  haben.  —  Dieses  Wort 
nun  wird  bald  nur  so  beiläufig  gebraucht,  wie  bei  Athanasius:  »der 
erscheinende  Engel  erklärt,  dass  er  von  dem  Herrn  gesandt  sei, 
wie  diess  Gabriel  dem  Zacharias  und  der  Gottesgebärerin  Maria 
erklärt  hat *) ;«  ....  »welcher  Fleisch  annahm  aus  der  Jungfrau 
Maria,  der  Gottesgebärerin2);«  ....»Johannes  sprang  noch  im 
Mutterleibe  bei  der  Stimme  der  Gottesgebärerin  Maria  vor  Freude 
auf 3) ;«  ....  »das  Fleisch  entstanden  aus  der  Gottesgebärerin 

Maria4):«  ....  »was  vom  Erzengel  zur  Gottesgebärerin  selber  ge¬ 
sagt  worden  ist  5).«  Oder  wenn  Eusebius  die  vier  Marien  des 
Evangeliums  aufzählt  und  die  Gottesgebärerin  von  den  andern  dreien 
unterscheidet  6).  In  andern  Fällen  wird  der  Ausdruck  inniger  in  die 
Polemik  gegen  die  irrigen  Meinungen  verflochten  und  in  bestimmten 
Gegensatz  dazu  gebracht,  wie  wir  diess  oben  gesehen  haben,  und 
wie  auch  noch  folgende  Stelle  zeigt :  »Gott  also  ist  der  aus  der 
Jungfrau  Geborene  und  aus  Maria ,  der  Gottesgebärerin ,  Mensch 
Gewordene  7).«  Eine  dritte  Klasse  von  Stellen  endlich  spricht  von 
dem  Worte  als  einem  noth wendigen  Erforderniss  der  Orthodoxie. 
So  tadelt  Gregor  von  Nyssa  diejenigen  ,  welche  gewagt  hätten ,  die 
heilige  Jungfrau,  die  Gottesgebärerin,  Menschengebärerin  zu  nennen  8), 
und  Gregor  von  Nazianz  stellt  den  Satz  auf:  »Wenn  Einer  Maria 
nicht  als  Gottesgebärerin  annimmt,  der  ist  getrennt  von  der  Gott¬ 
heit 9).«  Plier  ist  die  Sache  zugleich  so  gewendet,  als  ob  es  sich 
hiebei  vorzugsweise  um  einen  Ehrentitel  der  heiligen  Jungfrau  handle, 


cant.  cant.  bei  Gallandi  IX,  S.  738,  746,  751.  —  Gregor.  Nyssen,  de  occursu  Dom. 
III.  Bd.  S.  460  zweimal;  epist.  ad  Ambros.  III.  Bd.  S.  660.  —  Epiphan.  Ancorat. 
c.  75.  —  Cyrill.  Hieros.  Catech.  X,  19.  —  Chrysost.  homil.  LXII,  tom.  VI.  — 
Theodor.  Mops,  siehe  Hefele,  Conciliengesch.  II,  S.  134. 

1)  Athan.  orat.  III,  14,  c.  Arian.  Bd.  I,  S.  563. 

2)  Ibid.  S.  579. 

3)  Ibid.  S.  583. 

4)  Ibid. 

*)  Ibid.  Or.  IV.  32,  S.  642. 

n)  1.  1. 

7)  Athan.  de  incarn.  et  c.  Arian.  22,  Bd.  I,  S.  889. 

8)  Epist.  ad  Ambr.  Tom.  III,  S.  660. 

9)  Ad  Gled.  presb.  epist.  Bd.  I,  S.  758. 


77 


um  welchen  diese  nicht  verkürzt  werden  dürfe;  Maria  selbst  ist  in 
den  Vordergrund  gestellt  ,  von  der  Bedeutung  des  Wortes  für  ihren 
Sohn  ist  abgesehen.  Wir  machen  also  wiederholt  die  Beobachtung, 
dass  jedes  tiefere  Eindringen  in  das  wunderbare  und  geheimnissvolle 
Wesen  Christi,  jede  weitere  Entfaltung  und  offenere  Darlegung  seiner 
überirdischen  und  irdischen  Beziehungen,  kurz  jede  scheinbare  oder 
wirkliche  Näherung  des  ewig  Unfasslichen  für  menschliches  Wissen 
und  menschliche  Fassungskraft  nicht  bloss  so  nebenher  auf  die,  mit 
ihm  nothwendig  zusammenzudenkende,  Mutter  zurückstrahlt,  sondern 
ihr  Bild  in  eigener  Beleuchtung  immer  selbständiger  hervortreten 
lässt. 

Wenn  wir  nun  den  Ausdruck  Gottesgebärerin  uns  noch  etwas 
näher  ansehen  wollen,  so  beruht  er  auf  der  althergebrachten  und 
schon  durch  die  Bibel  geheiligten  Vertauschung  göttlicher  und  mensch¬ 
licher  Prädikate  für  Christus.  In  der  Bibel  findet  sich  ebenso,  dass 
»der  Menschensohn  vom  Himmel  herabgestiegen  sei«,  als,  dass  »Gott 
seinen  Eingeborenen  (in  den  Tod)  dahingegeben  habe«  x),  während 
strenggenommen  das  Erstere  nur  vom  göttlichen ,  das  Letztere  nur 
vom  menschlichen  Theil  Christi  gesagt  werden  kann.  Der  Ausdruck 
ist  aber  nicht  bloss  von  Seiten  des  Sprachgebrauchs  leicht  zu  recht- 
fertigen  ,  sondern  musste  sich  als  bequemste  Abbreviatur  der  kirch¬ 
lichen  Ansicht  gegenüber  den  oftgenannten  beiden  Häresieen  besonders 
empfehlen.  Das  Bestimmungswort  »Gottes«  geht  gegen  den  falschen 
Realismus  der  Arianer,  das  Grundwort  »Gebärerin«  ebenso  gegen 
den  falschen  Idealismus  der  Apollinaristen,  und  aus  diesem  Grunde 
sagt  auch  der  berühmte  Herausgeber  des  heiligen  Athanasius,  der 
Mauriner  Montfaucon:  der  Gebrauch  dieses  Wortes  sei  »weise,  wenn 
absichtlich,  glücklich,  wenn  zufällig« *  2)  gewesen.  —  Es  bedarf  kaum 
der  Erwähnung,  dass  das  vielgenannte  Prädikat  nicht  bloss  gegen 
die  neuesten  Häresieen  allein  als  Schild  der  Orthodoxie  diente,  sondern 
gegen  alle  Phasen  überhaupt,  welche  die  alten  Gegensätze  der  ebioniti- 
sirenden  und  doketisirenden  Richtung  bis  zu  ihrer  letzten  Metamor¬ 
phose  durchgemacht  hatten,  wie  wir  diess  auch  aus  etlichen  der 
oben  angeführten  Stellen  ersehen  konnten.  Und  diess  gab  dem 
Wort  eine  um  so  allgemeinere  Verbreitung,  auf  die  uns  auch  eine 
Bemerkung  Julians  des  Apostaten  (f  363)  schliessen  lässt.  Er  sagt 


')  Joh.  III,  18  u.  16. 

2)  Praef.  p.  XX. 


78 


nemlich  in  seiner  »Abfertigung  der  Evangelien«:  Die  Christen  hören 
nicht  auf,  Maria  eine  Gottesgebärerin  zu  nennen  x). 

Das  Verkennen  des  Ausdrucks  als  Abbreviatur  im  angegebenen 
Sinne  rief  übrigens  vielleicht  noch  im  vierten  Jahrhunderte  ver¬ 
einzelte  Opposition  hervor.  Schon  der  aus  der  antiochenischen  Schule 
hervorgegangene  Diodor  von  Tarsus  (y  ca.  390)  glaubt  die  beiden 
Faktoren  der  Persönlichkeit  des  Heilandes  genauer  auseinanderhalten 
zu  müssen  und  sagt  darum:  »Das  Wort  stammt  von  oben,  Jesus 
Christus,  der  Mensch,  aber  ist  von  hier.  Maria  gebar  nicht  das 
Wort,  sondern  einen  uns  ähnlichen  Menschen«  .  ...  2)  Und  sein 
Schüler,  Theodor  von  Mopsuestia,  kämpft  direkt  gegen  den  Gebrauch 
des  Ausdrucks  an.  »Maria,  sagt  er,  hat  Jesum  geboren,  nicht  den 
Logos,  denn  der  Logos  war  und  blieb  allgegenwärtig,  obwohl  er  auf 
besondere  Weise  von  Anfang  an  in  Jesus  wohnte.  Also  ist  Maria 
eigentlich  die  Christusgebärerin,  nicht  die  Gottesgebärerin.  Nur 
figürlich  kann  man  sie  auch  Gottesgebärerin  nennen,  weil  Gott  auf 
ausgezeichnete  Weise  in  Christus  war.  Sie  hat  eigentlich  einen 
Menschen  geboren,  in  welchem  die  Einigung  mit  dem  Logos  begonnen, 
aber  noch  so  wenig  vollendet  war,  dass  er  noch  nicht  (sondern  erst 
von  der  Taufe  an)  Sohn  Gottes  heissen  konnte.«  Und  an  einer 
andern  Stelle  sagt  er:  »Es  ist  Wahnsinn  zu  sagen,  Gott  sei  aus  der 
Jungfrau  geboren,  ....  nicht  Gott,  sondern  der  Tempel,  in  welchem 
Gott  wohnte,  ist  aus  Maria  geboren  3).«  Doch  Theodor  starb  erst 
im  Jahre  427  oder  28,  nachdem  er  36  Jahre  zu  Mopsuestia  Bischof 
gewesen  war.  Von  seinen  zahlreichen  Schriften  sind  uns  mit  Aus¬ 
nahme  einer  einzigen  nur  Fragmente  erhalten,  die  wir  chronologisch 
nicht  näher  bestimmen  können.  Das  oben  Beigebrachte  kann  darum 
vielleicht  erst  dem  fünften  Jahrhunderte  angehören.  Jedenfalls  weist 
es  unmittelbar  hinüber  auf  Nestorius,  der  ja  nach  einigen  Nach¬ 
richten  selbst  Schüler  des  Theodor  gewesen  sein  soll.  Dass  aber 
die  Opposition  gegen  den  vielgenannten  Ausdruck  zwar  aus  der 
antiochenischen  Schule  hervorging,  jedoch  nicht  so  zu  sagen  antio- 
chenischer  Lehrsatz  war,  beweisen  andere  Kirchenlehrer,  die  derselben 
Schule  ihre  Bildung  verdankten  und  dennoch  zu  dem  Ausdruck  sich 


')  „tkoTÖxov  oe  ufAEt?  ob  Tiocüsa^E  Maptav  xaXoovTE <;.“  Cyrill.  Alex,  contra  Julian, 
lib.  VIII,  ed.  Aubert.  Tom.  VI,  p.  262. 

2)  Von  Mar.  Merc.  aufbewahrt.  S.  Galland.  VIII,  S.  705. 

3)  S.  bei  Hefele,  Conc.  II,  S.  134. 


bekannten,  wie  z.  B.  Cyrill  von  Jerusalem  und  der  grosse  Chrysosto- 
mus,  der  ja  auch  zu  den  Füssen  des  Diodor  von  Tarsus  gesessen 
war,  wie  Theodor  von  Mopsuestia. 

Nestorius1)  nun,  seit  428  Patriarch  von  Konstantinopel,  leitete 
mit  der  Opposition  gegen  diesen  Ausdruck  seine  neue  Häresie  ein, 
nemlich  eine  so  strenge  Trennung  der  göttlichen  und  menschlichen 
Natur  in  Christus,  dass  er  diese  beiden  Naturen  als  zwei  getrennte 
Personen  fasste,  die  nur  äusserlich  und  moralisch  mit  einander 
verbunden  seien.  Der  Ausbruch  des  nestorianischen  Streits,  von 
dem  wir  natürlich  nur  dasjenige  beibringen,  was  sich  auf  Maria  be¬ 
zieht,  wird  verschieden  erzählt.  Nestorius  selbst  sagt  in  einem  Brief 
an  den  Bischof  Johannes  von  Antiochien:  schon  bei  seiner  Ankunft 
in  Konstantinopel  habe  er  einen  Streit  vorgefunden,  indem  ein  Theil 
die  heilige  Jungfrau  »Gottesgebärerin«,  der  andere  »Menschengebärerin« 
genannt  wissen  wollte.  Um  zu  vermitteln,  habe  er  den  Ausdruck 
»Christusgebärerin«  vorgeschlagen  2).  Der  Bischof  Cyrill  von  Ale¬ 
xandrien,  der  Hauptgegner  des  Nestorius,  dagegen  schreibt  in  einem 
Brief  an  den  Pabst  Cölestin  I. ,  der  Angriff  auf  den  Titel  Gottes¬ 
gebärerin  sei  von  dem  Bischof  Dorotheus,  einem  Freund  des  Nestorius, 
ausgegangen.  »Es  war  in  Konstantinopel  ein  Bischof,  Namens 
Dorotheus,  der  die  Ansicht  des  Nestorius  theilte,  ....  welcher  in 
der  Versammlung,  während  der  vorsichtige  Nestorius  auf  dem  Thron 
der  Kirche  zu  Konstantinopel  sass,  aufstand  und  mit  lauter  Stimme 
zu  sagen  wagte:  wenn  einer  Maria  Gottesgebärerin  nennt,  der  sei 
verflucht 3)«  ....  Der  Kirchenhistoriker  Sokrates  hinwiederum  er¬ 
zählt:  Der  Freund  des  Nestorius,  der  Priester  Anastasius,  den  er 
von  Antiochien  mitgebracht,  habe  eines  Tags  in  der  Predigt  gewarnt, 
es  solle  Niemand  Maria  Gottesgebärerin  nennen,  denn  Maria  sei  ein 
Mensch  gewesen  und  aus  einem  Menschen  könne  Gott  nicht  geboren 
werden  4).  Das  peinliche  Aufsehen ,  das  die  Opposition  gegen  den 
Ausdruck  erregte,  wird  von  beiden  letzteren  in  ähnlicher  Weise  be¬ 
richtet.  Cyrill  z.  B.  fährt  fort:  »Und  es  entstand  ein  grosses  Ge¬ 
schrei  beim  ganzen  Volke  und  Hinauslaufen  (aus  der  Kirche),  denn 
sie  wollten  nicht  mehr  Gemeinschaft  haben  mit  denen ,  die  solcher 


')  Vgl.  für  das  Folgende  Hefele,  Gone.  II,  S.  134  ff. 

2)  Hefele,  Conciliengesch.  II,  S.  186. 

3)  Galland.  T.  IX,  pag.  300. 

4)  VII,  32;  bei  Hefele,  ibid. 


80 


Meinung  waren,  so  dass  auch  jetzt  noch  die  Völker  von  Konstan¬ 
tinopel  von  ihnen  abtrünnig  sind,  mit  Ausnahme  weniger,  die  leicht 
ins  Gewicht  fallen,  und  ihrer  Schmeichler;  die  Klöster  aber  beinahe 
alle  und  die  Archimandriten  derselben  und  die  meisten  der  Gemeinde 
haben  keine  Gemeinschaft  mit  ihnen,  aus  Furcht,  den  Glauben  zu 
verletzen  .  .  .  .  x) 

Sei  dem  nun,  wie  ihm  wolle,  Nestorius  fühlte  sich  hiernach 
berufen ,  selbst  gegen  den  Ausdruck  aufzutreten.  Seine  bezüglichen 
Predigten  hat  uns  ein  abendländischer  Laie,  Namens  Marius  Mercator, 
der  sich  damals  in  Konstantinopel  aufhielt,  theilweise  aufbewahrt 
und  wir  theilen  daraus  einige  Abschnitte  mit.  ».  .  .  .  Soll  Maria 
Gottesgebärerin,  oder  aber  Menschengebärerin  genannt  werden?  Hat 
Gott  eine  Mutter?  Dann  ist  auch  das  Heidenthum  entschuldbar, 
welches  den  Göttern  Mütter  gibt.  Paulus  also  ist  ein  Lügner,  der 
von  der  Gottheit  Christi  mit  folgenden  Ausdrücken  spricht:  vaterlos, 
mutterlos ,  ohne  Genealogie *  2).  Nein ,  mein  Bester,  Maria  hat  nicht 
Gott  geboren,  denn  was  vom  Fleisch  geboren  ist,  ist  Fleisch  3).  Das 
Geschöpf  hat  nicht  denjenigen  geboren,  welcher  unerschaffbar  (increa- 
bilis)  ist,  der  Vater  hat  nicht  aus  der  Jungfrau  Gott  das  Wort  neu 
gezeugt,  denn  im  Anfang  war  das  Wort,  wie  Johannes  sagt.  Das 
Geschöpf  hat  nicht  den  unerschaffbaren  geboren,  sondern  es  hat 
geboren  den  Menschen,  das  Werkzeug  der  Gottheit.  Der  heilige 
Geist  hat  nicht  Gott  das  Wort  erschaffen  .  .  .  .,  sondern  Gott  dem 
Worte  den  Tempel  aus  der  Jungfrau  gebaut,  den  es  bewohnen 
sollte4).«  ....  Wenn  die  heilige  Schrift  von  der  Geburt  Christi 
spreche,  ....  nenne  sie  ihn  nie  Gott,  sondern  Christus  oder  Jesus 
oder  Herr,  ....  Maria  sei  sonach  Christusgebärerin  zu  nennen5) 

Die  Arianer  setzen  den  Logos  nur  unter  den  Vater  herab,  -diese 
(welche  Maria  Gottesgebärerin  nennen)  aber  setzen  ihn  sogar  unter 
Maria,  behaupten,  dass  er  später  sei  als  sie,  und  geben  der  Gottheit, 
der  Schöpferin  der  Zeit,  eine  zeitliche  Mutter.  Ja  sie  geben  auch 
nicht  zu,  dass  sie  Mutter  Christi  sei.  Denn  wenn  der,  den  sie 
gebar,  nicht  menschlicher  Natur,  sondern  Gott  das  Wort  war,  so 


')  Galland.  T.  IX,  p.  300. 

2)  Hebr.  VH,  3. 

3)  Job.  III,  6. 

4)  Galland.  T.  VIII,  p.  629. 

®)  Hefele  II,  S.  137. 


81 


wird  sie  keineswegs  als  Mutter  des  Geborenen  erfunden;  denn  wie 
könnte  sie  Mutter  von  dem  sein,  der  anderer  Natur  ist,  als  die  Ge¬ 
bärerin?  Nennt  man  sie  aber  seine  Mutter,  dann  ist  der  Geborene 
nicht  göttlicher  Natur,  sondern  ein  Mensch,  da  jede  Mutter  nur  das 
gebären  kann,  was  gleicher  Substanz  ist,  wie  sie  !). 

Nestorius  erregte  mit  diesen  Wendungen  und  Ausdrücken  einen 
ähnlichen  Sturm,  wie  er  von  Cyrill  oben  beschrieben  ist.  Sein  Klerus 
fiel  theilweise  von  ihm  ab  und  predigte  offen  gegen  ihn,  das  Volk 
murrte :  wir  haben  einen  Kaiser,  aber  keinen  Bischof.  Man  unter¬ 
brach  sogar  seine  Predigten  durch  lauten  Widerspruch.  Jedoch 
liess  er  sich  hiedurch  nicht  irre  machen.  An  einem  Marienfeste  des 
Jahres  429  hatte  er  den  Bischof  Proklus,  der  in  Konstantinopel  lebte, 
eingeladen,  die  Festpredigt  zu  halten,  während  er  selbst  in  der  Kirche 
anwesend  war.  Proklus  entsprach  seinen  Erwartungen  so  wenig, 
dass  er  vielmehr  die  heilige  Jungfrau  gerade  als  »Gottesgebärerin« 
pries.  Wir  haben  auf  diese  Predigt  weiter  unten  zurückzukommen. 
Nestorius  antwortete  sofort  durch  eine  Gegenpredigt,  die  so  beginnt: 
»Dass  die  Völker,  die  Christum  lieb  haben,  denjenigen  Beifall  zollen, 
welche  der  heiligen  Maria  eine  Ehrenrede  halten,  ist  nicht  zu  ver¬ 
wundern.  Denn  gerade  das,  dass  sie  der  Tempel  geworden  ist  des 
Fleisches  des  Herrn,  überschreitet  Alles,  was  des  Lobes  würdig  ist. 
Aber  darauf  muss  eure  Liebenswürdigkeit  achten,  dass  wir  nicht, 
wenn  wir  mehr  als  nöthig  oder  schuldig  mit  der  Ehre  und  dem 
Lobe  jener  Seligen  uns  zu  thun  machen,  die  Würde  Gottes  des 
Wortes  zu  entstellen  scheinen,  indem  wir  ihn  zweimal  geboren  sein 
lassen  ....  Wer  einfach  sagt,  dass  Gott  von  Maria  geboren  sei, 
der  gibt  die  Herrlichkeit  des  Dogmas  den  Heiden  preis  zum  Tadeln 
und  Verlachen *  2)«  .  .  .  .  In  einigen  spätem  Beden  gegen  Proklus  er¬ 
klärt  er,  dass  er  den  Ausdruck  Gottesgebärerin  dulden  könnte,  wenn 
er  richtig  gefasst  würde,  aber  weil  er  Missverständnisse  hervorrufe, 
möchte  er  lieber  einen  andern  Titel  für  Maria  wählen.  »Lasst  uns 
die  Menschheitsannahme  des  Herrn  verehren,  lasst  uns  das  Geheim- 
niss  der  Fleischwerdung  mit  unaufhörlichen  Lobgesängen  preisen, 
lasst  uns  aber  die  Jungfrau,  welche  Gott  aufgenommen  hat,  nicht 
mit  Gott  zusammenrechnen,  nicht  mit  Gott  zum  Göttlichen  erheben. 


')  Galland.  T.  VIII,  p.  643. 

2)  Galland.  T.  VIII,  p.  633- 

Lehn  er,  Die  Marienverehrung. 


6 


82 


Darum  schlage  ich  das  Wort  ,gottaufnehmend  oder  gotttragend' 
(&eod6xog)  vor,  statt  , gottgebärend4  (tfeoroxog).  Denn  nur  Einer  ist 
gottgebärend,  nemlich  Ctott  Vater1).« 

Trotz  des  anfänglichen  gewaltigen  Aufsehens,  das  Nestorius  mit 
seiner  »Neuerung«  machte,  gewann  er  doch  eine  Partei  für  sich, 
nicht  nur  in  Konstantinopel,  sondern  seine  Ansichten  verbreiteten 
sich  sofort  auch  in  verschiedenen  Provinzen  des  Reichs.  Da  trat 
zuerst  der  obengenannte  Cyrill,  Erzbischof  von  Alexandrien,  gegen 
ihn  auf,  warnte  seine  Gemeinde  und  erinnerte  namentlich  die  zahl¬ 
reichen  ägyptischen  Mönche,  die  auch  schon  von  der  Sache  Kennt- 
niss  erhalten  hatten,  dass  ja  der  Ausdruck  »Gottesgebärerin«  schon 
von  Athanasius  gebraucht  worden  sei.  An  Nestorius  schrieb  er: 
.  .  .  .  »Geruhe,  den  beleidigten  Ohren  die  einzige  Redensart  zu  ge¬ 
währen,  dass  du  die  heilige  Jungfrau  Gottesgebärerin  nennest,  damit 
wir  nach  Beruhigung  derer,  welche  traurig  und  betrübt  sind;  überall 
den  rechten  Glauben  habend,  in  Frieden  und  Einmüthigkeit  den 
Gottesdienst  begehen  2). « 

Nestorius  hatte  mittlerweile  dem  Pabst  Cölestin  I.  mitgetheilt, 
dass  in  seiner  Diöcese  eine  Häresie  ausgebrochen  sei,  »welche  die 
Christusgebärerin  Gottesgebärerin  zu  nennen  sich  nicht  scheue,  wäh¬ 
rend  jene  heiligen  und  über  alles  Lob  erhabenen  Väter  des  nicäni- 
schen  Concils  nichts  weiter  über  die  heilige  Jungfrau  gesagt  haben, 
als  dass  unser  Herr  Jesus  Christus  aus  dem  heiligen  Geiste  und  der 
Jungfrau  Maria  Fleisch  geworden  sei.  Ich  schweige  von  der  heiligen 
Schrift,  welche  überall  die  Jungfrau  als  Mutter  Christi,  nicht  Gottes 
des  Wortes,  sowohl  durch  die  Engel  als  auch  durch  die  heiligen 
Apostel  verkündigt  hat3).«  Doch  sei  ihm  gelungen,  viele  von  dieser 
Häresie  zu  dDekehren.  Dem  Cyrill  antwortete  er  auf  einen  zweiten 
Brief  desselben,  der  die  obige  Bitte  wiederholte,  ungefähr  mit  den¬ 
selben  Argumenten,  indem  er  sich  auf  das  nicänische  Glaubens- 
bekenntniss  und  die  heilige  Schrift  beruft,  dass  der  Ausdruck 
Gottesgebärerin  heidnisch,  apollinaristisch,  arianisch  sei.  Zugleich 
theilte  er  ihm  mit,  dass  der  byzantinische  Hof  auf  seiner  Seite  stehe. 
Nun  schrieb  Cyrill  an  den  Hof  (.  .  .  .  »wer  thörichter  Weise  sagt, 
die  heilige  Jungfrau  sei  nicht  Gottesgebärerin,  fällt  nothwendig  in 


1)  Galland.  ibid. 

2)  Galland.  VIII,  p.  641. 

3)  Galland.  IX,  p.  297. 


88 


den  Irrthum,  zwei  Söhne  Gottes  anzunehmen«1),  und  an  mehrere 
griechische  und  morgenländische  Bischöfe,  sowie  an  den  Pabst. 
Dieser  hielt  im  Jahr  430  eine  Synode  zu  Rom,  welche  den  Nestorius 
für  einen  Ketzer  erklärte  und  mit  Absetzung  bedrohte,  wenn  er  nicht 
widerrufe.  In  einer  Rede,  welche  der  Pabst  hielt,  findet  sich  folgende 
charakteristische  Stelle:  »Ich  denke  daran,  dass  Ambrosius  seligen 
Gedächtnisses  am  Geburtsfeste  unseres  Herrn  Jesu  Christi  das  ganze 
Volk  einstimmig  singen  liess: 

Komm,  Erlöser  der  Völker, 

Zeige  die  Geburt  der  Jungfrau, 

Es  staune  alle  Welt, 

Solche  Geburt  ziemt  Gott. 

Hat  er  etwa  gesagt:  eine  solche  Geburt  ziemt  einem  Menschen? 
Daher  stimmt  die  Ansicht  unseres  Bruders  Cyrillus  darin,  dass  er 
Maria  Gottesgebärerin  nennt,  sehr  mit  dem  Vers  überein:  eine 
solche  Geburt  ziemt  Gott2).«  Den  Synodalbeschluss  schickte  der 
Pabst  dem  Cyrill  zur  Eröffnung  an  Nestorius,  theilte  ihn  ferner  der 
Gemeinde  von  Konstantinopel,  sowie  den  angesehensten  morgen¬ 
ländischen  Bischöfen  mit  und  ermahnte  zur  Aufrechthaltung  der 
wahren  Lehre.  In  Folge  hievon  forderte  Bischof  Johannes  von 
Antiochien  seinen  Jugendfreund  Nestorius  auf,  »dem  Ausdruck  Gottes¬ 
gebärerin  ,  der  für  die  heilbringende  Menschwerdung  und  Geburt 
Christi  ganz  tauglich  und  von  vielen  Vätern  gebraucht  worden  sei, 
seinen  Beifall  zu  geben«.  Diess  rathe  er  ihm  nicht  bloss  in  seinem, 
sondern  auch  im  Namen  vieler  andern  morgenländischen  Bischöfe. 
Cyrill  aber  hielt,  bevor  er  das  päbstliche  Schreiben  an  Nestorius  über¬ 
sandte,  eine  Synode  zu  Alexandrien  und  liess  durch  dieselbe  zwölf 
Sätze  (Anathematismen)  unterschreiben,  deren  erster  so  lautete: 
»Wer  nicht  bekennt,  dass  der  Emmanuel  wahrhaftiger  Gott  und  die 
heilige  Jungfrau  desshalb  Gottesgebärerin  sei,  indem  sie  den  fleisch¬ 
gewordenen  Logos  Gottes  dem  Fleische  nach  gebar,  der  sei  Ana¬ 
thema.«  Diese  zwölf  Anathematismen  begleitet  von  einem  Synodal¬ 
schreiben,  das  wiederum  den  Satz  enthält  :  weil  die  h.  Jungfrau  den 
mit  dem  Fleische  hypostatisch  vereinigten  Gott  dem  Fleische  nach 
geboren  hat,  nennen  wir  sie  Gottesgebärerin  .  .  .  .,  sandte  Cyrill 


*)  Gyr.  ad  reginas  Opp.  ed.  Paris  1624.  T.  II,  p.  687. 

2)  Fragmentum  serm.  etc.  Galland.  IX,  p.  304. 


84 


sammt  dem  Erlass  der  römischen  Synode  an  Nestorius.  Die  Folge 
hievon  war,  dass  der  letztere  nicht  bloss  durch  zwölf  Gegenanathema- 
tismen  antwortete,  sondern  dass  beinahe  alle  Bischöfe,  die  aus  der 
antiochenischen  Schule  hervorgegangen  waren,  sich  gegen  Cyrill 
kehrten,  nicht,  zwar  wegen  des  Ausdrucks  ordxog,  sondern  wegen 
einiger  andern  seiner  zwölf  Sätze.  Johannes  von  Antiochien  nament¬ 
lich  trat  jetzt  mehr  auf  Seite  des  Nestorius,  insbesondere  weil  dieser 
erklärt  hatte,  er  wolle  ja  gegen  den  vielberufenen  Ausdruck  nichts 
haben,  wenn  er  in  gewissem  Sinne  gebraucht  werde. 

Der  Streit  war  jetzt  beinahe  in  der  ganzen  Christenheit  so 
heftig,  die  Verwirrung  so  allgemein  geworden,  dass  nur  durch  ein 
Generalconcil  der  Friede  hergestellt  werden  zu  können  schien.  Dieses 
wurde  auf  das  Pfingstfest  431  nach  Ephesus  einberufen.  Gleich  in 
der  ersten  Sitzung,  welche  in  der,  der  Gottesgebärerin  geweihten  und 
nach  ihr  benannten,  Kathedrale  von  Ephesus  abgehalten  wurde, 
wurde  die  Lehre  des  Nestorius  von  nahezu  zweihundert  Bischöfen 
verurtheilt  und  hiemit  dem  Ausdruck  i^eoröxog  zugestimmt.  Eine 
starke  Fraktion  allerdings,  an  deren  Spitze  Johannes  von  Antiochien 
stand,  stimmte  Anfangs  nicht  nur  nicht  bei,  sondern  setzte  ihrer¬ 
seits  den  Cyrill  ab,  doch  behielt  dieselbe  in  ihrem  Symbolum,  das 
sie  dem  Kaiser  vorlegte,  den  fraglichen  Ausdruck  bei:  »Wir  be¬ 
kennen,  dass  die  heilige  Jungfrau  Gottesgebärerin  sei,  weil  Gott  das 
Wort  Fleisch  geworden  ist  u.  s.  w.«  Das  Symbolum,  dem  diese 
Stelle  entnommen  ist,  unterschrieb  im  Jahr  433  seinerseits  Cyrill; 
damit  war  die  Versöhnung  der  antiochenischen  Fraktion  mit  der 
Majorität  des  Concils  von  Ephesus  hergestellt  und  dem  vielgenannten 
Ehrentitel  der  heiligen  Jungfrau  durch  einen  schliesslich  an  Ein¬ 
stimmigkeit  grenzenden  Generalconcilsbeschluss  die  officielle  Weihe 
ertheilt.  — 

Der  Zug  der  Mutterschaft  an  unserem  evangelischen  Marienbilde 
hat  hiemit  seine  Vollendung  erreicht.  Dieser  Zug  ist  begreiflicher¬ 
weise  die  Hauptqualität  Mariens;  alle  andern  Züge  hängen  von  ihm 
ab.  Ist  Maria  Mutter  eines  Menschen ,  so  unterscheidet  sie  sich 
nicht  von  einem  anderen  Weibe,  ist  sie  Mutter  eines  göttlichen 
Sohnes,  so  ist  keine  andere  Mutter  ihr  gleich.  Die  Göttlichkeit 
des  Sohnes  entzieht  die  Mutter  als  solche  dem  Naturgesetz,  wenn 
auch  seine  Menschlichkeit  sie  demselben  wieder  bis  zu  einem  ge¬ 
wissen  Punkte  unterwirft.  Je  mehr  daher  das  göttliche  Wesen 
des  Sohnes  aus  der  naiven  Unmittelbarkeit  des  Glaubens  heraus- 


tritt,  je  allseitiger  es  von  der  Wissenschaft  diskutirt  wird,  bis 
es  schliesslich  als  Errungenschaft  eines  vielziingigen,  heissen  Kampfes 
erscheint,  um  so  höher  muss  auch  die  Mutterwürde  steigen.  Und 
wenn  die  Wissenschaft,  um  ihre  Ueberzeugung  von  dem  Wesen  des 
Sohnes  in  eine  prägnante  und  populäre  Form  zu  giessen,  nichts 
Treffenderes  zu  thun  weiss,  als  der  Mutter  einen  eigenthiimlichen 
Titel  zu  verleihen,  so  tritt  letztere  hiemit  in  den  Vordergrund.  Auf 
dem  Wege  innerer  Lehrentwickelung  wird  aus  der  einfachen  »Mutter 
Jesu«  die  gefeierte  »Gottesgebärerin«. 


Josephs  Weib. 

Maria  erscheint  in  den  Evangelien  als  das  Weib  Josephs. 
Joseph  nimmt  sie  zu  sich  und  beweist  hiedurch  nicht  bloss  den  vor¬ 
ausgegangenen  Verlobungsakt,  sondern  die  wirkliche  Eheschliessung 
nach  hebräischer  Sitte.  Er  vollzieht  aber  mit  ihr  die  Ehe  in  physi¬ 
schem  Sinne  nicht,  weil  er  ihr  göttliches  Geheimniss  weiss.  Was 
war  also  Grund  und  Zweck  der  Ehe?  Die  Evangelien  beantworten 
diese  Frage  nicht,  wenn  sich  auch  einige  Andeutungen  aus  ihnen 
entnehmen  Messen.  Um  so  mehr  gehen  die  Kirchenväter  auf  die 
Sache  ein ,  was  nur  erwartet  werden  kann  ,  nachdem  man  in  allen 
äusseren  Umständen  des  Lebensganges  Jesu  eine  Reihe  planmässiger 
göttlicher  Heilsveranstaltungen  zu  erblicken  sich  gewöhnt  hatte. 

Der  erste,  bei  dem  wir  auf  die  Behandlung  dieses  Punktes 
stossen,  ist  Origenes.  »Nach  wiederholtem  Nachdenken,  sagt  er, 
stelle  ich  die  Frage  auf,  warum  Gott,  nachdem  er  einmal  beschlossen 
hatte,  dass  der  Heiland  von  einer  Jungfrau  sollte  geboren  werden, 
nicht  ein  Mädchen  ohne  Bräutigam  gewählt  habe,  sondern  gerade 
ein  solches,  das  schon  verlobt  war.  Und  wenn  ich  mich  nicht 
täusche,  ist  Folgendes  der  Grund:  Er  musste  von  einer  solchen  Jung¬ 
frau  geboren  werden ,  welche  nicht  allein  einen  Bräutigam  hatte, 
sondern,  wie  Matthäus  schreibt,  bereits  dem  Manne  übergeben  war, 
obwohl  der  Mann  sie  noch  nicht  erkannt  hatte,  damit  der  Zustand 
der  Jungfrau,  wenn  sie  als  solche  schwanger  erschien,  keinen  Anstoss 
erregte.  Daher  finde  ich  in  einem  Briefe  eines  Martyrs,  ich  meine  den 
Ignatius,  den  zweiten  Bischof  von  Antiochien  nach  Petrus,  der  zu 
Rom  bei  einer  Verfolgung  den  Thieren  vorgeworfen  wurde,  die  feine 
Bemerkung:  dem  Fürsten  dieser  Welt  war  die  Jungfrauschaft  Marias 
verborgen.  Sie  war  ihm  verborgen  wegen  Joseph,  wegen  ihrer  Ehe, 
weil  man  glaubte ,  sie  habe  einen  Mann.  Denn  wenn  sie  keinen 


87 


Bräutigam  und  vermeintlichen  Mann  gehabt  hätte,  so  konnte  jenes 
dem  Fürsten  dieser  Welt  keineswegs  verborgen  bleiben.  Denn  so¬ 
gleich  wäre  dem  Teufel  der  geheime  Gedanke  gekommen :  Wie  ist 
jene,  der  ein  Mann  nicht  beigewohnt,  schwanger?  Es  muss  diese 
Empfängniss  göttlich  sein,  es  muss  da  etwas  über  die  menschliche 
Natur  Erhabenes  stattfinden.  Im  Gegentheil  hatte  der  Heiland  an¬ 
geordnet,  dass  der  Teufel  seine  Heilsveranstaltung  und  Fleisch¬ 
annahme  nicht  kenne,  daher  er  sie  auch  in  seiner  Genealogie  ver¬ 
barg  und  nachher  seinen  Schülern  vorschrieb,  dass  sie  ihn  nicht 
verrat hen  sollen«  *). 

Der  Kirchenhistoriker  Eusebius  behandelt  die  Frage  ausführ¬ 
lich  in  seinen  »Evangelischen  Untersuchungen«.  Er  meint:  die  Ver¬ 
hältnisse  unseres  Heilandes  mussten  den  Zeitgenossen  desselben 
theilweise  verborgen  bleiben,  namentlich  das  Wunder  seiner  Geburt, 
welches  nur  sehr  wenigen  bekannt  war.  Schon  Ignatius  habe  dieses 
angedeutet  (in  der  oben  milgetheilten  Stelle).  Es  wäre  selbstverständlich 
unmöglich  gewesen,  dass  alle  Sterblichen,  welche  den  Gesalbten 
Gottes  unter  den  Menschen  in  gewöhnlicher  Menschengestalt  hätten 
wandeln  sehen,  geglaubt  hätten,  dass  er  von  einem  unverheiratheten 
Mädchen  ohne  Vater  geboren  sei.  Auch  war  es  nicht  zuträglich, 
dass  viele  wussten,  Maria  habe  Jesus  nicht  von  Joseph  empfangen, 
denn  die  Jungfrau  wäre  nach  dem  mosaischen  Gesetze  strafbar 
gewesen,  als  wenn  sie  vor  der  Heirath  die  Jungfrauschaft  verletzt 
hätte.  Desshalb  deutet  es  die  Schrift  mit  Recht  genau  an,  indem 
sie  sagt:  »bevor  sie  zusammenkamen,  wurde  sie  schwanger  erfun¬ 
den.«  Dadurch  beweist  sie  beinahe,  dass  sie  nicht  vor  der  Hoch¬ 
zeit  empfangen  habe,  und  nicht  bevor  sie  zum  Manne  (ins  Haus) 
kam.  Nachdem  sie  mit  Joseph  verbunden  war  und  bei  ihm  lebte, 
und  bei  Allen  als  sein  Weib  galt,  als  sie  zusammen  wohnten,  und 
die  eheliche  Gemeinschaft  zu  pflegen  schon  (wie  man  meinte)  im 
Begriffe  standen,  zur  Stunde,  so  zu  sagen,  bevor  sie  zusammenkamen, 
wurde  sie  schwanger  vom  heiligen  Geiste  erfunden.  Und  diess  ist 
ganz  zweckmässig  zur  Vermeidung  allgemeinen  Bekanntseins  vor¬ 
gesorgt  worden.  Denn  wenn  Maria  noch  im  Hause  ihrer  Eltern 
schwanger  geworden  wäre,  so  wäre  sie  der  Todesstrafe  verfallen, 
oder  hätte  wenigstens  den  Schimpf  der  Unzucht  auf  sich  geladen. 
Denn  sie  konnte  für  sich  selber  nicht  Zeugin  sein ,  noch  war  sie 


*)  Hom.  in  Luc.,  III.  Bd.,  pag.  938. 


88 


tauglich ,  dem ,  was  ihr  geschehen  war ,  Glauben  zu  schaffen ,  noch 
hätte  sich  jemand  die  Erscheinung  des  Engels  aufreden  lassen  oder 
ihrer  Erzählung  der  Worte  Gabriels  geglaubt,  endlich  hätte  Joseph,  »der 
Gerechte«,  sie  als  schwanger  nicht  in  sein  Haus  aufgenommen. 
Darum  wurde  sie  erst  in  Josephs  Haus  und  von  Joseph  selber  als 
schwanger  erfunden.  Warum  aber  und  wie  die  Sache  dem  Joseph 
offenbar  wurde,  lehrt  die  Schrift,  indem  sie  sagt,  dass  Joseph,  »dem 
Gerechten«,  von  dem  heiligen  Geiste  die  Kunde  geworden  sei.  Wenn 
er  sie  darauf  heimlich  entlassen  wollte,  so  geschah  diess  aus  ehr¬ 
furchtsvoller  Scheu  gegen  das  Ausserordentliche,  das  sich  mit  ihr 
zugetragen  hatte,  bis  er  vom  Engel  aufgefordert  wurde,  sie  bei  sich 
zu  behalten  ....  Die  jungfräuliche  Empfängniss  musste  also  den 
ungläubigen  Zeitgenossen  vorenthalten  bleiben.  Sogar  die  Wunder- 
thaten  Jesu  hätten  den  Glauben  daran  nicht  zur  Folge  gehabt,  denn 
Moses,  Elias,  Elisa  und  andere  Wunderthäter  waren  ja  alle  auf  dem 
gewöhnlichen  Wege  zur  Welt  gekommen.  Darum  kamen  auch  nicht 
einmal  seine  Schüler  auf  die  richtige  Spur.  Auf  die  Frage,  für  wen 
man  ihn  halte,  antworteten  sie:  Einige  für  Johannes,  Elias,  Jere¬ 
mias  *) ,  Petrus  allein  erklärte  ihn  für  den  Sohn  des  lebendigen 
Gottes.  Das  Geheimniss  war  also  noch  allgemein.  Maria  selbst  ist 
Zeuge  dafür,  dass  sie  die  betreffenden  Vorkommnisse  geheim  gehalten 
habe,  denn  die  Schrift  sagt:  Maria  aber  behielt  alle  diese  Worte 
überlegend  in  ihrem  Herzen *  2)  .  .  .  Die  richtige  Zeit  für  die  Ent¬ 
hüllung  des  Geheimnisses  war,  als  Christus  von  den  Todten  auf¬ 
erstanden  und  in  den  Himmel  aufgenommen  war,  als  der  Ruf  des¬ 
selben,  als  des  Wortes  Gottes,  die  Welt  erfüllte,  als  die  Völker  gerufen 
wurden  und  die  göttlichen  Prophezeiungen  ihre  Erfüllung  erhielten, 
denn  der  Erfolg  verlieh  den  Vorahnungen  und  Vorhersagungen  den 
augenscheinlichen  Beweis  3). 

Der  heilige  Hilarius  (f  367  oder  368)  bringt  wenigstens  einen 
Grund  der  Vermählung  vor.  »Damit  über  ihre  Geburt  keine  Zwei¬ 
deutigkeit  bestünde,  wird  er  (Joseph)  als  Zeuge  der  Empfängniss 
Christi  aus  dem  heiligen  Geiste  hinzugenommen«  4). 


b  Matth.  XVT,  13. 

2)  Luc.  IT,  19. 

3)  Quaest.  evang.  ad  Steph.  qu.  T,  1—6.  Vgl.  auch  Euseb.  Pamph.  opusc. 
de  op.  bon.  1.  IX,  bei  Gallandi,  T.  IV. 

4)  Comm.  in  Matth.  Ed.  Paris.  1652,  pag.  497. 


89 


Denselben  Grund  führt  der  heilige  Epiphanius  auf,  und  zwar 
»nach  der  Tradition  der  Juden«  1). 

Ambrosius,  Chrysostomus,  Hieronymus  gehen  wieder  näher 
auf  die  Sache  ein.  Der  erste  wirft  sich  in  seinen  Erläuterungen  zum 
Lukasevangelium  beinahe  wieOrigenes  die  Frage  auf:  »Warum  wurde 
sie  nicht  vor  ihrer  Verlobung  schwanger  ?«  und  antwortet  folgender- 
massen:  »Vielleicht,  damit  man  nicht  sage,  sie  habe  in  Folge  von 
Buhlerei  empfangen.  Die  Schrift  hat  Beides  trefflich  festgestellt, 
sowohl  dass  sie  verlobt,  als  dass  sie  Jungfrau  sei ;  Jungfrau,  damit 
sie  männlicher  Genossenschaft  ledig  erschiene,  verlobt,  damit  sie 
nicht  durch  den  Schimpf  verletzter  Jungfräulichkeit  gebrandmarkt 
würde  ....  Der  Herr  wollte  lieber,  dass  einige  über  seine  Herkunft 
als  über  die  Züchtigkeit  seiner  Mutter  im  Zweifel  seien  2).  Er  wusste 
nemlich,  dass  die  Sittsamkeit  einer  Jungfrau  eine  zarte,  und  der  Ruf 
der  Keuschheit  eine  höchst  empfindliche  Sache  sei;  darum  gedachte 
er  nicht,  den  Glauben  an  seine  Herkunft  durch  eine  (voraussichtliche) 
Beeinträchtigung  seiner  Mutter  zu  stützen.  Es  wird  also  die  Jungfräulich¬ 
keit  der  heiligen  Maria  aufrecht  erhalten,  unbefleckt  —  durch  ihre 
Züchtigkeit,  unverletzlich  durch  die  öffentliche  Meinung;  denn  die 
Heiligen  bedürfen  auch  des  äusseren  Zeugnisses,  und  es  durfte  nicht 
etwa  Jungfrauen,  die  in  zweideutigem  Rufe  stehen,  der  Deckmantel 
der  Entschuldigung  gelassen  werden,  dass  auch  die  Mutter  des  Herrn 
verunglimpft  erscheine.  Was  könnte  aber  auch  den  Juden,  was  dem 
Herodes  vorgeworfen  werden,  wenn  es  den  Anschein  gehabt  hätte, 
als  ob  sie  einen  unehelichen  Sohn  verfolgten?  Wie  könnte  er 
(Christus)  selber  sagen:  Ich  bin  nicht  gekommen,  um  das  Gesetz 
aufzulösen,  sondern  zu  erfüllen  3),  wenn  er  von  einer  Uebertretung 
des  Gesetzes  seinen  Anfang  genommen  zu  haben  geschienen  hätte, 
da  die  Geburt  einer  Unverheiratheten  vom  Gesetze  verdammt  wird? 
Als  vollgültiger  Zeuge  ihrer  Keuschheit  lässt  sich  vielmehr  gerade  ihr 
Gatte  herbeiziehen,  der  sich  über  die  Entehrung  betrüben  und  den 
Schimpf  rächen  konnte,  wenn  er  nicht  das  heilige  Geheimniss  anerkannte. 
Ja  auch  die  Worte  Mariens  erhalten  durch  ihn  grössere  Glaubwür¬ 
digkeit.  Denn  eine  unverheirathete  Schwangere  könnte  den  Schein 
auf  sich  laden,  als  wollte  sie  ihre  Schuld  durch  eine  Lüge  ver- 


’)  Haer.  LXXVIII,  7. 

2)  Derselbe  Gedanke  de  instit.  virg.  42. 

3)  Matth.  V,  18. 


90 


schieiern.  Ursache  zu  lügen  hatte  eine  nicht  Verlobte,  nicht  aber 
eine  Verlobte,  denn  der  Preis  der  Heirath  und  die  Gnade  der  Ehe 
ist  eben  das  Gebären  der  Frauen.  Ein  sehr  beachtenswerther  Grund 
(ihrer  Verlobung)  ist  auch  der,«  setzt  Ambrosius,  den  h.  Ignatius 
und  Origenes  nachahmend  bei,  »damit  die  Jungfräulichkeit  Marias  dem 
Fürsten  der  Welt  entgehe;  denn  wenn  er  sah,  dass  sie  einem  Manne 

verlobt  sei,  konnte  ihm  ihre  Geburt  nicht  verdächtig  sein  ’) . « 

Chrysostomus  äussert  sich  so:  »Christus  wollte  nicht,  dass 
es  zur  Zeit  der  Geburtswehen  den  Juden  offenbar  werde ,  dass  er 
von  einer  Jungfrau  geboren  sei.  (Diess  geschah)  um  die  Jungfrau  zu 

retten  und  von  einem  schlimmen  Verdacht  zu  befreien.  Denn  wenn 

# 

diess  von  Anfang  an  den  Juden  bekannt  gewesen  wäre,  so  hätten 
sie  wohl  die  Jungfrau  verfolgt,  des  Ehebruchs  angeklagt  und  gestei¬ 
nigt  ....  Denn  wenn  sie  nach  so  grossen  Wundern  ihn  (Jesum) 
noch  Josephs  Sohn  nannten,  wie  hätten  sie  vor  den  Wundern  geglaubt, 
dass  er  Sohn  der  Jungfrau  sei?  ...  .  Wer  einmal  überzeugt  ist, 
dass  er  Gottes  Sohn  ist,  dem  bleibt  kein  Zweifel  mehr  über  jenes 
übrig  ....  Darum  sprechen  auch  die  Apostel  nicht  gleich  von 
Anfang  an  hievon.  Von  der  Auferstehung  sprechen  sie  viel  und  oft, 
weil  von  derselben  schon  aus  früheren  Zeiten  Beispiele  Vorlagen, 
wenn  auch  nicht  dieser  (Auferstehung)  ähnliche;  von  seiner  Geburt 
aus  der  Jungfrau  aber  sprechen  sie  nicht  sofort.  Aber  auch  sie, 
die  Mutter,  wagte  es  nicht,  dieses  zu  veröffentlichen *  2).«  Nicht  ein¬ 
mal  dem  Joseph  sagte  sie  etwas  von  ihrem  göttlichen  Geheimniss, 
aus  Besorgniss,  er  möchte  ihr  nicht  glauben;  »denn  wenn  ihr,  die 
eine  so  grosse  Gnade  zu  empfangen  im  Begriffe  stand,  etwas  Mensch¬ 
liches  begegnete,  indem  sie  fragte:  wie  wird  das  geschehen,  da  ich 
keinen  Mann  erkenne,  so  hätte  jener  um  so  mehr  gezweifelt,  beson¬ 
ders  wenn  er  es  von  einem  im  Verdacht  stehenden  Weibe  gehört 
hätte.  Desswegen  sagt  die  Jungfrau  ihm  nichts,  als  aber  die  Zeit 
rief,  tritt  der  Engel  auf3).  Dieser  beruhigt  den  Joseph  wegen  seiner 
Zweifel,  indem  er  ihm  das  göttliche  Geheimniss  mittheilt.  Der 
Evangelist,  um  dem  Verdacht  zu  entgehen,  zu  Gunsten  seines 
Meisters  das  Wunder  erdichtet  zu  haben ,  führt  darum  den  Joseph 


J)  Ad  ev.  Luc.  II,  1 — 3. 

2)  Hom.  III.  in  Matth.  Ed.  Montfaucon  Tom.  VII,  S.  33,  34.  Für  den  letzten 
Satz  s.  Luc.  II,  48. 

3)  Hom.  IV.  Ibid.  S.  54. 


91 


als  Zeugen  auf,  »als  ob  er  sagen  wollte:  Wenn  du  mir  nicht 
glaubst,  wenn  mein  Zeugniss  dir  verdächtig  ist,  so  glaube  ihrem 
Manne  1).« 

Hieronymus  fasst  das  Resultat  längerer  Erörterung  in  seiner 
Schrift  gegen  Helvidius  in  einige  Hauptgründe  der  Vermählung  der 
heiligen  Jungfrau  zusammen.  »Wem  aber  ein  Skrupel  aufsteigt, 
sagt  er,  warum  die  Jungfrau  als  Verlobte  und  nicht  vielmehr  ohne 
Bräutigam  oder  (wie  die  Schrift  sagt)  Gatten  empfangen  habe,  der 
wisse,  dass  ein  dreifacher  Grund  vorhanden  gewesen  sei.  Erstlich, 
damit  durch  die  Genealogie  des  Joseph,  dessen  Verwandte  Maria 
war ,  auch  die  Herkunft  Mariens  bewiesen  werde.  Zweitens, 
damit  sie  nicht  nach  dem  Gesetze  des  Moses  vom  Volk  als  Ehe¬ 
brecherin  gesteinigt  werde.  Drittens,  damit  sie  auf  der  Flucht  nach 
Aegypten  die  Pflege  eines  Beschützers,  wenn  auch  nicht  eines  Gatten 
habe.  Denn  wer  hätte  zu  jener  Zeit  der  Jungfrau  geglaubt,  dass 
sie  vom  heiligen  Geiste  empfangen  habe,  dass  der  Engel  Gabriel 
gekommen  sei  und  Gottes  Befehl  überbracht  habe?  Hätten  sie  nicht 
vielmehr  die  Stimmen  aller  nach  dem  Beispiel  der  Susanna  als 
Ehebrecherin  verdammt,  nachdem  noch  heutzutage,  da  doch  schon 
die  ganze  Welt  gläubig  ist,  die  Juden  als  Beweis  des  Gegentheils 
die  Stelle  des  Jesais  (VII,  4)  anführen,  indem  sie  behaupten,  im 
hebräischen  Text  stehe  »junge  Frau«  nicht  »Jungfrau«  2). 

Augustinus  schliesslich  nennt  den  Joseph  »nicht  den  Räuber, 
sondern  den  Behüter  der  Keuschheit«  Mariens.  »Oder  vielmehr  nicht 
der  Behüter  war  ihr  Gatte,  weil  Gott  sie  behütete,  sondern  der 
Zeuge  jungfräulicher  Züchtigkeit,  damit  man  nicht  glaube,  sie  sei 
durch  Buhlerei  schwanger  geworden3).« 

Die  Gründe  der  Vermählung  Marias  also  sind  in  beiläufiger 
chronologischer  Ordnung,  wie  sie  sich  bei  den  Kirchenvätern  finden, 
folgende : 

1.  das  Empfängnisswunder  musste  dem  Teufel  verborgen  bleiben, 

2.  es  musste  den  Zeitgenossen  Jesu  verborgen  bleiben,  weil  sie 
es  nicht  geglaubt  hätten, 

3.  es  musste  verborgen  bleiben,  weil  die  Mutter  Jesu  der  Schande 
verfallen  oder  gestraft  worden  wäre, 


])  Ibid.  S.  52. 

2)  Adv.  Helv.  4. 

3)  Serrno  225.  2. 


92 


4.  weil  Christus  mit  sich  selbst  in  Widerspruch  gekommen  und 
seinen  Feinden  eine  Angriffswaffe  gegeben  hätte. 

5.  Joseph  wurde  der  Jungfrau  beigesellt,  um  Zeuge  ihrer  Jung¬ 
fräulichkeit  zu  sein, 

(>.  um  durch  seine  Genealogie  auch  die  Herkunft  Marias,  seiner 
Verwandten,  zu  erweisen, 

7.  um  sie  zu  pflegen  und  zu  beschützen. 

Die  Verehelichung  Mariens  wird  also  nach  diesen  Ausführungen 
in  Verbindung  mit  ihrer  Mission  gesetzt;  sie  war  nothwendig,  um 
letztere  zu  erfüllen.  Sie  war  nothwendig  für  die  Anbahnung  des 
Erlösungswerkes,  sie  war  aber  auch  nothwendig  für  die  Person 
Mariens.  Nachdem  jedoch  die  Mission  erfüllt,  nachdem  der  Erlöser 
geboren  war,  wie  gestaltete  sich  jetzt  das  Verhältniss  der  Gatten? 
Blieb  ihr  Bund  auch  nachher  ein  rein  geistiger,  oder  vollzogen  sie 
jetzt  denselben  auch  in  körperlichem  Sinne? 

Die  Evangelien  scheinen  auf  den  ersten  Blick  für  das  Letztere  zu 
sprechen.  Sie  berichten:  Joseph  erkannte  sein  Weib  nicht,  bis  sie  ihren 
Sohn  gebar,  was  anscheinend  schliessen  lässt,  dass  er  sie  nach  der 
Geburt  des  Sohnes  erkannt  habe;  sie  sprechen  von  ihrem  Sohn  als  dem 
Erstgeborenen,  was  anscheinend  Nachgeborene  voraussetzt;  ja  sie  zählen 
sogar  mehrere  Brüder  Jesu  auf  und  sprechen  auch  von  Schwestern  des¬ 
selben.  Wenn  man  diese  Notizen  ganz  unbefangen  und  ohne  weiteres 
Nachdenken  las  oder  hörte,  so  Hessen  sie  sich  sammt  ihren  an¬ 
scheinend  unabweisbaren  Consequenzen  auch  für  ein  gläubiges  Ge- 
müth  recht  wohl  mit  den  vorausgegangenen  Wundern  in  Harmonie 
bringen.  Maria  trat  eben  nach  Erfüllung  ihrer  Mission  vollständig 
zurück  und  kam  in  Hinblick  auf  den  geborenen  Weltheiland  nicht 
weiter  in  Betracht;  ihr  ferneres  Thun  und  Leben  war  vollkommen 
gleichgültig.  Diess  war  wohl  auch  Anfangs  die  Anschauung  einer 
grossen  Anzahl  Christen,  von  denen  ja,  wie  wir  oben  beim  Zug  der 
Jungfräulichkeit  bemerkt  haben,  viele  wohl  Jesum  selber  für  des 
Zimmermanns  Sohn  hielten  und  daher  an  Brüdern  und  Schwestern 
desselben  um  so  weniger  Anstoss  nehmen  konnten. 

Andererseits  darf  angenommen  werden,  dass  schon  frühe  es 
vielen,  welche  sich  in  die  Geheimnisse  der  neuen  Religion  vertieften, 
widerstrebte,  die  Persönlichkeit,  deren  sich  die  Gottheit  bedient  hatte, 
um  sich  mit  der  Menschheit  zu  vereinigen,  nach  Erfüllung  dieses 
Zweckes  gleichsam  wie  ein  ausgebrauchtes  Werkzeug  weggeworfen 
und  in  ordinärem  Weibesberufe  gewissermassen  untergeben  zu  sehen. 


Nöthigte  ja  bei  tieferem  Nachdenken  die  Exegese  selbst  nicht  zu 
dieser  Annahme,  wie  uns  der  Verlauf  der  Untersuchung  zeigen  wird. 
Einem  solchen,  psychologisch  begründeten,  Gefühle  entsprang  ohne 
Zweifel  einestheils  eine  apokryphe  Schrift,  auf  die  wir  unten  zurück¬ 
kommen,  welche  sich  unter  Anderem  die  Aufgabe  stellt,  den  historischen 
Beweis  zu  liefern,  dass  die  Ehe  Mariens  keine  wirkliche,  körperliche, 
sondern  eine  bloss  ideale,  geistige  gewesen  sei,  —  das  Protevangelium 
Jakobi  *).  Hier  erscheint  Joseph  als  hochbetagter  Witwer  mit  er¬ 
wachsenen  Söhnen  aus  einer  früheren  Ehe,  der  Maria  nicht  ohne 
Sträuben  und  erst  nach  göttlichen  Offenbarungen  mit  dem  Bewusst¬ 
sein,  welchen  Schatz  er  zu  hüten  habe,  zu  sich  nimmt.  Das  Prot¬ 
evangelium  stammt  spätestens  aus  der  Mitte  des  zweiten  Jahrhunderts  2) 
und  weist  als  fixirter  Ausdruck  einer  Vorstellung  ebenso  hinter  sich, 
wie,  allerdings  nach  einer  andern  Seite  hin.  die  kanonischen  Evan¬ 
gelien.  Das  Gefühl  also,  welchem  dasselbe  zum  Theil  wenigstens  sein 
Dasein  verdankt,  muss  sich  schon  in  sehr  früher  Zeit  geregt  haben. 
Indessen  wurde  dieses  Gefühl  nur  langsam  zum  allgemeinen  und  wir 
dürfen  annehmen,  dass  die  beiden  entgegengesetzten  Anschauungen 
über  die  Ehe  Mariens  geraume  Zeit  neben  einander  hergingen. 

So  scheint  Tertullian  an  der  physischen  Ehe  noch  kein 
Aergerniss  genommen  zu  haben,  während  sein  jüngerer  Zeitgenosse 
Origenes  dieselbe  bereits  verwirft.  Ersterer  sagt  nemlich  in  seinem 
Buch  über  die  Monogamie:  ».  .  .  .  Und  Christum  zwar  hat  eine 
Jungfrau  geboren ,  welche  nur  einmal  heirathen  wollte  nach  ihrer 
Geburt,  damit  beide  Titel  der  Heiligkeit  bei  der  Schätzung  Christi 
verzeichnet  werden  könnten,  durch  seine  Mutter  nemlich,  da  sie  sowohl 
Jungfrau  als  Eines  Mannes  Frau  war  3).«  Doch  Hesse  sich  hiebei 
an  das  zwar  wahrhafte,  wenn  auch  nicht  fleischliche  Ehebündniss 
Josephs  mit  seiner  Schutzbefohlenen  denken.  Zudem  ist  die  Leseart 
des  sonst  trefflichen  Herausgebers  des  Tertullian,  Rigaltius:  post 
partum  (nach  der  Geburt)  angefochten  und  von  Einigen  durch  ob 
partum  (wegen  der  Geburt)  korrigirt.  Die  Stelle  gäbe  dann  etwa 
den  Sinn:  Maria  habe  einmal  geheirathet  wegen  der  Geburt,  d.  h. 
um  ohne  Aergerniss  und  Gefahr  Mutter  des  Erlösers  werden  zu 


’)  Tischendorf,  Evang.  apocr.  ed.  II,  Lips.  1876. 

2)  Ibid.  Proleg.  p.  XIII.  Vgl.  Tischendorf:  »Wann  wurden  unsere  Evangelien 
verfasst«.  4.  A.  S.  76. 

3)  De  monog.  8. 


94 


können ,  und  würde  dann  nur  dasselbe  sagen ,  was  die  oben  ange¬ 
führten  Schriftsteller  über  den  Grund  ihrer  Verehelichung  gesagt 
haben.  Aber  um  uns  jeden  Zweitel  zu  nehmen,  kommt  er  in  seinem 
Buch  »über  die  Verhüllung  der  Jungfrauen«  auf  seine  Erklärung 
des  Wortes  »Weib«  (mulier),  womit  Maria  einige  Mal  in  der  Schrift 
bezeichnet  wird,  zurück.  Er  führt  aus:  Der  Apostel  habe  Maria 
nicht  etwa  desshalb  »Weib«  genannt,  weil  sie  schon  verlobt,  obwohl 
noch  unverletzt  gewesen  sei.  Der  Apostel  habe  da  nicht  prophetisch 
vorgegriffen ,  und  das  künftige,  das  verheirathete  Weib  gemeint. 
»Denn  nicht  konnte  er  das  Weib,  wie  es  nachher  war,  meinen,  von 
der  Christus  nicht  zu  stammen  hatte,  d.  h.  das  Weib,  das  dem 
Mann  sich  ergeben  (virum  passam),  sondern  das  Weib,  wie  es  gegen¬ 
wärtig  war,  das  noch  Jungfrau  war«  *),  welche  Bedeutung  das  Wort 
AVeib‘  nicht  ausschliesse ,  u.  s.  f.  Das  scheint  unzweideutig  ge¬ 
sprochen  und  wurde  auch  von  spätem  Kirchenvätern,  wie  wir  sehen 
werden,  in  dem  nächstliegenden  Sinne  aufgefasst. 

Origen  es  dagegen  spricht  an  mehreren  Stellen  seine  gegen- 
theilige  Ueberzeugung  deutlich  aus.  So  zu  Luk.  I,  42:  »Gesegnete 
du  unter  den  Weibern.«  »Wir  müssen  bei  dieser  Stelle,  sagt  er, 
damit  die  Einfältigen  sich  nicht  täuschen  lassen,  das,  was  die  Häre¬ 
tiker  entgegenzuhalten  pflegen,  widerlegen.  Man  hat  sich  nemlich 
in  solchen  Unsinn  verrannt,  dass  man  behauptete,  Maria  sei  von 
dem  Heiland  verleugnet  worden,  weil  sie  nach  seiner  Geburt 

sich  mit  Joseph  verbunden  habe . Wenn  also  einmal 

die  Häretiker  euch  so  etwas  einwerfen,  so  antwortet  ihnen  mit  den 
Worten:  Gesegnete  du  unter  den  Weibern.  Wenn  Maria  als  vom 
heiligen  Geiste  Gesegnete  verkündigt  wird,  wie  hat  sie  der  Heiland 
verleugnen  können?  Wenn  man  ferner  behauptet,  sie  habe  nach 
ihrer  Geburt  geheirathet,  hat  man  dafür  keinen  Beweis.  Denn  die¬ 
jenigen,  welche  Söhne  Josephs  genannt  werden,  waren  nicht  von 
Maria  geboren,  und  es  exislirt  kein  Schriftstück,  welches  diess  er¬ 
wähnte* 2).«  An  einem  andern  Orte  sagt  er:  »Es  gibt  keinen  Sohn 
Mariä,  nach  denen,  welche  vernünftig  über  sie  denken,  ausser 
Jesus3).«  Und  zu  Matth.  XIII,  55,  56:  »Heisst  nicht  seine  Mutter 
Maria?  Und  seine  Brüder  Jakobus,  Joseph  etc.«  macht  er  die  Be- 


9  De  virg.  vel.  VI. 

*)  Horn.  VII,  in  Luc.  Bd.  III,  S.  940. 

3)  Comm.  in  .Joann.  Bd.  IV,  S.  6. 


merkung:  »Sie  meinten  nemlich,  er  sei  Josephs  und  Marias  Sohn; 
von  den  Brüdern  Jesu  aber  behaupten  Einige,  sie  seien  Söhne  Josephs 
von  einer  früheren  Gattin ,  die  er  vor  Maria  geheirathet  habe.  Sie 
wurden  nemlich  hierauf  gebracht  durch  die  Ueberlieferung  des 
Evangeliums,  welches  die  Aufschrift  führt  , Evangelium  nach  Petrus4, 
(das  wir  nicht  mehr  besitzen)  oder  des  (oben  erwähnten)  Buches 
des  Jakobus.  Die  aber,  welche  dieses  sagen,  wollen  die  jungfräuliche 
Würde  Mariä  bis  zum  Ende  bewahren ,  damit  nicht  jener  Leib, 
welcher  auserwählt  ward  zum  Dienste  des  Wortes,  das  da  sprach: 
,der  heilige  Geist  wird  über  dich  kommen  und  die  Kraft  des  Höchsten 
wird  dich  überschatten4 ,  das  Bett  des  Mannes  kennen  lerne  nach 
der  Herabkunft  des  heiligen  Geistes  über  sie  und  nach  ihrer  Ueber- 
schattung  von  der  Kraft  aus  der  Höhe.  Und  ich  glaube,  dass  es 
Grund  hat ,  dass  Jesus  das  reine  Erstlingsopfer  geworden  ist  der 
Keuschheit  der  Männer,  Maria  aber  —  der  Weiber.  Es  lässt  sich 
doch  nicht  annehmen ,  dass  eine  andere  ausser  ihr  das  Erstlings¬ 
opfer  der  Jungfrauschaft  sich  zuschreibe  1).« 

Im  Zusammenhang  mit  dieser  Anschauung  des  Origenes  von 
dem  bräutlich  gebliebenen  Verhältniss  Mariens  zu  Joseph  steht  auch 
die  Sage,  die  er  über  den  Tod  des  Zacharias  (des  Vaters  Johannes, 
des  Täufers)  mittheilt.  »Es  ist  folgende  Sage  auf  uns  gekommen: 
Im  Tempel  (zu  Jerusalem)  sei  ein  Platz  gewesen,  wo  nur  Jungfrauen 
stehen  und  zu  Gott  beten  durften.  Verheirathete  Frauen  aber  durften 
dort  nicht  stehen.  Maria  aber,  als  sie  nach  der  Geburt  des  Heilandes 
den  Tempel  betrat,  stellte  sich  auf  jenen  Platz  der  Jungfrauen.  Da 
nun  diejenigen,  welche  wussten,  dass  sie  schon  einen  Sohn  geboren 
habe,  sie  wegweisen  wollten,  trat  Zacharias  auf  und  sprach  zu  den¬ 
selben:  Sie  ist  würdig  des  Platzes  der  Jungfrauen,  denn  sie  ist  Jung¬ 
frau.  Weil  daher  Zacharias  scheinbar  aufs  augenfälligste  gegen  das 
Gesetz  handelte,  indem  er  einer  Frau  erlaubte,  auf  dem  Platze  der 
Jungfrauen  zu  stehen;  tödteten  ihn  die  Männer  jener  Generation 
zwischen  Tempel  und  Altar  2).« 

Aus  diesen  Stellen  lässt  sich  entnehmen,  dass  Origenes  die  Ehe 
Mariens  für  eine  fortdauernd  bräutliche  hält  und  zwar  einmal  aus 
historischen  Gründen,  weil  er  die  »Brüder  Jesu«  nach  den  ange- 


')  Comm.  in  Matth.  X,  17,  Bd.  III,  S.  462  u.  63. 

2)  Comm.  in  Matth.  T.  III,  S.  845.  Vgl.  Comm.  in  Luc.  Galland.  XIV. 
App.  S.  103. 


führten  apokryphen  Quellen  für  Söhne  Josephs  aus  erster  Ehe  anzu¬ 
sehen  geneigt  ist,  dann  aber  und  hauptsächlich  aus  philosophischen 
Gründen,  weil  ihm  eine  Degradation  der  Mutter  des  Herrn  zu  einem 
gewöhnlichen  Eheweib  unerträglich  vorkommt.  Er  nennt  sogar  eine 
gegentheilige  Ansicht  häretisch  und  daraus  muss  gefolgert  werden, 
dass  zu  seiner  Zeit,  also  in  der  ersten  Hälfte  des  dritten  Jahrhunderts, 
die  Anschauung  von  der  Ehe  Mariens  als  einer  rein  geistigen  die 
überwiegende  Majorität  für  sich  hatte.  Hierauf  deuten  auch  die 
beiden  weitern  von  ihm  namhaft  gemachten  Quellen,  die  uns  nicht 
mehr  bekannt  sind,  hin,  das  »Petrusevangelium«  und  die  Sage  über 
den  Grund  der  Ermordung  des  Zacharias,  wenn  anders  letztere  Sage 
nicht  etwa  ein  Theil  des  ersteren  war.  Ihm  bleibt  also  Maria  auch 
in  der  Ehe  »die  Jungfrau« ;  ja  er  verweist  diese  für  ihn  feststehende 
Thatsache  bereits  in  das  sittliche  Gebiet,  bei  rächtet  sie  nicht  bloss 
als  äussere  würdige  Veranstaltung,  sondern  als  Willensakt,  als  Opfer, 
und  wird  hiemit  zum  Ersten,  der  das  später  angenommene  Keuschheits¬ 
gelübde  Mariens  wenigstens  andeutet. 

Mit  Origenes  stimmt  sein  (vor  ihm,  etwa  a.  285,  gestorbener) 
Zeitgenosse  Hippolytus  sicher  überein.  Abgesehen  davon,  dass  er 
Maria  beinahe  überall,  wo  er  ihren  Namen  erwähnt,  vorzugsweise 
die  Jungfrau  (?)  TiaoÖ-evog)  nennt,  drückt  er  sich  einmal  typologisch 
aus:  »Der  Herr  war  sündenlos  und  seiner  Menschheit  nach  aus  dem 
unverweslichen  Holze  (vorher  geht:  Noa's  Arche  sei  aus  un¬ 
verweslichem  Holz  gewesen),  d.  h.  aus  der  Jungfrau  und  dem 
heiligen  Geiste  .  .  .  .«  Dieses  »unverwesliche  Holz«  der  Arche  war 
für  Hippolytus  ohne  Frage  ein  Vorbild  der  beständigen  Jungfräu¬ 
lichkeit  Mariens,  denn  ein  andermal  nennt  er  sie  geradezu  »eine 
Mutter,  die  mit  dem  Manne  nicht  bekannt  geworden  (dTTglparöpog)«  *)• 

Nach  Origenes  haben  wir  keinen  weiteren  Schriftsteller  des 
dritten  Jahrhunderts  mehr  aufzuführen,  der  sich  über  die  Sache  ge- 
äussert  hätte.  Wir  dürfen  aber  mit  Grund  annehmen,  dass  seine 
Ansicht  so  ziemlich  die  allgemeine  blieb.  Namentlich  scheint  die  An¬ 
nahme  der  »Brüder  Jesu«  als  Josephs  Söhne  aus  erster  Ehe  um  sich 
gegriffen  zu  haben,  denn  wir  besitzen  aus  dem  vierten *  2)  Jahrhundert 


!)  S.  die  Fragmente  bei  Galland.  T.  II,  496  ff.:  Ex  oratione  in  illud;  Dominus 
pascit  me;  Ex  serm.  in  Prov.  IX,  1  u.  s.  w. 

2)  Tischendorf.  Ev.  ap.  Prol.  p.  XXXIV.  Schade,  über  de  infantia  Mariae. 
Hai.  Sax.  1869.  p.  6. 


97 


ein  weiteres  Apokryph,  die  »Geschichte  Josephs,  des  Zimmermanns«, 
dessen  erster  Theil ,  die  Jugendgeschichte  Mariens  umfassend,  von 
Thilo  x)  für  den  Rest  einer  viel  altern  Schrift  erklärt  wird ,  und  in 
diesem  ersten  Theile  treten  die  »Brüder  Jesu«  wiederum  als  Söhne 
aus  Josephs  erster  Ehe  und  zwar  unter  den  Namen  Judas,  Justus, 
Jakobus  und  Simeon,  sammt  ihren  Schwestern  aus  derselben  Ehe, 
Assia  und  Lydia,  auf. 

Für  die  Verallgemeinerung  der  Anschauung  des  Origenes  spricht 
aber  hauptsächlich  der  Umstand,  dass  sich  die  entgegengesetzte  An¬ 
schauung  im  vierten  Jahrhundert  nur  bei  bekannten  Häretikern  findet. 
Und  zwar  waren  es  nach  dem  Berichte  des  arianischen  Kirchenhistorikers 
Philostorgius *  2)  zunächst  etliche  arianische  Parteihäupter,  namentlich 
Eudoxius  und  Eunomins,  welche  die  beständige  Virginität  Mariens 
leugneten.  Letzterer  behauptete  in  einer  Predigt  am  Erscheinungsfeste 
geradezu:  Maria  sei  nach  der  Geburt  Christi  von  Joseph  erkannt  worden. 
—  Aber  auch  von  den  Gegnern  des  Arianismus,  den  Apollinaristen,  wird 
dasselbe  erzählt.  Wenigstens  bemerkt  Epiphanius,  dass  »Einige  ver¬ 
sichern,  ein  Theil  der  Dimöriten  (etwa  Zweitheilige,  weil  sie  von  den 
platonischen  drei  Bestandtheilen  des  Menschen  nur  zwei  in  Christus 
zugeben)  behaupte  von  Maria,  dass  sie  nach  der  Geburt  Christi  mit 
ihrem  Manne  Joseph  ehelichen  Umgang  gepflogen  habe  3).  Mehr 
Aufsehen  erregte  in  der  zweiten  Hälfte  des  Jahrhunderts  die  Sekte 
der  Antidikomarianiten,  d.  h.  Gegner  Mariä.  Ja,  gegen  das 
Ende  des  Jahrhunderts  begegnen  uns  im  Abendland  einige  Namen, 
welche,  obschon  deren  Träger  auch  in  andern  Dingen  von  der  Kirchen¬ 
lehre  abwichen,  hauptsächlich  durch  die  Opposition  gegen  die  be¬ 
ständige  Jungfräulichkeit  Mariens  bekannt  geworden  und  geblieben  sind. 

Ueber  die  genannte  Sekte  sowie  über  die  abendländischen 
Gegner  sind  uns  nähere  Nachrichten  aufbewahrt  und  wir  wollen  sie 
daher  der  Reihe  nach  kennen  lernen. 

Der  erste,  welcher  die  Antidikomarianiten  erwähnt  und 
welcher  vielleicht  diesen  Namen  für  die  Richtung  aufgebracht  hat,  ist 
der  h.  Epiphanius,  Erzbischof  von  Salamis  auf  Cypern  (f  403).  Er 
richtete,  sobald  er  von  der  Existenz  der  Sekte,  die  besonders  in  Arabien 
ihr  Wesen  trieb,  erfahren  hatte,  ein  Sendschreiben  gegen  sie  und  nahm 


b  Cod.  apocr.  p.  XX. 

2)  h.  e.  1.  VI,  c.  2. 

3)  Epipb.  haer.  77,  26. 

L  ebner.  Die  Marien  Verehrung. 


7 


08 


dieses  auch  in  sein  Buch  über  die  Häresieen  auf.  Ueber  den  Ursprung 
der  Sekte  ist  er  nicht  im  Klaren,  bemerkt  jedoch,  »dass  Einige  meinen, 
sie  stamme  von  dem  alten  Apollinaris  oder  von  seinen  Schülern 
her«.  Ihre  Meinung  über  Maria  lassen  wir  ihn  mit  seinen  eigenen 
Worten  erzählen:  »Aus  der  Heerde  der  Antidikomarianiten  sind 
Einige  gleichsam  aus  besonderem  Hass  gegen  die  Jungfrau,  um  ihren 
Ruhm  zu  verdunkeln,  oder  aus  Neid,  oder  aus  Irrthum,  um  die 
Gemüther  der  Sterblichen  zu  beflecken,  soweit  in  ihrer  Vermessenheit 
gegangen ,  dass  sie  behaupteten ,  die  heilige  Maria  habe  nach  der 
Geburt  Christi  mit  ihrem  Manne  Joseph  ehelichen  Umgang  ge¬ 
pflogen  *).«  —  Wie  aus  dem  weitern  Verlauf  hervorgeht,  schöpfte 
diese  Sekte  ihre  Ansicht  aus  den  oben  ausgehobenen  Bibelstellen. 
Sie  nahm  die  »Brüder  Jesu«  als  leibliche  Brüder,  sie  schloss  aus 
den  Worten  Matth.  I,  18:  »sie  befand  sich,  ehe  sie  zusammenkamen, 
schwanger  vom  heiligen  Geiste«,  dass  sie  nachher  zusammengekom¬ 
men  seien,  d.  h.  ehelich  gelebt  haben,  und  schliesslich  wies  ihr  die 
Stelle  Matth.  I,  25:  »er  erkannte  sie  nicht,  bis  sie  ihren  erst¬ 
geborenen  Sohn  geboren«,  auf  nachgeborene  Söhne  hin. 

Epiphanius  nun  fängt  seine  Widerlegung  mit  einem  kurzen 
Rückblick  auf  die  früheren  Häresieen  an.  Eine  Menge  Häretiker, 
sagt  er,  haben  nach  und  nach  die  einzelnen  Personen  der  Trinität 
angegriffen  und  geschmäht,  jetzt  gehe  die  Schmähsucht  weiter,  »denn 
ich  höre,  dass  man  über  die  heilige  Maria,  die  immerwährende  Jung¬ 
frau,  grundlose  Meinungen  hegt  und  wagt,  auf  sie  einen  verleumde¬ 
rischen  Verdacht  zu  schleudern« *  2).  Es  sei  eine  schlimme,  gottes¬ 
lästerliche  Zeit;  wie  man  nur  auf  so  etwas  kommen  könne!  »Ist 
nicht  ihr  Name  selbst  ein  Zeugniss?  Ueberzeugt  nicht  schon  dieser 
dich,  du  Streitsüchtiger  ?  Wer  hat  jemals,  oder  in  welchem  Zeitalter 
hat  Einer  gewagt,  den  Namen  der  heiligen  Maria  zu  nennen,  ohne, 
wenn  man  ihn  fragte,  sogleich  das  Wort  Jungfrau  beizusetzen? 
Denn  aus  den  Beinamen  selbst  erhellen  auch  die  Merkmale  der 
Tugend.«  So  habe  Abraham  Freund  Gottes  geheissen,  Jakob 
Israel  u.  s.  w.  »und  die  heilige  Maria  führt  den  Beinamen  Jung¬ 
frau,  und  das  wird  sich  nicht  ändern,  denn  unbefleckt  verblieb  die 
Heilige«  ....  »0!  der  wahnwitzigen  Neuerung,  .  .  .  o!  über  unser 
trübes  Zeitalter!  .  .  .  Wie  kann  man  sich  an  die  unbefleckte  Jung- 


Haer.  78. 

2)  Ibid.  78,  5. 


99 


frau  wagen,  die  gewürdigt  ward,  Wohnung  des  Sohnes  zu  sein,  die 
gerade  dazu  aus  den  Myriaden  Israels  auserlesen  ward,  um  Gefäss 
und  Wohnung  für  die  göttliche  Geburt  allein  zu  sein?1)«  Nach 
dieser  Einleitung,  die  wir  ihrer  charakteristischen  Exklamationen 
wegen  nicht  auslassen  wollten,  geht  Epiphanius  zur  Beleuchtung  der 
einzelnen  Gründe  der  Sekte  über.  —  Was  zunächst  die  Erklärung 
der  Brüder  des  Herrn  als  Söhne  Marias  betrifft,  so  behauptet 
auch  er  dagegen,  dieselben  seien  Söhne  Josephs  aus  einer  frühem 
Ehe.  Er  lehnt  sich  hier  nicht  einfach  an  das  Protevangelium  an, 
sondern  beruft  sich  ausdrücklich  auf  die  Tradition  der  Juden. 
Joseph,  Bruder  des  Kleophas,  war  Sohn  des  Jakob  mit  dem  Bei¬ 
namen  Panther.  (Letzterer  Name  begegnete  uns  schon  bei  Celsus!) 
Er  hatte  aus  früherer  Ehe  mit  einer  Frau  aus  dem  Stamme  Juda 
sechs  Kinder,  vier  Söhne  und  zwei  Töchter.  Sein  ältester  Sohn  war 
Jakobus  mit  dem  Beinamen  Oblias,  bei  dessen  Geburt  Joseph  etwa 
40  Jahre  zählte.  Dieser  ist  es,  der  besonders  unter  dem  Beinamen 
Bruder  des  Herrn  im  Neuen  Testamente  auftritt.  Nachher  be¬ 
kam  Joseph  den  Jose,  Simeon  und  Judas  und  die  beiden  Töchter 
Maria  und  Salome.  Lange  nach  dem  Tode  seiner  Frau,  mit  etwa 
80  Jahren ,  heirathete  er  Maria 2).  Diess  lässt  sich  auch  aus  fol¬ 
gendem  Umstande  berechnen:  Sein  Sohn  Jakobus  starb  etwa  24  Jahre 
nach  der  Himmelfahrt  des  Herrn  im  Alter  von  96  Jahren,  war  also 
beiläufig  40  Jahre  älter  als  Christus3). 

Dass  sie  keine  Söhne  ausser  Jesus  hatte,  geht  indessen  auch 
daraus  hervor,  dass  Christus  am  Kreuze  sie  dem  Johannes  empfahl. 
»Hätte  Maria  Kinder  gehabt,  oder  hätte  ihr  Mann,  der  kurz  nach 
der  Preise  mit  dem  zwölfjährigen  Jesus  nach  Jerusalem  starb,  noch 
gelebt,  warum  hätte  Christus  sie  dem  Johannes,  den  Johannes  ihr 
empfohlen  ?  Warum  übergibt  er  sie  nicht  vielmehr  dem  Petrus  oder 
Andreas,  Matthäus,  Bartholomäus?  Offenbar  dem  Johannes  wegen 
seiner  Jungfräulichkeit.  , Siehe,  deine  Mutter1,  sagt  er.  Gleichwohl 
war  sie  nicht  Mutter  des  Johannes  dem  Fleische  nach.  Aber  (er 
sagte  diess,)  um  seine  Mutter  selbst  als  Anfängerin  der  Jungfräulich¬ 
keit  zu  bezeichnen ,  weil  aus  ihr  das  Leben  hervorging.  Und  dem 
Johannes,  obwohl  er  dem  Fleische  nach  ein  Fremder  war,  sagte  er 


')  Ibid.  78,  6. 

2)  Ibid.  78,  7  u.  8,  vgl.  27,  7.  Vgl.  auch  Ancoratus,  num.  (J. 

3)  Ibid.  78,  14. 


100 


das,  um  ihm  zu  zeigen,  dass  seine  (Christi)  Mutter  zu  ehren  sei. 
Denn  dem  Fleische  nach  ist  der  Herr  wahrhaft  aus  ihr  geboren, 
damit  nicht  Jemand  glaube,  der  Vorgang  (der  Incarnation)  sei  nur 
Schein,  nicht  Wahrheit.  Denn  wenn  sie  nicht  dem  Fleische  nach 
wahrhaft  seine  Mutter  gewesen  wäre,  so  hätte  er  sich  wohl  nicht 
um  sie  diese  Mühe  gegeben,  sie  zu  empfehlen.  Sie,  die  immer¬ 
währende  Jungfrau,  die  zwar  Mutter  geworden  wegen  des  göttlichen 
Rathschlusses,  aber  unbefleckt  blieb  und  das  wunderbare  Gefäss  war 
wegen  der  Glorie  ebendesselben  (Christi).  Aber  das  Evangelium 
sagt:  und  von  jenem  Tage  an  nahm  er  sie  zu  sich.  Wenn  sie  aber 
einen  Mann,  wenn  sie  ein  Haus,  wenn  sie  Kinder  hatte,  hätte  sie 
sich  vielmehr  in  ihr  Eigen  begeben,  als  zu  dem  Fremden  x)«. 

Diesen  äussern,  historischen  Beweisen  fügt  nun  Epiphanius  noch 
andere  bei,  zunächst  einen  innern,  aus  dem  Charakter  und  der 
Mission  der  Persönlichkeiten  hergeleiteten.  »Beide  waren  gerecht. 
Darum  konnte  er,  der  gehört  hatte,  dass  das,  was  in  ihr  war,  vom 
heiligen  Geiste  sei,  nach  solcher  göttlichen  Anordnung  doch  nicht 
wagen,  dem  Gefässe  sich  nähern  zu  wollen,  das  gewürdigt  war,  den 
zu  umschliessen,  welchen  Himmel  und  Erde  nicht  umschliesst  wegen 
des  Uebermasses  seiner  Herrlichkeit.  Und  wenn  auch  jetzt  noch 
auf  seinen  Namen  Jungfrauen  den  Kampf  der  Keuschheit  und  Ent¬ 
haltsamkeit  bestehen,  um  wie  viel  mehr  muss  man  das  von  Joseph 
und  Maria  glauben,  welche  letztere  , Alles  in  ihrem  Herzen  bewahrte1, 
wie  geschrieben  steht?  Und  der  Greis,  nachdem  er  von  einem  so 
grossen  und  so  unaussprechlichen  Rathschluss  Gottes  (f<erd  roaav rrjv 
y. cu  roiavTtjv  xal  Ti]'kiYavTrlv  oixovot-ilav  —  Epiphanius  liebt  diese  Häufung 
der  Quantitativ-  und  Qualitativpronomina)  Kunde  erhalten  hatte,  — 
der  Greis  sollte  beigewohnt  haben  der  reinen  und  hochgeehrten 
Jungfrau,  dem  Gefäss,  das  den  Unfasslichen  gefasst  und  ein  solches 
Geheimniss  himmlischen  Wunders  und  des  Lebens  der  Menschen 
aufgenommen  ?«  2)  »Sein  Sohn  Jakobus  war  Nazoräer  und  also 
ehelos.  Wenn  nun  die  Kinder  Josephs  jungfräulichen  Stand  und 
Nazoräerpflicht  hielten ,  um  wie  viel  mehr  musste  der  verehrungs¬ 
würdige  alte  Mann  die  Jungfräulichkeit  zu  bewahren  wissen  und 
ehren  das  Gefäss,  worin  das  Heil  der  Menschen  gewohnt?  3)  Wenn 


b  Haer.  78,  10. 

2)  Haer.  78,  8. 

3)  Ihid.  78,  14. 


101 


er  die  Engelschaaren  bei  der  Geburt  Jesu  Gott  lobpreisen  hörte, 
wenn  er  die  Hirten,  wenn  er  alle  die  Wunder  sah,  wie  konnte  er 
wagen,  den  heiligen  Leib,  in  welchem  Gott  gewohnt  hatte,  zu  miss¬ 
handeln  und  zu  entehren  ?  wie  konnte  er  wagen  beizuwohnen  der 
so  hohen  und  herrlichen  (roaavTTj  ml  roiavrrj)  heiligen  Jungfrau 
Maria?  x)  Obwohl  die  Ehe  geheiligt  ist,  so  hatte  doch  Moses  nach 
seiner  Berufung  den  ehelichen  Umgang  mit  seinem  Weibe  aufgegeben, 
die  Töchter  des  Apostels  Philippus  hatten  die  Prophetengabe  wegen 
ihrer  Jungfräulichkeit,  Thekla  liess  von  ihrem  Bräutigam,  als  sie  den 
Apostel  Paulus  gehört  hatte;  um  wie  viel  mehr  musste  Maria  Jung¬ 
frau  bleiben!«  u.  s.  f. *  2) 

Um  die  Thatsache,  dass  Maria  nach  Christi  Geburt  nicht  weiter 
geboren  habe,  noch  anderweitig  zu  begründen,  bringt  Epiphanius 
sodann  folgendes  Analogon  aus  der  Naturgeschichte.  »Von  der  Löwin 
sagt  man,  dass  sie  bloss  einmal  gebäre.«  Das  prächtige,  starke, 
königliche  Thier  empfange  von  einem  Männchen  und  trage  26  Monate 
lang,  so  dass  der  junge  Löwe  schon  im  Mutterleibe  alle  Zähne  und 
Krallen  in  voller  Ausbildung  bekomme.  Durch  seine  Bewegungen 
zerreisse  das  junge  Thier  die  Gebärmutter,  diese  werde  mit  ihm 
ausgeschieden  und  so  verliere  die  Löwin  sowohl  Fähigkeit  als  Trieb 
zu  fernerem  Gebären.  Diess  sei  ein  Gleichniss  für  Maria.  Denn  wenn 
mit  dem  »Jungen  des  Löwen«,  wie  Jakob  seinen  Sohn  Juda  nannte  3), 
eigentlich  Christus  gemeint  ist,  was  durch  die  Offenbarung  Johannis 
V,  5  bewiesen  ist,  wo  es  heisst:  sieh,  es  siegte  der  Löwe  aus  dem 
Stamme  Juda,  »wenn  also  Christus  mit  dem  Löwen  verglichen 
wird  .  .  .  .,  so  möchte  ich  auch  die,  die  ihn  geboren  hat,  Löwin 
nennen.  Woher  denn  soll  ein  Löwe  geboren  werden,  wenn  nicht 
seine  Mutter  Löwin  genannt  wird.  Eine  Löwin  aber  gebiert  nicht 
zum  zweiten  Male,  daher  weiss  auch  Maria  von  einer  weiteren  Geburt 
nichts  mehr,  daher  kennt  die  heilige  Jungfrau  keine  körperliche  Ver¬ 
bindung«  4). 

Mit  dieser  Beweisführung  verbindet  Epiphanius  schliesslich  noch 
seine  eigene  Interpretation  der  übrigen  angefochtenen  Stellen:  Matth. 
I,  18  und  25,  »Maria  befand  sich,  ehe  sie  zusammenkamen, 


b  Ibid.  78,  15. 

ä)  Ibid.  78,  16. 

3)  Genes.  XLIX,  9. 

4)  Haer.  78.  12. 


102 


schwanger  etc.«  und  »er  erkannte  sie  nicht,  bis  sie  ihren  erst¬ 
geborenen  Sohn  gebar  etc.«  Die  Worte  »er  erkannte  sie  nicht« 
nimmt  Epiphanius  nicht  in  dem  Sinne  von  geschlechtlicher  Ver¬ 
mischung,  sondern  im  eigentlichen  Sinne.  »Er  erkannte  sie  nicht. 
Woher  hätte  er  denn  wissen  sollen,  dass  ein  Weib  solche  Gnade 
erlangen  würde?  Woher  hätte  er  wissen  sollen,  dass  eine  Jungfrau 
solcher  Herrlichkeit  gewürdigt  würde?  Er  erkannte  sie  wohl  als 
Weib  ihrer  Bildung  nach,  als  ein  weibliches  Wesen  ihrem  Geschleehte 
nach,  als  Tochter  Annas  und  Joachims,  als  Verwandte  der  Elisa¬ 
beth,  aus  dem  Hause  und  der  Familie  des  David.  Aber  er  wusste 
nicht,  dass  Jemand  auf  Erden  mit  solcher  Ehre  ausgezeichnet  werden 
würde,  absonderlich  ein  Weib.  Er  erkannte  sie  also  nicht,  bis  er 
das  Wunder  sah,  er  erkannte  das  Wunder  an  ihr  nicht,  bis  er  das 
aus  ihr  Geborene  sah.  Als  sie  aber  geboren  hatte,  erkannte  er  auch 
die  von  Gott  ihr  angethane  Ehre,  dass  sie  es  war,  welche  den  Gruss 
gehört  hatte :  sei  gegrüsst,  Gnadenvolle,  der  Herr  sei  mit  dir  1).  Und 
die  Worte  ,ehe  sie  zusammenkamen4  stehen  darum  da,  damit  nicht 
die  Meinung  derjenigen  Raum  gewinne,  welche  glaubten,  aus  der 
Verbindung  mit  dem  Manne  stamme  die  geheimnissvolle  Frucht 
göttlichen  Rathschlusses.  (Der  Evangelist)  meint  damit:  ehe  das 
geschah,  was  erwartet  wurde.  Aber  es  geschah  nicht.  Selbst  wenn 
Joseph  geschlechtliche  Vereinigung  erwartet  haben  sollte,  was  aber 
wegen  seines  Alters  nicht  möglich  war,  so  sorgt  doch  die  heilige 
Schrift  dafür  und  bestärkt  uns  im  Glauben,  dass  nie  ein  Mann 
sich  der  Jungfrau  genähert  habe.  Niemand  könne  beweisen,  dass  sie 
nachher  zusammengekommen  seien,  jene  Worte  wollen  nur  constatiren, 
dass  die  Empfängniss  des  Heilandes  unbefleckt  gewesen  sei  2).  Und 
was  die  Worte  , ihren  Erstgeborenen4  betreffe,  so  sage  Matthäus 
eigentlich  nicht  , ihren4  Erstgeborenen  (Tipcoröroxov  avrfjg) ,  sondern 
, ihren  Sohn,  den  Erstgeborenen4  (röv  vlov  avTrjg ,  tov  Tipcoröroxov). 
Unter  diesem  Erstgeborenen  sei  nicht  so  fast  der  Erstgeborene 
Marias  zu  verstehen,  als  vielmehr  der  Erstgeborene  der  Schöpfung,  wie 
er  im  Kolosserbriefe  heisse  3) ,  und  der  Erstgeborene  unter  vielen 
Brüdern,  wie  im  Römerbrief4).  Er  heisst  Erstgeborener  des  Vaters 


!)  Ibid.  78,  17  u.  20. 

*>  Ibid.  78,  20  u.  21. 

3)  Koloss.  I,  15. 

4)  Rom.  VIII,  29. 


103 


im  Himmel,  nicht  als  ob  nach  ihm  vom  Vater  noch  andere  Söhne  gezeugt 
worden  wären,  er  hat  keinen  Bruder,  denn  er  ist  der  Eingeborene. 
So  heisst  er  bei  seiner  Menschwerdung  immer  auch  der  Erstgeborene 
Mariens  und  doch  ist  er  der  Eingeborene  Mariens  und  hat  keinen 
Bruder  aus  ihr  1).« 

Ist  nun  auch  die  Exegese  des  Epiphanius  nicht  durchaus  die 
glücklichste  und  überzeugendste,  —  soviel  geht  aus  seinem  Send¬ 
schreiben  klar  hervor,  dass  die  Anfechtung  des  immerwährend  jung¬ 
fräulichen  Lebens  Marias  von  ihm  als  etwas  Neues,  Unerhörtes,  das 
gläubige  Gefühl  der  Christenheit  Empörendes  behandelt  wird.  Seine 
Darstellung  weist  offenbar  weit  hinter  seine  Zeit  zurück  und  kann 
unsere  oben  ausgesprochene  Vermuthung  nur  bestärken,  dass  schon 
Origenes  im  Namen  der  Majorität  gesprochen  habe.  Auch  dass  er 
dem  Jakob,  dem  Vater  des  Joseph,  den  Beinamen  Panther  gibt,  dass 
er  Josephs  Kinder  mit  grösstentheils  anderen  Namen  aufführt,  als 
»die  Geschichte  Josephs  des  Zimmermanns«  ,  ist  ein  Beweis  dafür, 
dass  die  jungfräuliche  Ehe  Mariens  durch  mehrere,  von  einander 
unabhängige,  Erzählungen  zu  begründen  versucht  wurde,  und  spricht 
ebenfalls  für  die  Verbreitung  dieser  Vorstellung.  Ueberdiess  treten  für 
dieselbe  noch  einige  Zeitgenossen  des  Epiphanius  ein,  Gregor  von 
Nyssa 2)  (f  um  395)  und  Chrysostomus 3),  welche  ebenfalls  »die  Brüder 
Jesu«  für  Söhne  Josephs  aus  erster  Ehe  halten.  Auch  der  heilige 
Hilarius  erklärt  in  seinem  a.  355  geschriebenen  Commentar  zu 
Matthäus  die  »Brüder  Jesu«  für  Söhne  Josephs  aus  erster  Ehe  und 
interprelirt  die  Stelle  »er  erkannte  sie  nicht  bis  ...  .«  in  eigener 
Weise  zwar,  aber  in  demselben  Sinne,  wie  Epiphanius:  »Sie  wird 
nach  der  Geburt  erkannt,  d.  h.  sie  geht  über  in  den  Namen  der 
Gattin.  Sie  wird  erkannt,  aber  vermischt  sich  nicht  4).«  Basilius 
macht  zu  einer  Zeit,  als  eine  Sekte  in  Cappadocien  die  Ehe  ver¬ 
dammte,  seinen  Zuhörern  zwar  die  Concession,  dass  an  sich  nichts 
den  Glauben  Beeinträchtigendes  darin  läge,  wenn  Maria  nach  Christi 
Geburt  mit  Joseph  ehelich  gelebt  hätte,  »doch  können  es  die 
Ohren  der  Gläubigen  nicht  ertragen,  dieses  anzunehmen«  5).  Gregor 


9  Haer.  78,  17  u.  21. 

2)  Or.  II,  de  resurr.  Chr.  Doch  ist  die  Aechtheit  dieser  Rede  angefochten. 

3)  Homil.  Y,  in  Matth. 

4)  In  Matth,  c.  1. 

5)  De  nativ.  Dom.  S.  d.  Proleg.  zum  3.  griech.-lat.  Bde.  des  Ephräm,  p.  63. 


104 


von  Nazianz  endlich  heisst  Maria  »ein  der  Heirath  unkundiges 
Weib«  *). 

Viel  eingehender  hatte  sich  wieder  der  heilige  Hieronymus 
mit  der  Angelegenheit  zu  befassen.  Merkwürdiger  Weise  nemlich 
trat  nicht  lange  nach  Entstehung  der  eben  besprochenen  arabischen 
Sekte  auch  im  Abendlande,  und  zwar  im  Mittelpunkt  desselben ,  in 
Rom  selbst,  eine  ähnliche  Reaktion  gegen  die  Vorstellung  von  der 
beständigen  Jungfräulichkeit  Marias  ins  Leben.  Aehnlich,  ja  von  so 
auffallender  Aehnlichkeit,  dass  der  heilige  Augustin  später  sie  mit 
den  Antidikomarianiten  identificirte *  2).  Und  möglicher  Weise  konnte 
der  Urheber  derselben ,  Helvidius ,  seine  erste  Anregung  von  irgend 
welcher  Kunde  über  die  arabische  Sekte  erhalten  haben.  Doch  ist 
darüber  Nichts  bekannt. 

Helvidius  (nach  der  Nachricht  des  um  ein  Jahrhundert  jüngeren 
Marseiller  Presbyter  Gennadius),  Schüler  des  Arianers  Auxentius, 
der  vor  dem  heiligen  Ambrosius  den  bischöflichen  Stuhl  zu  Mailand 
inne  hatte,  verweilte  zur  Zeit  des  Pabstes  Damasus,  etwa  ums 
Jahr  380 ,  zu  Rom.  Er  war  Laie  und ,  wie  es  scheint ,  nicht  von 
sonderlicher  wissenschaftlicher  Bildung ;  wenigstens  nennt  ihn  Hiero¬ 
nymus  einen  »bäuerischen  und  kaum  mit  den  Elementen  der  Wissen¬ 
schaft  vertrauten  Menschen«  3).  Trotzdem  glaubte  er  sich  berufen, 
in  theologischen  Dingen  mitzureden,  und  verfasste  zu  der  oben  an¬ 
gegebenen  Zeit  eine  eigene  Schrift  gegen  die  immerwährende  Jung¬ 
fräulichkeit  Mariens.  Als  Beweise  für  seine  Behauptungen  dienten 
ihm  ganz  dieselben  Bibeltexte,  auf  welche  die  Antidikomarianiten 
ihre  Anschauung  stützten,  nebst  einigen  andern,  die  wir  alle  in  der 
Erwiderung  des  Hieronymus  kennen  lernen  werden.  Ausserdem 
berief  er  sich  auf  Tertullian,  wie  wir  gesehen  haben,  nicht  ohne 
Grund,  und  auf  Victorinus  von  Pettau,  den  er  übrigens  missver¬ 
standen  hatte.  Die  erwähnte  Exegese  einiger  Bibelstellen  war  für 
den  Verfasser  zugleich  der  Stützpunkt,  auf  den  er  seine  Polemik  gegen 
das  jungfräuliche  Leben  gründete,  dessen  längst  gepriesenen  Vorzug 
vor  dem  Ehestande  in  Abrede  zu  stellen  auch  mit  ein  Zweck  seiner 
Schrift  war. 

Gegen  dieses  Libell  nun  wurde  der  h.  Hieronymus  »von  den 


’)  Gedicht  »zum  Lob  der.  Jungfräulichkeit«,  v.  147. 

2)  De  haer.  c.  56,  n.  84. 

3)  Adv.  Helv.  sub  init. 


105 


Mitbrüdern«  zu  einer  Erwiderung  aufgefordert.  Er  konnte  sich  An¬ 
fangs  nicht  entschlossen,  dem  Ignoranten  durch  die  Ehre  einer  Ent¬ 
gegnung  von  seiner  Seite  Relief  zu  geben.  Auch  wollte  er  nicht 
eine  blasphemirende  Duplik  hervorrufen  und  hiedurch  für  die  Sache 
eigentlich  erst  allgemeineres  Aufsehen  erregen.  Doch  bald  (a.  381 
oder  82)  durch  das  Aergerniss,  welches  das  Schriftehen  erregte, 
bestimmt,  entschloss  er  sich,  »an  die  Wurzeln  des  unfruchtbaren 
Baums  die  Axt  anzulegen  und  ihn  sammt  seinen  leeren  Blättern  den 
Flammen  zu  übergeben,  auf  dass  derjenige  fürder  schweigen  lerne, 
der  nie  reden  gelernt  hat«  x).  »Darum  muss  ich,  fährt  er  fort,  den 
•  heiligen  Geist  anrufen,  dass  er  die  Jungfräulichkeit  der  seligen  Maria 
in  seinem  Sinne  durch  meinen  Mund  vertheidige.  Ich  muss  den 
Herrn  Jesus  anrufen,  dass  er  die  Herberge  des  heiligen  Leibes,  dessen 
Bewohner  er  zehn  (Mond-)  Monate  war,  vor  allem  Verdachte  der 
Beiwohnung  bewahre.  Ich  muss  auch  selbst  Gott  den  Vater  anflehen, 
dass  er  die  Mutter  seines  Sohnes  als  Jungfrau  zeige  nach  der  Geburt, 
welche  eher  Mutter  als  vermählt  war  2).«  Und  zwar  nicht  auf  rhetorisch¬ 
dialektisch-philosophischem  Wege  will  Hieronymus  den  Beweis  führen, 
sondern  durch  Schriftzeugnisse.  Er  nimmt  sofort  die  Sätze  des 
Helvidius  einzeln  vor,  um  sie  einzeln  zu  widerlegen.  Zuerst  macht 
Helviclius  Gonsequenzen  aus  Matth.  I,  18  ff.  Maria  heisse  die  Ver¬ 
lobte,  nicht  die  An  empfohlene,  und  zwar  jenes  desswegen,  weil 
sie  im  Begriffe  stand,  wirklich  in  die  Ehe  zu  treten.  Dann  heisse 
es:  bevor  sie  zusammen  kamen.  Das  werde  nicht  von  solchen 
gesagt,  welche  später  nicht  Zusammenkommen  sollten,  so  wenig  man 
von  Einem,  der  nicht  frühstücken  werde,  sage:  bevor  er  frühstückte. 
Ferner  werde  sie  vom  Engel  selbst  Gemahlin  des  Joseph  genannt 3). 
—  Hieronymus  lässt  sich  auf  die  Frage,  warum  Maria  nicht  viel¬ 
mehr  Anempfohlene,  als  Verlobte  heisse,  nicht  weiter  ein,  er 
zeigt  nur  auf  den  Widerspruch  hin,  dass  Helvidius  dieselbe  Person 
in  einem  Athem  Verlobte  und  Gattin  (letzteres  in  vollem  Sinne) 
nenne,  und  bemerkt  den  andern  Ausstellungen  gegenüber  Folgendes: 
Der  Satz  »bevor  sie  zusammenkamen«  involvire  ebensowenig  ein 
späteres  Zusammenkommen,  als  der  Satz:  bevor  ich  im  Hafen  früh¬ 
stückte,  schiffte  ich  nach  Afrika  —  ein  späteres  Frühstücken  im 


])  Ibid. 

2)  Ibid.  2. 

3)  Ibid.  3. 


Hafen.  Oder  lasse  sich  etwa  aus  dem  Satze:  »Helvidius  wurde, 
bevor  er  Reue  übte,  vom  Tode  überrascht«  folgern,  dass  Helvidius 
nach  dem  Tode  bereut  hätte?  Bekanntlich  sei  das  unmöglich  nach 
Psalm  VI,  G.  Die  Partikel  bevor  weise  allerdings  oft  auf  etwas 
Folgendes  hin,  doch  zeige  sie  auch  hin  und  wieder  bloss  das  an, 
was  früher  gedacht  wurde.  Das  Gedachte  trete  nicht  nothwendig 
ein,  da  ja  ein  Zwischenfall  das  Eintreten  desselben  verhindern  könne. 
So  meine  der  Evangelist  mit  jenen  Worten  nur  die  Zeit  unmittelbar 
vor  der  Hochzeit.  Aber  es  lasse  sich  durchaus  nicht  daraus  schliessen, 
dass  Joseph  mit  Maria  in  geschlechtliche  Gemeinschaft  getreten  sei. 
Das  Verlangen  nach  dieser  Gemeinschaft  sei  ja  schon  durch  die 
Empfängniss  (Jesu)  gehoben  gewesen.  —  Dass  Maria  »Gemahlin« 
vom  Engel  genannt  werde,  beweise  ebensowenig,  dass  sie  aufgehört 
habe,  blosse  Braut  zu  sein.  Diess  erkläre  sich  einfach  aus  dem  bibli¬ 
schen  Sprachgebrauches  nach  welchem  oft  eine  Braut  schon  Gemahlin 
genannt  werde  1).  —  Bei  der  Stelle  Matth.  I,  25:  »er  erkannte  sie 
nicht,  bis  sie  ihren  Sohn  gebar,«  gibt  Helvidius  zunächst  sich  grosse 
Mühe  zu  beweisen,  dass  unter  dem  »Erkennen«  geschlechtliche  Bei¬ 
wohnung  zu  verstehen  sei ,  was  Hieronymus  einfach  zugibt ;  dann 
erklärt  er,  dass  die  Partikel  b  i  s  eine  bestimmte  Zeit  bezeichne,  nach 
deren  Ablauf  das  eintrete,  was  vor  jenem  Zeitpunkt  nicht  eingetreten 
gewesen  sei.  Maria  sei  daher  offenbar  nach  der  Geburt  (Christi) 
erkannt  worden,  diese  allein  hätte  ihr  Erkanntwerden  aufgeschoben  2). 
—  In  der  Beleuchtung  dieser  Stelle  gibt  Hieronymus  zu ,  dass  die 
Partikel  bis  (sei  es  als  Conjunction  oder  Präposition)  in  der  Bibel 
allerdings  sehr  oft  eine  bestimmte  Zeit  bezeichne.  Häufig  aber  be¬ 
zeichne  sie  auch  nicht  eine  bestimmte  Zeit.  Wenn  es  z.  B.  beim 
Propheten  heisst:  »Ich  bin,  ich  bin,  und  bis  ihr  alt  werdet,  bin  ich  3); 
ist  das  so  zu  verstehen,  dass  Gott  aufhört  zu  sein,  wenn  sie  alt 
geworden  sind?  Oder  wenn  der  Heiland  zu  den  Aposteln  sagt:  siehe, 


J)  Wie  Deuter.  XX,  7;  XXII,  24.  Ibid.  4. 

2)  Ibid.  5. 

3)  Ego  sum,  ego  sum,  et  donee  senescatis,  ego  sum.  Die  Ausgabe  von  Vallarsi 
verweist  auf  Jesai.  XLIII,  25;  dort  findet  sich  aber  diese  Stelle  nicht,  sondern  es 
lieisst:  ego  sum,  ego  sum  ipse,  qui  deleo  iniquitates  tuas  etc.  Auch  bei  Jere¬ 
mias  VII,  11,  worauf  Vallarsi  in  zweiter  Linie  verweist,  findet  sich  zwar  ego,  ego 
sum,  das  donec  etc.  aber  eben  so  wenig.  Vielleicht  ist  Jesaias  XLVI,  4  gemeint: 
usque  ad  senectam  ego  ipse  etc.,  worauf  die  Mauriner  zu  Ambros.  Expos.  Evang. 
sec.  Luc.  II,  6  hinweisen. 


107 


ich  bin  bei  euch  alle  Tage  bis  ans  Ende  der  Welt  (Matth.  XXVIII,  20), 
wird  der  Herr  nach  dem  Weitende  seine  Schüler  verlassen?  Oder 
wenn  Paulus  mit  dem  Psalmisten  sagt:  er  (Christus)  muss  herrschen, 
bis  er  alle  Feinde  unter  seine  Füsse  gelegt1);  wird  der  Herr  auf¬ 
hören  zu  herrschen,  wenn  seine  Feinde  einmal  ihm  zu  Füssen  liegen? 
Dieser  Sprachgebrauch  liesse  sich  noch  mit  vielen  Beispielen  belegen 
(Hieronymus  bringt  deren  auch  einige)  und  es  geht  hiemit  daraus 
hervor,  dass  die  Exegese  des  Helvidius  wenigstens  keine  nothwendige 
ist.  Wie  ist  übrigens  nur  auch  hieran  zu  denken?  Wenn  durch 
das  Evangelium  bestätigt  und  von  Helvidius  zugegeben  ist,  dass 
Joseph  mit  Maria  in  keinen  geschlechtlichen  Verkehr  getreten  sei  bis 
zur  Geburt  des  Kindes,  weil  er  durch  einen  Traum  verständigt  war, 
um  wie  viel  weniger  kann  er  es  gewagt  haben,  ihr  nachher  beizu¬ 
wohnen,  nachdem  er  die  Engelerscheinungen,  die  Hirten,  den  Simeon, 
die  Prophetin  Anna,  die  Magier,  den  Stein,  den  Herodes,  nachdem 
er  alle  diese  Wunder  gesehen  hatte!  Konnte  er  da  wagen,  den 
Tempel  Gottes,  den  Sitz  des  heiligen  Geistes,  die  Mutter  seines 
Herrn  zu  berühren?  Helvidius  freilich  schulmeistere  lieber  den 
Matthäus,  weil  er  sich  nicht  deutlich  ausgedrückt  und  etwa  (ähnlich 
wie  Genes.  38,  2(3)  gesagt  habe:  »und  er  nahm  sein  Weib  zu  sich 
und  wagte  sie  hinfort  nicht  mehr  zu  berühren,«  und  erkläre  die  so 
eben  aufgeführten  inneren  Gründe  für  Possen  und  überflüssige  Argu¬ 
mentationen  2).  —  Der  dritte  Punkt,  über  welchen  Helvidius  ge¬ 
strauchelt  war,  war  das  Wort  »der  Erstgeborene«  bei  Lukas  II.  7  3), 
aus  welchem  er  folgerte,  dass  Maria  noch  andere  Söhne  gehabt 
haben  müsse,  da  man  nur  einen  solchen  den  Erstgeborenen  nenne,  der 
Brüder  habe,  während  derjenige,  der  der  einzige  Sohn  seiner  Eltern 
sei,  der  Eingeborene  heisse  4).  »Wir  aber  definiren  so,  sagt  Hiero¬ 
nymus:  Jeder  Eingeborene  ist  Erstgeborener,  nicht  jeder  Erstgeborene 
ist  Eingeborener.  Erstgeborener  heisst  nicht  bloss  der,  nach  welchem 
andere  kommen,  sondern  der,  vor  welchem  keiner  geboren  ist.  Die 
ächt  biblische  Definition  des  Wortes  steht  Exod.  XXXIV,  19,  20  und 
Num.  XVIII,  15;  nemlich:  Alles,  was  den  Mutterleib  öffnet  von  allem 


*)  I.  Cor.  XV,  25.  Ps.  109,  1. 

2)  Adv.  Helv.  6 — 8. 

3)  Dieses  Wort  wird  bloss  bei  Lukas  nachgewiesen.  Hieron.  c.  3  hat  bei 
Matth.  I,  25  dasselbe  nicht.  Primogenitus  fehlte  also  wohl  in  dem  Matthäus¬ 
exemplar  der  beiden,  wie  npcuxotoxo^  im  Sinaiticus. 

4)  Adv.  Helv.  9. 


108 


Fleische,  welches  dem  Herrn  dargebracht  wird,  vom  Menschen  bis 
zum  Vieh,  soll  mein  sein  (spricht  der  Herr).  Nur  soll  man  das 
Erstgeborene  der  Menschen  und  das  Erstgeborene  der  unreinen 
Thiere  loskaufen.  (Hieronymus  citirt  hier  nicht  ganz  wörtlich.)  Es 
definirt  also  das  Wort  Gottes,  was  das  Erstgeborene  sei,  nemlich: 
Alles,  was  den  Mutterschooss  öffnet.«  Wenn  der  Erstgeborene  nur 
der  ist,  dem  Brüder  folgen,  so  hätte  man  die  Eingeborenen  nicht 
loszukaufen  gebraucht  oder  hätte  immer  mit  Erlegung  des  Kaufpreises 
so  lange  warten  können,  bis  Brüder  gekommen  wären.  Bekanntlich 
aber  sei  Jesus  gleich  »bei  der  Reinigung«  im  Tempel  mit  ein  paar 
Tauben  losgekauft  worden.  Ob  bei  der  Vernichtung  der  Erstgebo¬ 
renen  in  Aegypten  *)  wohl  die  Eingeborenen  verschont  geblieben 
seien?  Natürlich,  wenn  das  Vorhandensein  von  Brüdern  erst  zum 
Erstgeborenen  mache.  Das  wäre  eine  lächerliche  Annahme ;  darum 
folge  auch  hieraus,  dass  der  Erstgeborene  nur  der  heisse,  der  den 
Mutterschooss  öffne *  2).  —  Zum  letzten  Grund  des  Helvidius,  »dass 
in  den  Evangelien  von  Brüdern  des  Herrn  wirklich  die  Rede  sei« 
sich  wendend,  hebt  Hieronymus  alle  Stellen  des  Neuen  Testamentes 
aus,  wo  diese  »Brüder«  Vorkommen.  Ihre  Namen  sind  Jakob, 
Joseph  (oder  Joses),  Simon,  Judas.  Dann  werden  noch  zwei  Stellen 
angeführt,  wo  unter  den  Frauen,  die  bei  der  Kreuzigung  anwesend 
waren,  auch  eine  Maria  als  Mutter  zweier  von  diesen  genannt  wird, 
Matth.  XXVII,  56,  »Maria,  die  Mutter  des  Jakobus  und  Joseph«,  und 
Marc.  XV,  40,  »Maria,  des  jüngeren  Jakobus  und  des  Joses  Mutter« 
und  die  Stelle  Luc.  XXIV,  10,  wo  unter  den  Frauen,  die  die  Nach¬ 
richt  von  der  Auferstehung  den  Jüngern  überbringen,  auch  »Maria, 
die  Mutter  des  Jakobus«  vorkommt  3).  Aus  diesen  Stellen  zog 
Helvidius  seine  Consequenzen.  »Schau,  sagte  er,  Jakob  und  Joseph 
sind  Söhne  Marias,  eben  dieselben,  welche  die  Juden  Brüder  nannten. 
Schau,  Maria  ist  die  Mutter  des  Jakobus  des  Jüngern  und  des 
Joses  ....  Wie  schändlich  und  gottlos  wäre  es,  von  Maria  zu 
denken,  dass  sie,  die  Mutter,  während  andere  Frauen  das  Begräbniss 
Jesu  besorgten,  nicht  dabei  gewesen  wäre!  Wie  schändlich  wäre  es, 
hier  eine  andere  Maria  uns  vorzustellen,  besonders  da  das  Evangelium 
des  Johannes  ausdrücklich  bezeugt,  dass  sie  dort  anwesend  gewesen 


’)  Exod.  XII,  29. 

2)  Adv.  Helv.  10. 

3)  Ibid.  11. 


109 


sei,  da  der  Herr  dieselbe,  die  schon  Witwe  war,  dem  Johannes  vom 
Kreuze  herab  als  Mutter  anempfahl.  Oder  täuschen  etwa  die  Evan¬ 
gelisten  sich  und  uns,  wenn  sie  Maria  die  Mutter  derjenigen  nennen, 
welche  die  Juden  Brüder  Jesu  nannten  ?«  *)  Hierauf  erwidert  Hie¬ 
ronymus :  »0  blinde  Wuth  und  zum  eigenen  Verderben  verkehrter 
Sinn !  Du  sagst,  beim  Kreuze  des  Herrn  sei  seine  Mutter  anwesend 
gewesen,  du  sagst,  dem  Jünger  Johannes  sei  sie  wegen  ihrer  Witwen¬ 
schaft  und  Verlassenheit  anempfohlen  worden,  wie  wenn  sie  nach 
dir  nicht  vier  Söhne  und  ungezählte  Töchter  hatte,  deren  Gemein¬ 
schaft  sie  geniessen  konnte.  Auch  Witwe  nennst  du  sie,  was  die 
Schrift  nicht  sagt.  Du  bringst  alle  Stellen  der  Evangelisten  vor,  nur 
Johannes  Worte  gefallen  dir  nicht.  So  im  Vorbeigehen  sagst  du, 
beim  Kreuz  des  Herrn  sei  sie  anwesend  gewesen,  um  nicht  mit 
Absicht  (den  Johannes)  übergangen  zu  haben  zu  scheinen,  und  doch 
verschweigst  du  die  Frauen,  die  dort  mit  ihr  waren.  Nichts  davon  zu 
wissen,  würde  ich  dir  verzeihen,  wenn  ich  nicht  sehen  würde,  dass 
du  es  absichtlich  verschweigst.  Höre  darum ,  was  Johannes  sagt : 
,Es  standen  aber  beim  Kreuze  Jesu  seine  Mutter  und  die  Schwester 
seiner  Mutter,  Maria  Kleophä  und  Maria  von  Magdala *  2).‘  Un- 
bezweifelt  hat  es  zwei  Apostel  Namens  Jakobus  gegeben,  den  Sohn 
des  Zebedäus  und  den  des  Alphäus.  Den  letzteren  heisst  die  Schrift 
den  jüngeren,  den  Sohn  Mariens,  —  jedoch  nicht  der  Mutter  des 
Herrn  ....  Es  war  also  diese  Maria  (die  Mutter  des  Jakobus)  die 
Frau  des  Alphäus,  die  Schwester  der  Maria,  der  Mutter  des  Herrn. 
Johannes  nennt  sie  Maria  Kleophä,  sei  es  von  ihrem  Vater,  oder 
einem  Familiennamen  oder  aus  einem  andern  Grunde.  Dass  sie 
unter  der  doppelten  Bezeichnung  —  Maria,  Mutter  des  Jakobus  und 
Maria  Kleophä  —  vorkommt,  geschieht  nach  einer  Gewohnheit  der 
heiligen  Schrift,  die  in  sehr  vielen  Fällen  (welche  Hieronymus  auf¬ 
zählt)  dieselben  Personen  unter  verschiedenen  Namen  aufführt  3).  — 
Warum  werden  aber  nun  die  Vettern  Jesu  seine  Brüder  genannt? 
Die  heilige  Schrift  gebraucht  das  Wort  »Bruder«  in  vierfachem  Sinn: 
1.  für  leibliche  Brüder,  wie  Esau  und  Jakob,  Andreas  und  Jako¬ 
bus  u.  s.  w. ;  2.  für  Angehörige  desselben  Volkes.  Alle  Juden  z.  B. 
werden  Brüder  genannt;  3.  für  Angehörige  derselben  Familie,  wie 


b  Ibid.  12. 

2j  Joann.  XIX,  25. 

3)  Adv.  Helv.  13. 


110 


Abraham  und  Lot,  Laban  und  Jakob ;  4.  in  geistigem  Sinne,  z.  B. 
von  allen  Christen  oder  im  Allgemeinen  von  allen  Menschen.  Jede 
der  aufgeführten  Bedeutungen  wird  mit  mehrfachen  Beispielen  aus 
der  Schrift  belegt.  Von  diesen  vier  Fällen  passt  der  erste  nicht  auf 
die  »Brüder  des  Herrn«,  wie  oben  gezeigt  worden,  der  zweite  und 
vierte  auch  nicht,  denn  es  wäre  widersinnig,  dass  nur  vier  Juden 
oder  vier  Anhänger  oder  vier  Menschen  überhaupt  mit  dem  beson¬ 
deren  Titel  »Brüder«  gekennzeichnet  worden  wären,  während  alle 
übrigen  dasselbe  Recht  hiezu  hatten.  Es  bleibt  darum  nur  der 
dritte  Fall,  und  die  Brüder  des  Herrn  heissen  in  dem  Sinne  so,  in 
welchem  Abraham  den  Lot,  Laban  den  Jakob  seinen  Bruder  nennt  *). 
—  »Das  hattest  du  nicht  gelesen,  apostrophirt  nun  Hieronymus  den 
Helvidius,  du  Unwissendster  unter  den  Menschen;  du  wusstest  aus 
dem  Meere  der  heiligen  Schriften  nicht  zu  schöpfen,  sondern  wand¬ 
test  gegen  die  Jungfrau  deine  Wuth  nach  dem  Beispiel  dessen,  der, 
um  bekannt  zu  werden,  nichts  Besseres  zu  thun  wusste,  als  den 
Tempel  der  Diana  anzuzünden.  Du  aber  hast  den  Tempel  des 
Leibes  des  Herrn  angezündet,  du  hast  das  Heiligthum  des  heiligen 
Geistes  besudelt.  Um  es  kurz  zu  machen:  hältst  du  Joseph  für  den 
Vater  Christi,  da  er  in  der  heiligen  Schrift  oft  so  heisst?  Du 
wagst  nicht  ja  zu  sagen.  Ebensowenig  waren  die,  welche  Brüder 
heissen,  seine  leiblichen  Brüder *  2).«  —  Mit  welchem  Rechte  Helvidius 
sich  auf  Tertullian  und  Viktorinus  von  Pettau  berufe,  beleuchtet 
Hieronymus  schliesslich  mit  folgenden  Worten :  »Von  Tertullian  sage 
ich  nichts  ,  weiter ,  als  dass  er  kein  Mann  der  Kirche  gewesen  sei. 
Von  Viktorinus  aber  erkläre  ich  dasselbe,  was  von  den  Evangelisten, 
dass  er  Brüder  des  Herrn,  aber  nicht  Söhne  Mariens  genannt  habe, 
Brüder  aber  in  dem  oben  von  uns  auseinandergesetzten  Sinne  — 
von  Verwandtschaft,  nicht  von  Natur.  Aber  (wenn  du  dich  auf 
Autoritäten  stützen  willst)  kann  ich  dir  nicht  eine  ganze  Reihe  alter 
Schriftsteller  vorführen?  Einen  Ignatius,  Polykarpus,  Irenaus,  Justinus 
Martyr  und  viele  andere  apostolische  und  beredte  Männer,  welche 
gegen  Ebion,  Theodotus  von  Byzanz,  Valentinus,  die  ebendieselben 
Meinungen  (wie  du)  hegten,  ganze  Bände  voll  Weisheit  geschrieben 
haben!  Hättest  du  diese  gelesen,  du  würdest  verständiger  sein3).« 


’)  Genes.  XIII,  8;  XXIX,  12,  15.  Ibid.  14  u.  15. 

2)  Ibid.  16. 

3)  Ibid.  17. 


111 


Zum  Schlüsse  verbreitet  sich  Hieronymus  noch  über  die  Ansichten 
des  Helvidius  von  Ehe  und  Jungfräulichkeit,  schlägt  die  Frivolität 
seines  Gegners  zu  Boden  und  misst  bei  gerechter  und  ver¬ 
ständiger  Würdigung  des  Ehestandes  der  Virginität  das  höhere 
Verdienst  bei.  Bei  dieser  Gelegenheit  thut  er  auch  seine  Ansicht 
über  Joseph  kund.  —  Die  Meisten  (plerique),  sagt  er,  hätten  dem 
Joseph  mehrere  Weiber  gegeben,  um  die  »Brüder  des  Herrn«  zu 
erklären,  das  sei  aber  nicht  so  fast  mit  frommer,  als  mit  frecher 
Unbesonnenheit  geschehen.  »Du  behauptest  ,  Maria  sei  nicht  Jung¬ 
frau  verblieben ;  ich  vindicire  mir  noch  mehr  und  sage,  auch  Joseph 
sei  Jungfrau  gewesen  durch  Maria,  damit  aus  jungfräulicher  Ehe 
der  jungfräuliche  Sohn  geboren  werde.  Denn  wenn  bei  dem  heiligen 
Mann  an  Unzucht  nicht  zu  denken  ist,  und  wenn  nicht  geschrieben 
steht,  dass  er  eine  andere  Frau  gehabt  habe;  wenn  er  für  Maria, 
für  deren  Mann  man  ihn  hielt ,  vielmehr  der  Beschützer  als  der 
Gatte  war:  so  ist  nur  übrig,  dass  er  mit  Maria  jungfräulich  ver¬ 
blieben  sei,  er,  der  verdiente,  Vater  des  Herrn  zu  heissen  1).« 

Es  bedarf  keines  Fingerzeigs  darauf,  um  wie  viel  gründlicher 
und  überzeugender  die  Widerlegung  der  Neuerung  unter  den  Händen 
des  Hieronymus  ausgefallen  ist,  als  unter  den  Händen  des  Epiphanius. 
Geniale  Intuition,  schneidende  Verstandesschärfe  und  tiefeindringendes 
Bibelstudium  befähigten  den  erleuchteten  Kirchenlehrer  hier  zu  einer 
Apologetik,  über  welche  alle  spätere  theologische  Wissenschaft  (es 
ist  natürlich  im  Hinblik  auf  Hieronymus  nur  von  der  gläubigen 
Exegese  die  Rede)  eigentlich  nicht  hinausgekommen  ist.  Allerdings 
weiss  die  letztere,  dass  das  Wort  »der  Erstgeborene«  —  npwroroxoc, 
primogenitus  —  im  Neuen  Testamente  nur  die  mangelhafte  Ueber- 
setzung  des  alttestamentlichen  bechor  2)  ist.  Nach  der  mosaischen  Ge¬ 
setzgebung  waren  alle  Erstlinge  der  vegetabilischen  und  animalischen 
Welt  dem  Herrn  heilig  und  mussten  theils  als  Opfer  dargebracht, 
theils  losgekauft  werden.  Für  diese  Erstlinge  hat  nun  die  ebräische 
Sprache  dieses  Wort  und  der  Sinn  desselben  schliesst  durchaus  nicht 
ein,  dass  der  Erstling  durch  spätere  Produkte  auch  zum  Ersten  werde. 
Unsere  Exegese  weiss  ferner,  dass  der  Name  Kleophas,  KXcotiüq,  ganz 
identisch  mit  Alphäus,  ’/Jlcpaioq  ist.  Beide  scheinbar  verschiedene 
Namen  sind  nur  aus  einer  zwiefachen  Aussprache  des  ebräischen 

’)  Ibid.  19. 

2)  “1132 


112 


chlpj  *)  (ohne  Vokalisation)  zu  erklären,  wobei  die  Aspirata  ch  das  eine 
Mal  bis  zum  Spiritus  lenis  verflüchtigt,  das  andere  Mal  in  die  tenuis  K 
verdichtet  und  hienach  auch  die  Vokalisation  modificirt  ist*  2).  Die 
»Mariä  Kleophä«  ist  daher  besonders  desswegen  eine  und  dieselbe 
Person  mit  der  »Maria,  der  Mutter  des  Jakobus,  des  Sohnes  des 
Alphäus«,  weil  »Maria  Kleophä«  nichts  anderes  als  »Maria,  Frau  des 
Alphäus  (oder  Kleophas)«  heisst.  Drittens  endlich  greift  unsere  Exegese 
auf  das  ebräische  ach3)  —  Bruder  zurück,  welches  dem  dds'kopoQ  der 
Septuaginta  und  des  Neuen  Testamentes  zu  Grunde  liegt,  welches  oft 
überhaupt  nur  einen  Verwandten  bezeichnet  wie  das  griechische  däeAqrög 
selbst  und  auch  gleich  dem  lateinischen  frater  —  sogar  bei  Cicero4)  — 
für  Vetter  steht.  —  Aber  alle  neuere  sprachwissenschaftliche  Gelehr¬ 
samkeit  hat  uns,  wie  man  sieht,  zu  keinen  andern  Resultaten  ge¬ 
führt,  als  den  Hieronymus  seine  scharfsinnigen  Combinationen,  wenn 
wir  auch  im  Stande  sind,  Einiges  daran  zu  korrigiren. 

Dessenungeachtet  hatte  die  Schrift  des  Hieronymus  nicht  durch¬ 
aus  die  beabsichtigte  Wirkung.  '  Es  blieb  dem  Helvidius  doch  eine 
kleine  Zahl  Anhänger,  die  unter  dem  Namen  Helvidianer  umliefen. 
Ja,  kaum  zehn  Jahre  nach  seinem  Auftreten  in  Rom  sehen  wir 
»sogar  einen  Bischof«  5)  sich  zu  derselben  Lehre  bekennen.  Bonosus, 
Bischof  .von  Sardika ,  behauptete  ebenfalls ,  Maria  habe  nach  der 
Geburt  Jesu  noch  mehrere  Söhne  geboren.  Auf  der  Synode  zu  Capua 
im  Jahre  391  kam  diese  Angelegenheit  zur  Sprache.  Die  italienischen 
Bischöfe  gingen  jedoch  auf  die  Sache  nicht  näher  ein,  sondern 
übertrugen  die  Untersuchung  derselben  den  Bischöfen  Macedoniens 
unter  dem  Vorsitz  des  Erzbischofs  von  Thessalonich,  Anysius.  Dieser 
untersagte  ihm  fernere  bischöfliche  Funktionen.  Bonosus  aber  fügte 
sich  nicht  und  fragte  bei  dem  Bischof  von  Mailand,  Ambrosius  an,  ob 
er  sich  nicht  mit  Gewalt  in  seinem  Amte  halten  solle.  Obwohl 
nun  dieser  ihm  zur  Nachgiebigkeit  rieth,  fuhr  er  dennoch  fort,  Geist¬ 
liche  zu  ordiniren  u.  s.  w.  und  sammelte  sich  einen  Anhang.  Nun 
wandte  sich  Anysius  an  den  Pabst  Siricius,  der  ungefähr  um  die 
Mitte  des  Jahres  392  in  einem  kleinen  Briefe  antwortete,  aus  welchem 

') 

2)  Wie  das  ja  auch  sonst  vorkommt.  Vgl.  s-»n  =  ’Ayya To-  und  np3  = 

<f>OC"SV.. 

») 

4j  Cic.  Plane.  11,  27;  vgl.  Fin.  5,  1,  1. 

5)  Ambr,  de  inst.  virg.  35. 


wir  Folgendes  mittheilen:  »Allerdings  können  wir  nicht  leugnen, 
dass  er  (Bonosus)  wegen  der  Söhne  Mariens  mit  Recht  getadelt 
worden  ist  und  dass  Eure  (des  Anysius)  Heiligkeit  billig  davor  zurück¬ 
bebte,  dass  aus  demselben  jungfräulichen  Schoosse,  aus  welchem 
Christus  dem  Fleische  nach  geboren  ist ,  noch  eine  andere  Geburt 
hervorgegangen  sei.  Denn  nicht  wohl  hätte  Jesus,  der  Herr,  die 
Wahl  getroffen,  aus  einer  Jungfrau  geboren  zu  werden,  wenn  er 
sie  für  so  unenthaltsam  gehalten  hätte,  dass  sie  die  Geburtsstätte 
des  Leibes  des  Herrn,  den  Palast  des  ewigen  Königs  durch  den 
Samen  menschlicher  Vereinigung  befleckte.  Wer  diese  Meinung 
unterstützt,  unterstützt  nichts  Anderes,  als  die  Treulosigkeit  der 
Juden,  welche  sagen,  dass  er  nicht  aus  einer  Jungfrau  habe  geboren 
werden  können.«  Im  weitern  Verlauf  bringt  er  als  Hauptbeweis 
die  Anempfehlung  an  Johannes.  »Als  der  Herr  am  Kreuze  hängend 
die  Sünde  der  Welt  hinwegnahm,  legte  er  laut  Zeugniss  ab  von 
der  Unverletztheit  seiner  Mutter  ....  Diess  also  ist  das  Testament 
des  Sohnes  über  die  Unverletztheit  seiner  Mutter,  diess  die  reiche 
Erbschaft  der  reinen  Keuschheit  Mariä,  diess  der  Schlusspunkt  seines 
ganzen  Wirkens.  Das  sagte  er  (Christus)  und  hauchte  seinen  Geist 
aus,  indem  er  das  ganze  Geheimniss  (seines  Erlösungswerkes)  mit 
dem  guten  Ende  der  Kindesliebe  krönte  ’).« 

Der  heilige  Anlbrosius  hingegen  verflocht  seine  Polemik  gegen 
diese  Neuerung,  sowie  die  Darlegung  der  kirchlichen  Ansicht  in  seine, 
etwa  ums  Jahr  392  verfasste,  Schrift  »Ueber  die  Unterweisung  einer 
Jungfrau«.  Er  sagt  dabei  ausdrücklich,  dass  ihn  erst  der  Abfall 
eines  Bischofs  zu  öffentlicher  Behandlung  eines  so  grossen  Sacrilegs 
veranlasse,  und  geht  nun  sogleich  an  die  Erklärung  derselben  Bibel¬ 
stellen,  die  auch  für  die  Antidikomarianiten  und  den  Helvidius  an- 
stössig  gewesen  waren,  wobei  nur  merkwürdig  ist,  dass  er  das  viel- 
angefochtene  Wort  »der  Erstgeborene«  nicht  berücksichtigt.  Uebrigens 
stimmt  seine  Exegese,  die  sich  auch,  und  zwar  theilweise  ausführlicher 
in  seinem  früher  geschriebenen  Commentar  zum  Lukasevangelium 
findet,  mit  der  des  Hieronymus  beinahe  vollständig,  oft  wörtlich 
überein,  darum  wäre  es  überflüssig,  sie  hier  zu  wiederholen.  Nur 
in  einem  Punkte  weicht  er  von  Hieronymus  ab,  indem  er  die  Frage 
nach  den  Brüdern  Jesu  gar  nicht  entscheidet,  sondern  noch  die 
Möglichkeit  offen  lässt,  sie  könnten  Söhne  Josephs  aus  einer  früheren 


')  Sir.  ep.  ad  Anvs.  bei  Galland.  VH,  S.  544 

Lelm  er,  Die  Marienverehrung. 


8 


114 


Ehe  sein  *).  Jedoch  untersucht  er  die  Sache  nicht  weiter,  weil 
»der  Name  Bruder  eine  allgemeinere  Bedeutung  habe«  und  stellt 
sich  hiemit  immerhin  wiederum  mehr  auf  die  Seite  des  Hieronymus 
als  des  Epiphanius  und  Blilarius. 

Nach  Beseitigung  der  exegetischen  Instanzen  ergeht  sich  Am¬ 
brosius  sodann  in  Reflexionen  über  das  Verhältniss  Marias  zum 
Erlöser  und  zu  Johannes  und  kommt  hiedurch  ebenfalls,  aber  aus 
innern  Gründen,  zu  dem  Schlüsse,  dass  Maria  immerwährende  Jung¬ 
frau  verblieben  sei.  »Hätte  wohl,  sagt  er,  der  Herr  Jesus  die¬ 
jenige  sich  zur  Mutter  auserwählt,  die  mit  Mannes  Samen  den 
himmlischen  Palast  schänden  konnte,  diejenige,  der  es  unmöglich 
war,  jungfräuliche  Zucht  zu  bewahren?  Sie,  durch  deren  Beispiel 
die  übrigen  zur  eifrigen  Pflege  der  Reinigkeit  aufgerufen  werden, 
sollte  selbst  von  dem  Posten,  der  durch  sie  den  anderen  angewiesen 
ist,  abgetreten  sein!  —  Und  wer  sollte  es  sein,  dem  der  Herr  ein 
grösseres  Verdienst  zurückgelegt,  einen  grösseren  Lohn  aufbewahrt 
hätte,  als  eben  seine  Mutter?  Denn  keinem  Stande  hat  er  reichere 
Gnaden  zugesprochen,  als  der  Jungfräulichkeit,  wie  die  Schrift  uns 
lehrt.  So  hat  nemlich  der  Herr  durch  Jesaias  gesprochen:  ,Der 
Verschnittene  sage  nicht :  siehe,  ich  bin  ein  dürres  Holz.  Das  sagt 
der  Herr  den  Verschnittenen:  alle,  die  meine  Gebote  halten,  und 
erwählen,  was  mir  wohlgefällt,  und  meinen  Bund  bewahren ,  denen 
will  ich  in  meinem  Hause  und  in  meinen  Mauern  einen  Ort  geben 
und  einen  bessern  Namen  als  den  von  Söhnen  und  Töchtern  geben, 
und  einen  ewigen  Namen  will  ich  ihnen  geben  und  sie  werden  nicht 
vergehen *  2).‘  Andern  verspricht  er  (der  Herr) ,  dass  sie  nicht  ver¬ 
gehen  sollen,  seine  Mutter  sollte  er  sich  vergehen  lassen?  (Ambrosius 
scheint  hier  mit  zwei  Bedeutungen  des  Verbums  deficere  zu  spielen. 
Wir  suchen  ihn  durch  die  Uebersetzung  mit  vergehen  und  sich 
vergehen  nachzuahmen.)  Aber  Maria  vergeht  sich  nicht,  es  hat 
sich  nicht  vergangen  die  Lehrerin  der  Jungfräulichkeit.  Es  konnte 
nicht  geschehen,  dass  die,  welche  Gott  getragen  hatte,  glaubte,  einen 
Menschen  tragen  zu  dürfen,  noch  wäre  auch  Joseph,  der  gerechte 
Mann,  solchem  Wahnsinn  verfallen,  mit  der  Mutter  des  Herrn 
in  körperlicher  Vereinigung  sich  zu  vermischen.  —  Aber  Maria 
soll  nach  ihrer,  nicht  nach  fremder  Art  vertheidigt  werden.  Sie  hat 


’)  Ambr.  de  inst.  virg.  43. 

2j  Jes,  LVI,  3,  ff. 


sich  nicht  vergangen,  wie  ich  sagte.  Der  Sohn  Gottes  selbst  ist 
Zeuge,  welcher,  da  er  am  Kreuze  hing,  seinen  Schüler  seiner  Mutter 
als  Sohn  empfahl,  sie  dem  Schüler  als  Mutter  übergab.  Das  lehrt 
Johannes,  welcher  mehr  das  Geheimnissvolle  (Mystische)  geschrieben 
hat.  Denn  die  andern  Evangelisten  schrieben,  dass  beim  Leiden  des 
Herrn  die  Erde  bebte,  die  Sonne  schwand,  den  Verfolgern  Ver¬ 
zeihung  erbeten  wurde;  dieser  Geliebte  des  Herrn  hingegen,  welcher 
an  der  Brust  desselben  die  Geheimnisse  der  Weisheit  geschöpft,  hat 
mit  Uebergehung  derjenigen  Geheimnisse  des  göttlichen  Willens,  die 
von  den  andern  mitgetheilt  waren,  besonders  auch  dieses  Ziel  mit 
grösserem  Eifer  verfolgt,  dass  er  das  Verharren  seiner  Mutter  in 
Jungfräulichkeit  durch  sein  Zeugniss  beweise,  gleichsam  wie  ein  um 
den  Ruf  der  Mutter  besorgter  Sohn,  welcher  fürchtet,  es  möchte  sie 
Jemand  mit  dem  so  schmählichen  Vorwurf  der  Verletzung  der  Reinigkeit 
beflecken.  Es  war  aber  auch  nur  würdig  gehandelt,  dass  der, 
welcher  dem  Räuber  Verzeihung  gab,  die  Mutter  von  dem  möglichen 
Zweifel  an  ihrer  Züchtigkeit  befreite.  Er  sagt  zur  Mutter:  Weib, 
siehe,  dein  Sohn.  Er  sagt  auch  zum  Jünger:  Siehe,  deine  Mutter. 
Der  Jünger  ist  es,  dem  die  Mutter  empfohlen  wird.  Wie  hätte  er 
dem  Gatten  die  Gattin  nehmen  können,  wenn  Maria  mit  ihm  in 
ehelicher  Gemeinschaft  sich  vereinigt  oder  den  Umgang  des  Ehe¬ 
bettes  kennen  gelernt  hätte'?  —  Schliesset  den  Mund,  ihr  Gottlosen, 
öffnet  die  Ohren,  ihr  Frommen,  höret,  was  Christus  spricht.  Vom 
Kreuze  herab  macht  Jesus,  der  Herr,  sein  Testament  und  verschiebt 
noch  eine  Weile  das  Heil  der  Gesammtheit,  um  seine  Mutter  nicht 
ungeehrt  zurückzulassen.  Der  Mutter  wird  vermacht  die  Vertheidigung 
ihrer  Zucht,  das  Zeugniss  ihrer  Reinigkeit;  dem  Jünger  wird  ver¬ 
macht  die  Obhut  der  Mutter,  die  Gnade  der  Kindesliebe.  ,Und  von 
jener  Zeit  an  nahm  sie  der  Jünger  zu  sich.4  Hiemit  veranlasst 
Christus  keine  Scheidung,  Maria  verliess  nicht  ihren  Mann.  Aber 
bei  wem  andern  musste  die  Jungfrau  wohnen,  als  bei  dem,  den  sie 
als  Erben  ihres  Sohnes,  als  Wächter  der  Reinigkeit  kannte?  — 
Es  stand  die  Mutter  vor  dem  Kreuze,  und  als  die  Männer  flohen, 
stand  sie  unverzagt.  Schaut  zu,  ob  die  Mutter  Jesu  ihre  Zucht 
ändern  konnte,  sie,  die  ihren  Muth  nicht  änderte.  Mit  frommen 
Augen  betrachtete  sie  des  Sohnes  Wunden,  durch  den,  wie  sie  wusste, 
Allen  Erlösung  werden  sollte.  Es  stand  die  Mutter  nicht  zu  einem  un¬ 
würdigen  Schauspiel,  sie,  die  den  Henker  nicht  fürchtete.  Am  Kreuze 
hing  der  Sohn ,  die  Mutter  bot  sich  seinen  Verfolgern  dar.  Und 


116 


wenn  es  nur  darum  wäre,  um  vor  dem  Sohne  niedergestreckt  zu 
werden,  so  wäre  der  Trieb  ihrer  Liebe  zu  loben,  weil  sie  ihren  Sohn 
nicht  überleben  wollte;  wenn  aber  darum,  um  mit  ihrem  Sohne 
zu  sterben,  so  verlangte  sie  mit  demselben  auch  aufzuerstehen,  nicht 
unkundig  des  Geheimnisses,  dass  sie  den  geboren  habe,  der  auferstehen 
werde.  Zugleich  aber  auch  im  Bewusstsein,  dass  der  Tod  ihres 
Sohnes  zum  allgemeinen  Wohle  stattfinde,  stand  sie  in  der  Erwartung, 
ob  nicht  auch  etwa  durch  ihren  Tod  dem  allgemeinen  Wohle  etwas 
beigefügt  werden  könnte  ....  Wie  also  konnte  Marien  die  Reinigkeit 
entrissen  werden,  ihr,  die,  während  die  Apostel  flohen,  den  Tod 
nicht  fürchtete,  sondern  selber  der  Gefahr  sich  darbot?  Ihr,  deren 
Begnadigung  so  gross  war,  dass  sie  nicht  allein  an  sich  die  Gnade 
der  Jungfräulichkeit  bewahrte,  sondern  auch  denen,  die  sie  besuchte, 
die  Auszeichnung  der  Reinigkeit  zutrug?  Sie  besuchte  Johannes  den 
Täufer,  und  dieser  sprang  im  Leibe  seiner  Mutter  auf,  bevor  er  ge¬ 
boren  war.  Bei  der  Stimme  Mariens  hüpfte  das  Kindlein,  gehorsam, 
ehe  denn  geboren.  Und  nicht  mit  Unrecht  blieb  derjenige  unbefleckten 
Leibes,  den  die  Mutter  des  Herrn  drei  Monate  lang  gleichsam  mit  dem 
Oele  ihrer  Gegenwart  und  der  Salbe  ihrer  Reinigkeit  gefeit  hat. 
Und  eben  dieselbe  wurde  nachher  Johannes  dem  Evangelisten  über¬ 
geben,  der  ehelos  blieb.  Darum  wundere  ich  mich  nicht,  dass  dieser 
mehr  als  die  andern  die  göttlichen  Geheimnisse  enthüllt  hat,  da  ihm 
der  Palast  himmlischer  Geheimnisse  zur  Seite  stand  4).« 

Diese  Anempfehlung  der  Mutter  des  Herrn  an  Johannes  ist  für 
Ambrosius  ein  Lieblingsgegenstand  der  Betrachtung.  Schon  in  seiner 
früher  (aber  nicht  vor  386)  geschriebenen  Erklärung  des  Lukas¬ 
evangeliums *  2)  ist  sie  in  derselben  Weise,  meist  mit  denselben  Worten 
behandelt  (so  dass  unsere  Stelle  als  nur  etwas  variirte  Wiederholung 
erscheint)  und  kehrt  beinahe  wörtlich  wieder  in  dem  Brief  an  die 
Kirche  von  Vercelli  vom  Jahre  396  3 4).  Dabei  fasst  er  die  Sache  so, 
als  ob  die  Evangelisten  sich  in  die  Erzählung  der  einzelnen  Vorfälle 
bei  der  Kreuzigung  gewissermassen  getheilt  und  Johannes  eben  die 
Vertheidigung  der  heiligen  Jungfrau  sich  Vorbehalten  hätte.  Auch 
diesen  Gedanken  führt  er  mehrmals  durch,  z.  B.  in  seiner  Erklärung 
der  ersten  Kapitel  des  Lukasevangeliums4),  und  zwar  hier  wieder- 

')  Amb.  de  inst.  virg.  VI  u.  VII. 

2)  Expos,  evang.  Luc.  X,  129  ff. 

8)  Epist.  63,  109  u.  110. 

4)  Expos,  evang.  Luc.  II,  4. 


117 


um  zum  Beweise  der  Jungfräulichkeit  Mariens.  Ambrosius  findet 
somit  die  immerwährende  Jungfräulichkeit  Mariens  in  dem  Evan¬ 
gelium  bewiesen.  Und  wenn  er  oben  Christus  den  Herrn  seine 
eigene  Person  hintansetzen  lässt,  um  den  Pmf  seiner  Mutter  nicht 
zu  trüben,  so  lässt  er  ihn  hier  die  Erfüllung  seines  erhabenen  Zweckes 
—  die  Erlösung  der  Welt  —  ein  wenig  aufschieben,  »um  seine  Mutter 
nicht  ungeehrt  zurückzulassen«.  Jedoch  diesen  Ausspruch,  sowie 
noch  einige  andere  in  dem  so  eben  angeführten  Citate  haben  wir 
in  einem  andern  Zusammenhang  zu  betrachten ,  darum  sehen  wir 
hier  zur  Vermeidung  von  Wiederholungen,  die  ohnediess  hin  und 
wieder  unvermeidlich  sind,  vorläufig  davon  ab.  Auch  auf  die  Form 
des  Vortrags,  die  poetische  Farbe,  auf  die  eigenthümlich  weihevolle 
Stimmung,  die  andächtige  Innigkeit,  mit  welcher  Ambrosius  seine 
Gründe  vorbringt,  wollen  wir  nur  hindeuten.  Hier  ist  bloss  das 
Eine  zu  bezeugen,  wie  er  sich  zu  dem  Zuge  der  immerwährenden  Jung¬ 
fräulichkeit  Mariens  verhalten  habe,  und  dass  er  diesen  Zug  ebenso 
entschieden  festhielt,  wie  Hieronymus  und  Epiphanius,  leuchtete  aus 
seinen  Worten  von  selbst  ein.  Auch  nach  Ambrosius  war  und  blieb 
Maria  vom  Manne  unberührt,  war  also  beständig  Jungfrau. 

Der  heilige  Augüstin  spricht,  wie  wir  später  sehen  werden,  so 
häufig  von  dem  Keuschheitsgelübde,  welches  die  Jungfrau  schon 
früher  abgelegt,  ehe  sie  eine  Ahnung  von  ihrer  Mission  gehabt  habe, 
dass  wir  ihn  eigentlich  in  diesem  Abschnitt  übergehen  könnten;  denn 
durch  jenes  Gelübde  ist  ja  jeder  Gedanke  an  die  physische  Ehe  aus¬ 
geschlossen.  Es  ist  aber  dennoch  von  Interesse  zu  erfahren,  dass 
und  wie  er  sich  auch  über  diesen  Punkt  ausgesprochen  hat;  wir 
entnehmen  daher  seinen  Werken  einige  bezeichnende  Stellen.  Wie 
oben  (S.  104)  bemerkt,  identificirt  er  Helvidianer  und  Antidikomaria- 
niten  in  seiner  a.  428  oder  429  verfassten  Schrift  über  die  Häresieen. 
»Die  Helvidianer,  sagt  er,  welche  von  Helvidius  sich  herleiten,  wider¬ 
sprechen  der  Jungfräulichkeit  Mariens  insofern,  als  sie  behaupten, 
sie  habe  nach  Christus  auch  andere  Söhne  von  ihrem  Manne  Joseph 
geboren.  Diese  (Helvidianer)  hat  Epiphanius  mit  Uebergehung  des 
Namens  Helvidius  Antidikomarianiten  genannt  1).«  In  seiner  ca.  416 
geschriebenen  Erklärung  des  Johannesevangeliums  geht  er  auf  die 
Sache  selbst  kurz  ein.  Zu  der  Stelle  Joh.  II,  12:  ».  .  .  .  seine  Mutter 
und  seine  Brüder«  bemerkt  er  nemlich:  »Woher  hat  der  Flerr 


3)  De  haeres.  e.  84. 


118 


Brüder?  Hat  denn  Maria  wiederholt  geboren?  Ferne  sei  es!  Von 
ihr  fing  die  Jungfrauenwürde  an.  Sie  konnte  Mutter  sein,  Eheweib 
konnte  sie  nicht  sein  ....  Woher  also  die  Brüder?  Verwandte 
Mariens  waren  die  Brüder  des  Herrn,  in  irgend  einem  Grade  Ver¬ 
wandte.  Wie  beweisen  wir  das?  Aus  der  Schrift  selbst.  Bruder 
Abrahams  ist  Lot  genannt  worden,  und  er  war  doch  der  Sohn  seines 

Bruders _ Dessgleichen  hatte  Jakob  den  SyrerLaban  zum  Oheim 

Lies  die  Schrift  und  du  wirst  finden,  dass  Oheim  und  Schwestersohn 
Brüder  genannt  werden.  Nachdem  du  diese  Regel  kennen  gelernt 
hast,  wirst  du  finden,  dass  alle  Blutsverwandten  Mariens  Brüder 
des  Herrn  seien  *).«  In  derselben  Schrift,  weiter  unten,  ermahnt  er 
dann  seine  Zuhörer:  »Wenn  ihr  also  von  Brüdern  des  Herrn  höret, 
so  denket  an  die  Verwandtschaft  Mariens,  welche  nicht  ein  zweites 
Mal  gebar.  Denn  wie  in  dem  Grabe,  wo  der  Leichnam  des  Herrn 
niedergelegt  worden  ist,  weder  vorher  noch  nachher  je  ein  Todter 
lag;  so  hat  der  Leib  Mariens  weder  vorher  noch  nachher  etwas 
Sterbliches  empfangen *  2).« 

ln  seinem  Buch  »über  die  Ehe  und  Begierlichkeit«  (geschr.  419) 
endlich  führt  er  aus,  dass  Marias  Ehe  mit  Joseph  nichts  desto  weniger 
ein  wahres,  sakramentales  Ehebündniss  gewesen  sei,  wenn  ihr  auch 
das  physische  Moment  gefehlt  habe.  »Ferne  sei  es,  dass  zwischen 
denjenigen,  welche  aus  beiderseitiger  Uebereinstimmung  sich  der 
Fleischeslust  für  immer  enthalten,  das  eheliche  Band  zerrissen  werde. 
Im  Gegentheil,  es  wird  um  so  fester  sein,  je  mehr  sie  solche  Ver¬ 
abredungen  mit  einander  treffen ,  welche  um  so  inniger  und  ein¬ 
trächtiger  zu  halten  sind ,  nicht  durch  das  Band  körperlicher  Lust, 
sondern  durch  die  freiwillige  Neigung  der  Seelen.  Denn  nicht  in 
trügerischer  Weise  ist  vom  Engel  zu  Joseph  gesagt  worden:  Fürchte 
dich  nicht,  Maria,  deine  Gemahlin  zu  dir  zu  nehmen.  Gemahlin 
wird  sie  genannt  infolge  der  anfänglichen  Treue  der  Verlobung,  obwohl 
er  sie  weder  durch  Beiwohnung  erkannt  hatte,  noch  je  erkennen  wollte. 
Die  Benennung  Gemahlin  hatte  weder  ihre  Bedeutung  verloren,  noch 
war  sie  in  Form  einer  Lüge  verblieben,  obwohl  irgendwelche  Fleisches¬ 
vermischung  weder  stattgefunden  hatte,  noch  in  Zukunft  stattfinden 
sollte  ....  Aus  diesem  Grunde  verdienen  beide  Eltern  Christi  ein 
treues  Ehepaar  genannt  zu  werden  .  .  .  ,3)« 

9  In  Joann.  evang.  tract.  X,  c.  2. 

2)  Ibid.  Tract.  23,  3. 

:!)  De  nupt.  et  concup.  c.  11. 


Maria  ist  also  Josephs  treues  Eheweib,  wenn  auch  die  Ehe  bräut¬ 
lich  bleibt.  Letzteres  beweist  das  Evangelium  selbst,  denn  die  Stellen, 
welche  das  Gegentheil  zu  besagen  scheinen,  bedürfen  nur  der  richtigen 
Erklärung,  und  andere  Stellen,  namentlich  des  Johannesevangeliums, 
sprechen  bei  einigem  Nachdenken  deutlich  dafür.  Es  versteht  sich 
aber  auch  von  selbst.  Denn  wie  wäre  nur  zu  denken,  dass  das 
Gefäss,  welches  das  Heil  der  Welt  umschlossen,  mit  anderem  Inhalt 
sich  hätte  füllen  können  oder  wollen ,  oder  dass“  der  Behüter  dieses 
Gefässes,  der  seine  heilige  Bestimmung  kannte,  diese  Bestimmung 
nicht  für  immer  hätte  ehren  müssen. 

Diess  etwa  ist  die  Quintessenz  der  voranstehenden  Aus¬ 
führungen.  — 

Die  ungefähre  chronologische  Folge  der  Beweise  (wobei  wir  von 
den  Wiederholungen  des  Nemlichen  absehen)  ist  diese: 

1.  Joseph  war  ein  betagter  Witwer  (wird  später  fallen  gelassen). 

2.  Die  Mutter  des  Herrn  konnte  sich  nicht  zu  einem  Ehe¬ 
weib  degradiren. 

3.  Maria  musste  die  erste  Jungfrau  sein. 

4.  Eine  physische  Ehe  Mariens  ist  ein  für  die  Gläubigen  uner¬ 
träglicher  Gedanke. 

5.  Der  Leib,  der  Gott  getragen,  konnte  keine  andere  Frucht 
tragen. 

6.  Joseph  konnte,  als  Kenner  des  Berufs  Mariens,  gar  nicht  an 
physische  Ehe  denken. 

7.  Die  eine  physische  Ehe  scheinbar  zugebenden  Schriftstellen 
sprechen  richtig  verstanden  nicht  dafür. 

8.  Andere  Schriftstellen  sprechen  direkt  dagegen. 

9.  Schon  das  naturgeschichtliche  Beispiel  der  Löwin  zeigt  die 
Unmöglichkeit. 

10.  Die  »Brüder  Jesu«  sind  nicht  einmal  Josephs  Söhne,  sondern 
Vettern  Jesu. 

11.  Joseph  war  auch  vor  seiner  Ehe  mit  Maria  nicht  ver¬ 
heiratet,  sondern  war  und  blieb  jungfräulich  durch  Maria. 

12.  Maria  hatte  schon  vor  ihrer  Ehe  das  Gelübde  der  Keusch¬ 
heit  abgelegt. 

Der  letzte  Punkt  wird  erst  später,  bei  der  Charakterentwickelung 
Mariens,  recht  zur  Sprache  kommen. 


Immerwährende  Jungfrau. 

Aus  der  Vorstellung  von  der  bräutlich  gebliebenen  Ehe  Mariens 
erwächst  der  Zug  immerwährender  Jungfräulichkeit  und  stellt  sich 
zunächst  als  Ergänzung  des  Zugs  der  jungfräulichen  Empfängniss 
dar.  Maria  hat  als  Jungfrau  empfangen  und  ist  Jungfrau  in  der 
Ehe  geblieben. 

Aber  sie  ist  auch  Mutter  geworden. 

Ist  sie  nun  nicht  bloss  insofern  Jungfrau  geblieben,  als  sie  keinen 
männlichen  Umgang  kannte;  hat  sie  aber  nicht  dennoch  aufgehört, 
Jungfrau  in  anatomisch-physiologischem  Sinne  zu  sein,  weil  sie  ihrem 
Sohn  das  Leben  gegeben?  Diese  Frage  lag  nahe  und  musste  um 
so  eher  gestellt  werden,  als  der  Titel  »Jungfrau«,  der  der  Mutter 
des  Herrn,  wie  wir  gesehen  haben,  von  Alters  her  geblieben  war, 
nur  dann  seine  volle  Berechtigung  behielt,  wenn  sie  verneint  wurde. 
Dass  diess  dem  einfältigen  Glauben  keine  Schwierigkeit  macht,  liegt 
auf  der  Hand.  Das  Weib ,  welches  Jungfrau  bleibt ,  trotzdem  dass 
es  empfängt,  kann  auch  Jungfrau  bleiben,  trotzdem  dass  es  geboren 
hat.  Bei  beiden  Vorgängen  ist  das  Wunder  dasselbe;  das  Eine  ist 
ein  Akt  göttlicher  Allmacht,  wie  das  Andere.  Anders  gestaltet  sich 
die  Sache  für  die  Reflexion.  Diese  kann  auf  halbem  Wege  stehen 
bleiben,  wie  das  so  oft  der  Fall  ist.  Die  jungfräuliche  Empfängniss 
hält  sie  fest,  denn  der  Sohn  Gottes  darf  nicht  des  Mannes  Sohn 
sein ;  die  jungfräuliche  Mutterschaft  lässt  sie  fallen  oder  bringt  sie 
gar  nicht  zur  Sprache,  denn  die  Folgen  der  Schwangerschaft  und 
Geburt  für  den  Körper  Mariens  können  für  das  Wesen  ihres  Sohnes 
als  durchaus  bedeutungslos  angesehen  werden. 

Die  Bibel  bietet  weder  für  die  eine  noch  für  die  andere  Auf¬ 
fassung  einen  sicheren  Ausgangspunkt.  Auf  den  ersten  Blick  aller¬ 
dings  scheint  sie  die  Annahme  zu  unterstützen,  dass  Maria  durch  den 


121 


Geburtsakt  aufgehört  habe,  Jungfrau  in  anatomisch- physiologischem 
Sinne  zu  sein.  Lukas  nemlich  sagt  II,  21:  »da  die  Tage  ihrer 
Reinigung  nach  dem  Gesetze  Mosis  erfüllt  waren.«  Legt  man  nun 
den  Nachdruck  auf  »Reinigung«  und  versteht  darunter  die  bekannten 
körperlichen  Vorgänge,  so  ist  damit  die  volle  Jungfräulichkeit  auf¬ 
gehoben.  Legt  man  aber  den  Nachdruck  auf  »die  Tage«  und  »nach 
dem  Gesetze  Mosis«,  so  kann  mit  der  Stelle  einfach  die  gesetzlich  x) 
vorgeschriebene  Zeit  gemeint  sein ,  welche  zwischen  Geburt  und 
Darbringung  im  Tempel  verstreichen  musste,  ohne  dass  eine  eigent¬ 
liche  »Reinigung«  stattzufmden  brauchte. 

Ohne  Zweifel  gingen  anfänglich  beide  Vorstellungen  ebenso 
nebeneinander  her,  wie  die  über  die  Ehe  Mariens.  Diejenigen, 
w eiche  über  dem  Sohne  die  Mutter  ganz  vergassen,  werden  sich  nicht 
die  Mühe  genommen  haben,  weiter  über  die  Sache  nachzudenken, 
oder,  wenn  sie  diess  thaten,  keinen  Anstoss  an  dem  Aufhören  jung¬ 
fräulicher  Körperbeschaffenheit  gefunden  haben ;  während  Andere, 
die  sich  in  die  an  Maria  geschehenen  Wunder  vertieften,  die  Gonse¬ 
quenz  immerwährender  körperlicher  Jungfräulichkeit  gezogen  haben. 
Ueber  die  Sache  nachzudenken ,  war  auch  sonst  Anlass  gegeben. 
Die  gnostischen  Träumereien,  die  Lehren,  dass  Jesus  durch  Maria 
wie  Wasser  durch  einen  Kanal  hindurchgegangen,  dass  er  mit  einem 
Scheinleib,  als  Gespenst  erschienen  sei,  wodurch  natürlich  die  Körper¬ 
beschaffenheit  der  Scheinmutter  nicht  alterirt  werden  konnte,  dürften 
nicht  ohne  Einfluss  darauf  gewesen  sein,  über  den  genannten  Punkt 
sich  eine  bestimmte  Vorstellung  zu  bilden. 

Und  so  finden  wir  denn  in  demselben  Protevangelium  Jakobi, 
in  welchem  die  bräutliche  Ehe  Mariens  zuerst  als  Thatsache  aufgestellt 
wird,  ebenfalls  bereits  eine  historisch  begründete  Formulirung  dieser 
Vorstellung.  Die  genannte  Schrift  erzählt  nemlich,  dass  die  von  Joseph 
herbeigerufene  Hebamme  staunend  einer  anderen  Frau  erzählt  habe, 
dass  hier  eine  Jungfrau  geboren  habe.  Diese  Frau  will  es  nicht  glauben 
und  untersucht  die  junge  Mutter.  Da  verdorrt  ihr  die  Hand  und  wird 
nur  durch  Berührung  des  Kindes  wieder  geheilt1  2).  Der  Verfasser  des 
Protevangeliums  ist  wohl  ebensowenig  der  Schöpfer  dieser  Anschauung, 
als  der  andern  über  die  Ehe  Mariens,  sondern  er  sucht  wohl  auch  hier 
einer  bereits  Vorgefundenen  Meinung  ein  historisches  Fundament  zu 


1)  Levit.  XII,  4. 

2)  Prot.  c.  19  u.  20. 


122 


unterbauen.  Diese  Meinung  jedoch  brach  sich  ebenfalls  nur  langsam  Bahn 
und  ihr  Wachsthum  hielt  wiederum  natürlich  Schritt  mit  dem  allge¬ 
meinen  Wachsthum  des  Namens  Maria  in  der  Vorstellung  der  Gläubigen. 

Der  erste  Kirchenvater,  welcher  sie  sich  zu  eigen  machte,  ist 
Clemens  von  Alexandrien,  Vorstand  der  dortigen  Katecheten¬ 
schule  (f  um  217).  Dieser  schreibt  im  Jahr  194  Folgendes:  »Wie 
es  scheint,  halten  die  Meisten  (rolg  nolXolg  doy.el)  auch  jetzt  noch 
Maria  für  eine  Kindbetterin  (Xe^c-1)  wegen  der  Geburt  des  Kindes, 
da  sie  doch  keine  Kindbetterin  war.  Denn  es  sagen  Einige,  sie  sei 
nach  der  Geburt  von  einer  Hebamme  untersucht  und  als  Jungfrau 
erfunden  worden.  Eine  solche  (Jungfrau)  ist  für  uns  auch  die  hei¬ 
lige  Schrift,  welche  die  Wahrheit  gebiert  und  Jungfrau  bleibt  durch 
die  Verheimlichung  der  Mysterien  der  Wahrheit.  ,Sie  hat  geboren 
und  nicht  geboren4,  sagt  die  Schrift,  weil  sie  aus  sich  selbst  und 
nicht  durch  ßeiwohnung  empfangen  hat  1).«  Bekennt  sich  hier 
Clemens  offenbar  zu  einer  Minorität,  so  ist  andererseits  ebenso 
klar,  dass  er  seine,  aus  dem  angeführten  Apokryph  geschöpfte,  An¬ 
sicht  bereits  wissenschaftlich  zu  stützen  sucht.  Erstens  bringt  er 
dafür  eine  (prophetisch  genommene)  Schriftstelle,  die  freilich  nirgends 
aufzufinden  ist.  Wir  werden  derselben  bei  Tertullian  wieder  begegnen. 
Zweitens  zieht  er  ein  Analogon  herbei.  Die  heilige  Schrift  gebiert 
die  Wahrheit,  ist  also  Mutter,  und  zwar  des  Wortes  Gottes,  wie 
Maria.  Aber  sie  bleibt  dabei  auch  Jungfrau  durch  Verheimlichung 
der  Wahrheit  (vor  Häretikern  und  Ungläubigen,  weil  diese  sie  falsch 
oder  gar  nicht  verstehen  oder  durch  Verdrehung  misshandeln;  und 
dann  durch  die  Art  der  Darstellung,  da  viele  Aussprüche  derselben 
nur  durch  allegorische  Exegese  zu  enträthseln  seien).  Ausserdem  Jässt 
sich  noch  eine  Stelle  im  »Pädagogos«  als  Analogon  fassen:  »Eine 
ist  Mutter  und  Jungfrau,  Kirche  nenne  ich  sie  mit  Freuden  .  .  .  . 
unbefleckt  wie  eine  Jungfrau,  liebend  wie  eine  Mutter  2).« 

Obwohl  nun  Clemens  sich  nicht  bloss  als  Anhänger,  sondern 
auch  als  Verfechter  der  Ansicht  zeigt  und  öfter  darauf  zurückkommt, 
(so  nennt  er  auch  sonst  Christus  »Frucht  der  Jungfrau«  und  Maria 
»eine  Jungfrau,  die  geboren  hat«  3),  so  bleibt  er  dennoch  lange  allein. 
Gleich  sein  Zeitgenosse  Tertullian  vertritt  die  entgegengesetzte  An- 


9  Stromata  VII,  pag.  889.  Ed.  Potter. 

2)  Paedag.  I,  6,  p.  123. 

3)  Cohort.  c.  XI. 


123 


sicht,  obwohl  er  den  Inhalt  des  Protevangeliums  gekannt  zu  haben 
scheint,  da  er  den  Tod  des  Zacharias  ebenso  motivirt,  wie  dieses  1). 
(S.  unten.) 

An  Simeons  Prophezeiung  anknüpfend  sagt  er  nemlich  in  der 
Schrift  über  das  Fleisch  Christi:  »Wir  erkennen  also  als  Zeichen, 
dem  man  widersprechen  wird,  die  Empfängniss  und  Geburt  der  Jung¬ 
frau  Maria ,  worüber  jene  Akademiker  (er  meint  die  Doketen)  sich 
der  Ausdrücke  bedienen:  ,sie  hat  geboren  und  nicht  geboren1 *,  ,sie 
ist  Jungfrau  und  nicht  Jungfrau4;  als  ob  diese  Formeln,  wenn  man 
sich  je  derselben  bedienen  will,  nicht  vielmehr  uns  geziemten.  Denn 
sie  hat  geboren  —  aus  ihrem  Fleische,  sie  hat  nicht  geboren  — 
infolge  männlicher  Befruchtung.  Und  sie  ist  Jungfrau,  —  weil  sie 
keinen  Mann  erkennt,  sie  ist  nicht  Jungfrau  —  mit  Bezug  auf  ihre 
Geburt.  So  verstanden,  .assen  sich  diese  Worte  auf  sie  anwenden, 
nicht  aber  in  dem  Sinne,  dass  sie  nicht  wahrhaft  leibliche  Mutter 
wäre  ....  Es  hat  wirklich  geboren,  die  geboren  hat.  Und  wenn 
sie  als  Jungfrau  empfangen  hat,  so  hat  sie  in  der  Geburt  ihres 
Kindes  geheirathet  gerade  durch  die  Beschaffenheit  des  geöffneten 
Mutterleibes  ....  Ihr  Mutterschooss  ist  es,  um  dessentwillen  auch 
von  andern  geschrieben  steht:  Alles  Männliche,  was  den  Mutter¬ 
schooss  eröffnet,  wird  dem  Herrn  heilig  sein.  Denn  wer  ist  wahrhaft 
heilig,  als  Gottes  Sohn?  Und  wer  hat  eigentlich  den  Mutterschooss 
eröffnet,  als  der,  welcher  einen  noch  geschlossenen  zu  eröffnen  hatte? 
Allen  Frauen  eröffnet  ihn  sonst  die  Heirath.  Daher  wurde  (der 
Mutterschooss  Mariä)  um  so  mehr  geöffnet,  weil  er  mehr  geschlossen 
war.  Ja,  sie  ist  eigentlich  eher  nicht  Jungfrau  zu  nennen,  als 
Jungfrau,  indem  sie  durch  eine  Art  Sprung  früher  Mutter  als  ver- 
heirathet  war.  Doch  was  ist  hierüber  noch  mehr  zu  reden?  Wenn 
aus  diesem  Grunde  der  Apostel  gesagt  hat,  dass  der  Sohn  Gottes 
nicht  aus  der  Jungfrau,  sondern  aus  dem  Weibe  geboren  sei,  so  hat 
er  damit  anerkannt,  dass  der  Mutterschooss  Mariä  durch  seine  Er¬ 
öffnung  etwas  Eheliches  erduldet  habe.  Wir  lesen  zwar  bei  Ezechiel  -) 
von  jener  Kuh,  welche  geboren  und  nicht  geboren  hat.  Aber  gebt 


')  Scorpiace  adv.  Gnost.  e.  8. 

2)  Tertullian  also  nennt  den  Autor  der  schon  bei  Clemens  vorkommenden 

Stelle,  die  in  der  Bibel  nicht  zu  finden,  also  apokryph  ist.  Rigaltius,  Pamelius 

und  andere  Erklärer  Tertullians  haben  verschiedene  Meinungen  darüber,  die  aber 
für  uns  gleichgültig  sind.  S,  auch  die  Potter’sche  Ausgabe  des  Clemens  Alex. 


124 


Acht,  ob  nicht  schon  damals  der  in  die  Zukunft  schauende  heilige 
Geist  (der  durch  den  Propheten  spricht)  hiemit  euch  bezeichnet  habe 
als  solche,  welche  über  den  Mutterleib  Mariä  verhandeln  werden  *)«  .... 

Tertullian  gehört  also  zu  denen,  welche  die  Empfängniss  zwar 
für  eine  übernatürliche,  die  Geburt  aber  für  eine  natürliche  hielten 
und  diess  um  so  unzweideutiger,  wenn  man  dazu  nimmt,  dass  er  an 
anderen  Stellen *  2)  über  die  Leiden  der  Schwangerschaft,  die  Geburts¬ 
schmerzen  Marias,  sowie  über  die  übrigen  physiologischen  Erschein 
nungen,  die  den  Geburtsakt  begleiten,  sich  verbreitet.  Freilich  ge¬ 
schieht  diess  Alles  im  Kampfe  mit  den  cloketischen  Gnostikern,  die 
als  Verächter  der  Natur  und  ihrer  Gesetze  es  für  etwas  Unanständiges, 
Schmutziges,  Gottes  ganz  Unwürdiges  erklärten,  wenn  er  zu  seiner 
Menschwerdung  sich  des  natürlichen  Weges  hätte  bedienen  wollen. 
Wie  gegen  die  Ebioniten  den  Sohn  Gottes,  so  hatte  er  gegen  die 
Doketen  den  Sohn  des  Menschen  zu  retten;  gegen  die  erstem  kehrt 
der  alte  Advokat  das  Wunder  hervor,  gegen  die  zweiten  lässt  er  es 
fallen;  das  eine  Mal  erhebt  er,  das  andere  Mal  opfert  er  leichten 
Herzens  die  Mutter  und  zeigt  eben  damit,  dass  ihm  Alles  am  Sohn, 
an  der  Mutter  wenig  gelegen  war.  Jedenfalls  zählt  er  hiemit  noch 
unter  der  von  Clemens  erwähnten  Mehrzahl. 

Aber  auch  Origenes  bekannte  sich  nicht  zu  der  Meinung  seines 
Lehrers  Clemens,  obwohl  auch  er  das  Buch  des  Jakobus  kannte,  wie 
wir  oben  gesehen  haben.  In  der  Stelle  Luk.  II,  22  »und  als  die 
Tage  ihrer  Reinigung  gekommen  waren«  ,  liest  er  das  »ihrer«  als 
Plural,  avrcöv,  und  gesteht  hiebei  seine  exegetische  Verlegenheit. 
»Wenn  der  Singular  avrfjQ  geschrieben  wäre,  sagt  er,  cl.  h.  Marias, 
welche  geboren  hatte,  so  hätte  die  Sache  keine  Schwierigkeit  und 
wir  würden  kühnlich  sagen,  dass  Maria,  welche  Mensch  war,  der 
Reinigung  nach  der  Geburt  bedurft  habe  3).«  Die  Verunreinigung 
durch  den  Geburtsakt  verneint  er  zwar  an  einer  andern  Stelle,  die 
wir  schon  oben  beim  Zug  der  Jungfräulichkeit  beizubringen  halten. 
Er  bemerkt  nemlich,  wie  man  sich  erinnert,  zu  Levit.  XII,  2:  »jedes 
Weib,  wenn  es  Samen  empfangen  ....soll  sieben  Tage  unrein 
sein« ,  dass  die  Worte  »wenn  es  Samen  empfangen«  überflüssig 
scheinen  könnten,  weil  kein  Weib  ohne  Samenempfängniss  gebäre. 


')  De  carne  Christi,  23. 

2)  I bid.  4.  Contra  Marc.  III,  11;  IV,  21. 

3)  Hom.  XIV.  in  Luc.  Bd.  III,  S.  947. 


125 


»Aber  ich  mache  aufmerksam  darauf,  ob  nicht  vielleicht  dieses  in 
prophetischem  Sinne  gesagt  sein  möchte,  damit  nicht  Maria,  welche 
nicht  durch  Samenempfängniss  ....  geboren  hat,  für  unrein  gehalten 
werde.  Maria  konnte  übrigens  auch  dann ,  wenn  jene  Worte  .... 
nicht  dastünden,  nicht  für  unrein  gehalten  werden,  denn  sie  war 
nicht  einfach  ein  Weib,  sondern  eine  Jungfrau  *).«  Aber  dass  ihm 
dieser  Titel  »Jungfrau«  hier  bloss  in  Bezug  auf  die  Empfängniss 
gilt,  geht  aus  seiner  Erklärung  von  Luk.  II,  23:  »alles  Männliche, 
was  den  Mutterleib  öffnet  u.  s.  w.«  hervor.  »Diese  Stelle,  sagt  er, 
schliesst  einen  heiligen  Sinn  ein.  Denn  kein  männliches  Kind, 
welches  aus  dem  Mutterschoosse  tritt,  öffnet  den  Leib  seiner  Mutter 
so,  wie  der  Herr  Jesus;  weil  allen  Frauen  nicht  die  Geburt  des 
Kindes,  sondern  die  Beiwohnung  des  Mannes  den  Schooss  öffnet. 
Der  Mutter  des  Herrn  aber  wurde  in  dem  Zeitpunkt  der  Schooss 
geöffnet,  in  welchem  auch  das  Kind  zur  Welt  kam,  weil  den  heiligen 
und  mit  der  höchsten  Verehrung  zu  verehrenden  Leib  vor  der  Geburt 
Christi  überhaupt  kein  männliches  Wesen  berührte1 2).« 

Tertullian  und  Origenes  liefern  hiedurch  den  Beweis,  dass  die 
bewusste  Vorstellung  von  der  unverletzten  Jungfrauschaft,  welche  im 
zweiten  Jahrhundert  um  sich  zu  greifen  begonnen  hatte,  im  dritten 
jedenfalls  nur  langsame  Fortschritte  machen  konnte.  Wir  haben 
denn  auch  aus  diesem  Jahrhrhundert,  ja  bis  über  die  erste  Hälfte 
des  vierten  hinaus  keinen  sichern  Beleg  für  die  Weiterverbreitung 
der  Meinung  des  Clemens.  Aber  ebensowenig  für  das  Gegentheil. 
Kurz,  die  ganze  Frage  ruht,  d.  h.  die  Akten  schweigen.  Erst  die 
zweite  Hälfte  des  vierten  Jahrhunderts  bringt  uns  wieder  sichere 
Zeugen,  dass  das  Jakobusbüchlein  in  der  Stille  fortgewirkt  hat.  Es 
ist  diess  auch  erklärlich.  Die  patripassianischen  Streitigkeiten  des 
dritten  Jahrhunderts  boten  keinen  zwingenden  Anlass,  auf  diese  Frage 
einzugehen,  erst  der  Arianismus  in  seinen  verschiedenen  Phasen  und 
Gegensätzen  zog,  wie  wir  gesehen  haben,  die  Mutter  des  Herrn  wieder 
lebhafter  in  den  Meinungskampf  herein.  Und  so  ist  wohl  die  Ver- 
muthung  der  Brüder  Ballerini,  der  trefflichen  Herausgeber  des  h.  Zeno 
von  Verona  (f  um  380),  nicht  grundlos,  dass  dieser  Kirchenvater 
durch  einige  Gegner,  welche  vielleicht  mit  denjenigen  zusammenfallen, 


1)  Hom.  in  Levit.  VIII,  2. 

2)  Hom.  XIV,  in  Luc.  Bd.  III,  S.  948.  Vgl.  Gallandi  Bd.  XIV,  Append.  pag.  88. 
„Movoc  -fap  obzoz  8'.yjvoi|s  jv'q'tpr/.v  sv.  rcapOivoo  Tsyftct?.“ 


•  —  12(3  — 

gegen  die  wir  ihn  früher  auftreten  sahen,  zu  der  folgenden  Kund¬ 
gebung  provocirt  worden  sei. 

Er  sagt  nemlich  in  einer  seiner  »Abhandlungen«:  »Gott,  Gottes 
Sohn,  ist  zur  bestimmten  Zeit  unter  einstweiliger  Verheimlichung  seiner 
Majestät  von  seinem  himmlischen  Throne  ausgegangen  und  schlägt  in 
dem  Tempel  der  vorherbestimmten  Jungfrau  sich  ein  Lager  auf,  wohin 
er  verborgener  Weise  sich  begibt,  um  Mensch  zu  werden,  und  denkt 
dort,  mit  Vorbehalt  dessen,  was  er  war,  darauf,  das  zu  sein,  was  er 
nicht  war.  Menschlichem  Fleische  also  beigemischt  bildete  er  sich  zum 
Kinde.  Mariens  Leib  strahlt  stolz  hervor  nicht  durch  eheliche  Verbindung, 
sondern  durch  den  Glauben,  nicht  durch  Samen,  sondern  durch  das 
Wort.  Die  zehn  monatlichen  Leiden  kennt  sie  nicht,  denn  sie  hat  den 
Schöpfer  der  Welt  in  sich  aufgenommen,  sie  gebiert  nicht  mit  Schmerzen, 
sondern  mit  Freuden.  Wunderbar!  jauchzend  bringt  sie  ein  Kind 
zur  Welt,  welches  älter  ist,  als  das  Alter  der  ganzen  Natur.  Unter¬ 
dessen  seufzt  sie  nicht,  die  junge  Wöchnerin  und  auch  das  neu¬ 
geborene  Kind  fängt  nicht,  wie  gewöhnlich,  das  Leben  mit  Thränen 
an.  Seine  Mutter  liegt  nicht,  durch  die  Strapazen  einer  solchen  Ge¬ 
burt  erschöpft,  blass  da,  an  allen  Gliedern  zerschlagen.  Noch  ist 
der  Sohn  von  der  Mutter  oder  seinem  eigenen  Schmutze  befleckt; 
denn  der  kann  wahrhaftig  nichts  Unreines  um  sich  haben,  der  die 
Sünde,  den  Schmutz  und  die  Makeln  des  Menschengeschlechts  zu 
reinigen  gekommen  war.  Endlich  sind  dem  Kinde  auch  keine 
Reinigungen,  die  durch  Verzögerung  gefährlich  sind,  keine  Verluste 
der  mütterlichen  Eingeweide  gefolgt.  Auch  keine  Umschläge  kamen 
bei  der  jungen  Wöchnerin  nach  gewohnter  Weise  in  Anwendung, 
denn  diejenige,  ihr  Brüder,  konnte  dieselben  nicht  nöthig  haben, 
welche  gewürdigt  war,  den  Heiland  aller  Seelen  als  Sohn  im  Leibe 
zu  empfangen.  0  des  grossen  Geheimnisses!  Maria  hat  als  unverletzte 
Jungfrau  empfangen,  nach  der  Empfängniss  als  Jungfrau  geboren, 
nach  der  Geburt  ist  sie  Jungfrau  verblieben.  Der  ungläubigen 
Hebamme,  die  die  Wöchnerin  untersuchte,  verdorrt  die  Hand  zum 
Zeugniss  unverletzter  Jungfräulichkeit,  jedoch,  nachdem  sie  das  Kind 
berührt,  wird  der  Brand  gedämpft,  und  so  geht  jene  zum  Heil  neu¬ 
gierige  Aerztin,  welche  zu  heilen  gekommen  war,  geheilt  hinweg, 
bewundernd  die  Jungfrau-Mutter,  bewundernd  das  göttliche  Kind, 
in  grosser  Freude  jauchzend  1).« 


T)  Lib,  II,  tract.  8 


127 


Gleich  in  der  folgenden  Abhandlung  spricht  Zeno  wiederholt 
von  derselben  Sache:  »(Der  Sohn  Gottes)  betritt  das  Heiligthum 
des  jungfräulichen  Tempels,  ....  ruht  gerne  in  dem  blühenden 
Wohnsitz  der  Keuschheit  und  bereitet  sich  im  Leibe  der  heiligen 
Jungfrau  einen  Körper,  um  nach  seinem  Rathschluss  geboren  zu 
werden....  Wunderbar!  es  empfängt  Maria  von  dem,  den  sie 
gebiert;  es  schwillt  ihr  Leib  von  seiner  Majestät,  nicht  von  Samen, 
und  es  umfasst  die  Jungfrau  den,  welchen  die  Welt  und  die  Fülle 
der  Welt  nicht  fasst.  Indessen  fördern  die  Glieder  ihren  Schöpfer 
zu  Tage,  und  das  Werk  umkleidet  seinen  Künstler  mit  Gestalt. 
Maria  gebiert  nicht  mit  Schmerzen,  sondern  mit  Freuden.  Es  wird 
der  Sohn  ohne  Vater  geboren,  doch  gehört  er  nicht  ganz  der  Mutter 
an;  er  verdankt  es  sich,  dass  er  empfangen,  er  gewährt  der  Mutter, 
dass  er  geboren  ist;  und  diese  staunt,  dass  sie  einen  solchen  Sohn 
bekommen  habe,  von  dem  man  nicht  glauben  könnte,  dass  er  aus 
ihr  stamme,  wenn  nicht  darum,  weil  sie,  wie  vor  der  Empfängniss, 
so  auch  nach  der  Geburt  unverletzte  Jungfrau  bleibt  Q.«  Nach  diesen 
Ausführungen  ist  nun  auch  die  kurze  und  präcise  Formel:  »Maria 
war  Jungfrau  nach  ihrer  Verehelichung,  Jungfrau  nach  ihrer  Em¬ 
pfängniss,  Jungfrau  nach  ihrem  Sohne«,  welche  Formel  sich  in 
einer  frühem  Abhandlung *  2)  vorfindet,  ihrem  vollen  Sinne  nach  ver¬ 
ständlich. 

Zeno  ist  der  erste  lateinische  Kirchenvater,  der  den  neuen  Zug 
verficht.  Auch  er  ist,  wie  Clemens,  durch  das  Protevangelium  darauf 
gebracht  worden  und  nimmt  dasselbe  unbefangen  als  Geschichte; 
ein  Beweis,  dass  dasselbe,  oder  eine  Nachbildung  desselben  jetzt 
auch  im  Abendlande  bekannt  war.  Ja  es  muss  hier  schon  ziemlich 
lang  vor  Zeno  verbreitet  gewesen  sein,  denn  er  citirt  für  seine  ein¬ 
geflochtene  Erzählung  keine  Quelle  mehr,  wie  Clemens,  sondern  be¬ 
handelt  sie  als  eine  seinem  Publikum  geläufige  Thatsache,  und  zwar 
nicht  so  fast  in  lehrhaftem,  als  in  erbaulichem  Tone.  Andererseits 
beweist  seine  ganze  Art  der  Behandlung  des  Gegenstandes,  dass  die 
theologische  Hauptfrage  der  Zeit  über  die  Göttlichkeit  der  Person 
Christi  von  ebenso  bestimmendem  Einfluss  auf  seinen  Glauben  an 
diese  Annahmestellung  der  Mutter  des  Herrn  gewesen  ist. 

Hiezu  kommt  noch  ausserdem,  dass  Zeno  höchstwahrscheinlich 


')  Ibid.  tract.  9. 

2)  Lib.  I,  tract.  5,  n.  3. 


128 


der  erste  war,  der  im  Abendland  Nonnenklöster  einführte,  und  so 
musste  ihm,  als  einem  Hauptvorkämpfer  der  Virginität,  auch  aus 
diesem  Grunde  naheliegen,  das  Ideal  der  Jungfräulichkeit  in  seinem 
ganzen  Glanze  darzustellen. 

Es  dürfte  liier  der  Ort  sein,  etwas  von  dem  Zusammenhang  der 
Vorstellung  von  der  immerwährenden  Jungfrauschaft  Mariens  mit 
der  wachsenden  Hochschätzung  des  jungfräulichen  Lebens  überhaupt 
zu  sagen. 

Das  jungfräuliche  Leben  nemlich,  das  schon  in  der  Bibel  für 
diejenigen,  »die  es  zu  fassen  vermögen«  x),  als  Gipfelpunkt  christlicher 
Vollkommenheit  aufgestellt  ist,  batte  von  den  apostolischen  Zeiten 
an  eine  immer  allgemeinere  Anerkennung  gefunden.  Um  nur  die 
hauptsächlichsten  Namen  aufzuführen,  so  sind  Clemens  von  Alexan¬ 
drien,  Origenes,  Methodius,  Athanasius,  Cyrill  von  Jerusalem,  Hilarius 
von  Poitiers,  Basilius,  die  Gregore  von  Nazianz  und  von  Nyssa, 
Epiphanius,  Chrysostomus,  Ambrosius,  Hieronymus,  Augustinus  — 
voll  des  Lobes  der  Jungfräulichkeit.  Von  den  früheren  abgesehen 
ist  Methodius  Verfasser  des  »Gastmahls  der  zehn  Jungfrauen«, 
welches  im  beabsichtigten  Gegensatz  zu  dem  platonischen  Symposion, 
das  den  spco g,  die  Liebe,  zum  Gegenstände  bat,  die  Jungfräulichkeit 
in  oft  überschwänglicher  Weise  preist  und  die  Bedeutung  und  den 
Zusammenhang  derselben  mit  dem  Christenthum  in  tiefsinniger  Weise 
darlegt.  Um  von  den  Gedichten  des  Gregor  von  Nazianz  und  von 
den  verschiedenen  ascetischen  Schriften  des  Basilius  zu  schweigen, 
so  schrieb  Gregor  von  Nyssa  ebenfalls  ein  eigenes  Buch  ȟber  die 
Jungfräulichkeit« ,  worin  er  diesen  Stand  »über  alles  Lob  erhaben« 
nennt.  Auch  Chrysostomus  verfasste  ein  Buch  mit  demselben  Titel 
und  Ambrosius  schrieb  sogar  vier  diesen  Gegenstand  behandelnde 
Werke,  aus  denen  wir  bald  Manches  mitzutheilen  haben  werden. 
Ebenso  werden  wir  die  hh.  Hieronymus  und  Augustinus  darüber 
zu  vernehmen  haben. 

Die  Virginität  wird  von  diesen  Schriftstellern  hauptsächlich  als 
Mittel  bezeichnet,  wodurch  der  Mensch  von  allen  irdischen  Sorgen 
und  Begierden  losgelöst  werde,  um  in  voller  Freiheit  des  Geistes  sich 
mit  Gott  vereinigen  und  so  die  christliche  Vollkommenheit  erlangen 
zu  können.  Sie  heisst  ein  Martyrium,  und  zwar  ein  Martyrium  nicht 
eines  kurzen ,  vorübergehenden  Momentes ,  sondern  eines  ganzen 


’)  Matth.  XIX,  11,  12;  T.  Cor.  VII. 


129 


Lebens  im  Kampf  gegen  die  Versuchungen  des  Körpers  und  die  Nach¬ 
stellungen  des  Bösen  u.  s.  w. x)  Darum  wird  auch  denen ,  welche 
in  der  Virginität  gelebt  haben *  2) ,  eine  höhere  Stufe  der  Seligkeit 
im  Himmel  zugesichert,  sie  werden  als  »erste  Schaar,  als  heiliger 
Chor«  von  den  Engeln  vor  den  andern  in  die  seligen  Wohnungen 
geleitet 3). 

Wie  nun  von  den  Kirchenvätern  in  ihren  Schriften  über  die 
Virginität  eben  Maria  in  die  Darstellung  verflochten  wird,  davon  liefert 
das  Buch  des  heiligen  Ambrosius  ȟber  die  Unterweisung  einer 
Jungfrau«  das  sprechendste  Beispiel,  wie  wir  schon  gesehen  haben 
und  nooh  sehen  werden.  Auch  die  andern  lassen  es  an  entsprechenden 
Wendungen  nicht  fehlen.  Doch  wir  begnügen  uns  hier,  folgende 
charakteristische  Stelle  des  h.  Athanasius  dafür  beizubringen.  Sie 
findet  sich  in  seinem  Commeritar  zum  Lukasevangelium  bei  dem  Verse 
des  Magnificat:  Denn  gnädig  sah  er  auf  die  Niedrigkeit  seiner  Magd 
u.  s.  w.  »Wie  gross  ist  doch  das  Gut  der  Jungfräulichkeit!  Die 
andern  Tugenden  zu  üben  wird  Jedermann  vom  Gesetze  angewiesen, 
die  Jungfräulichkeit  aber  übersteigt  das  Gesetz,  trachtet  mit  der 
ganzen  Führung  des  Lebens  nach  einem  höhern  Zwecke,  ist  ein 
Kennzeichen  der  andern  Welt,  ein  Bild  der  Reinheit  der  Engel.  Man 
könnte  viel  über  sie  sagen,  um  aber  nicht  bei  Bekanntem  mich  auf¬ 
zuhalten,  will  ich,  um  die  Grösse  dieser  Tugend  zu  zeigen,  statt 
Allem  nur  Eines  sagen:  Der  Herr  des  Alls,  Gott  der  Adyog,  hat,  nach¬ 
dem  der  Vater  die  Welt  erwecken  und  erneuern  wollte,  keine  andere 
zur  Mutter  des  Leibes,  den  er  tragen  wollte,  erwählt,  als  eine  Jung¬ 
frau.  So  geschah  es;  und  so  hat  der  Herr  unter  uns  als  Mensch 
gewohnt,  damit,  wie  die  Welt  durch  ihn  entstand,  so  auch  die 
Jungfräulichkeit  aus  ihm  den  Anfang  nehme  und  durch  ihn 
hinwiederum  diese  Gnade  den  Menschen  geschenkt  werde  und 
fördernd  unter  ihnen  verweile.  Welcher  Gegenstand  des  Rühmens 
diess  für  die  Jungfrauen  ist  und  welches  Kennzeichen  der  Gottheit 
in  ihm  kann  man  hieraus  ersehen  ....  Was  aber  Maria  geschah, 
das  gereicht  allen  Jungfrauen  zum  Ruhm,  denn  diese  hängen 


9  Method.  Gonv.  VII,  3. 

2)  Nach  Apocal.  XIV,  3 — 5. 

3)  Giern.  Roin.  (?)  ep.  I.  ad  virg.  4.  (Spätestens  aus  dein  Ende  des  3.  Jahr¬ 
hunderts  stammend.)  Method.  conviv.  1.  I.  u.  VIII. 

L  ebner,  Die  Marien  Verehrung. 


9 


130 


fortan  wie  jungfräuliche  Schösslinge  an  ihr  als  der 
Wurzel  1).« 

Dieser  Zusammenhang  der  Bevorzugung  jungfräulichen  Lebens 
mit  dem  Glauben  an  die  immerwährende  Jungfräulichkeit  Mariens 
stellt  sich  besonders  klar  heraus  durch  die  Polemik  Jovinians  und 
ihre  Folgen.  Doch  bevor  wir  diesen  kennen  lernen,  wollen  wir  noch 
einige  Zeitgenossen  des  Zeno  als  weitere  Zeugen  jenes  Glaubens  ver¬ 
nehmen,  da  sie  noch  vor  der  Provokation  des  genannten  Gegners 
gesprochen  haben. 

Epiphanius  z.  B.  führt  die  Stelle  des  Jesaias  LXVI,  7:  »Ehe 
denn  ihr  wehe  ward,  hat  sie  geboren,  ehe  ihre  Wehen  kamen,  gebar 
sie  ein  Knäblein«  als  prophetischen  Beweis  dafür  an,  »dass  die 
Jungfrau  ohne  Schmerzen  geboren  habe,  was  sonst  nirgends  ge¬ 
schehen  ist«  2).  Und  weiter  sagt  er  von  Christus,  er  sei  »im  Mutter¬ 
leib  der  Jungfrau  in  Wahrheit  geworden,  die  gehörige  Zeit  getragen, 
geboren  durch  die  Geburtsorgane  unbefleckt,  unbesudelt,  unbe¬ 
schmutzt«  3). 

An  ihn  schliesst  sich  der  heilige  Ephraem,  der  Syrer  (f  373 
oder  79)  an.  In  einer  seiner  Weihnachtsreden  sagt  er:  die  hebräischen 
Frauen  seien  in  untergeordneter  Stellung  gewesen,  Verleumdung 
konnte  ihnen  verderblich  werden,  aber  »allen  Grund  zum  Verdachte 
und  jeden  Anhaltspunkt  für  den  Verleumder  nahm  Maria  vorhinweg, 
denn  sie  hat  das  Siegel  der  Jungfrauschaft  immerwährend  unverletzt 
bewahrt«  4).  In  seiner  Rede  »über  die  Verklärung  Jesu  Christi«  äussert 
er  denselben  Gedanken.  »Er  (Christus)  führte  sie  (die  Apostel)  auf 
den  Berg,  um  ihnen  zu  zeigen,  dass  er  Gottes  Sohn  sei,  der  vor 
aller  Zeit  vom  Vater  erzeugt  am  Ende  der  bestimmten  Zeit  aus  der 
Jungfrau  Fleisch  angenommen,  und  wie  er  selbst  wusste,  ohne 
Zeugung  und  auf  unaussprechliche  Weise  geboren  wurde,  indem  er 
die  Jungfrauschaft  (der  Mutter)  unversehrt  bewahrte.  Wo  nemlich 
Gott  will,  wird  die  Ordnung  der  Natur  überwunden.  Gott  das  Wort 
wohnte  im  Mutterschooss  der  Jungfrau,  ohne  dass  seiner  Gottheit 
Feuer  die  Glieder  des  Leibes  der  Jungfrau  verbrannte,  sondern  er 
bewahrte  sie  die  Zeit  der  neun  Monate  hindurch  unverletzt  5).« 

9  Athanas.  comm.  in  Luc.  Galland.  V,  p.  187.  Ed.  Maurin.  I,  p.  1270. 

2)  Haer.  XXX,  20. 

3)  Epiphan.  Anaceph.  1136  Pet. 

4)  De  nativ,  sermo  IX.  T.  II.  syr.  et  lat.  p.  427.  Ed.  Rom.  1732  ff. 

5)  Bei  Zingerle  Bd.  I,  S.  237. 


131 


Und  in  einer  seiner  Reden  gegen  die  Häresieen  erklärt  er  sich  näher 
dahin:  »Es  wurde  die  Natur  der  Jungfrau  nicht  entsiegelt,  als 
Christus  empfangen  wurde,  darum  wurde  sie  auch  nicht  zum  Behufe 
der  Geburt  geöffnet,  als  er  geboren  wurde.  Der  Schooss  der  Ge¬ 
bärenden  zerriss  nicht  ....  Darum  beeinträchtigte  auch  das  Kind 
nicht  das  Siegel  der  Jungfrauschaft,  noch  empfand  die  Jungfrau 
Schmerz.  Sie  wurde  zwar  aufgethan  wegen  der  körperlichen  Masse 
des  zur  Welt  kommenden  Kindes,  kehrte  aber  wieder  in  den  Zustand 
des  Versiegeltseins  zurück,  wie  die  Falten  der  Muscheln,  wenn  sie 
die  Perle  entlassen  haben ,  wieder  in  ihre  ungetrennte  Vereinigung 
und  Versiegelung  zurückgehen  :).«  Diese  Stelle  ist  auch  in  anderer 
Richtung  ungemein  lehrreich,  wenn  man  sich  den  Zusammenhang, 
in  welchem  sie  beigebracht  ist,  vergegenwärtigt.  Ephraem  polemisirt 
nemlich  in  dieser  Abhandlung  besonders  gegen  Marcion  und  andere 
doketische  Gnostiker,  lässt  sich  aber  hiedurch  nicht  wie  Tertullian 
und  Origenes  zur  Behauptung  oder  wenigstens  zum  Zugeständnis 
der  Verletzung  des  Jungfrauensiegels  hinreissen ;  er  hält  neben  wirk¬ 
licher  Empfängniss  und  wirklicher  Geburt  die  unverletzte  Jungfrau¬ 
schaft  fest  und  zeigt  eben  dadurch,  dass  der  Glaube  hieran  zu  seiner 
Zeit  schon  fester  stand,  als  im  dritten  Jahrhundert. 

Diess  beweist  auch  der  oben  (S.  23)  schon  angezogene,  dem 
h.  Basilius  zugeschriebene  Jesaiascommentar,  worin  die  Stelle  vor¬ 
kommt:  »Diese  Jungfrau  war  dem  Gesetze  der  Reinigung *  2)  keines¬ 
wegs  unterworfen  ....  Denn  da  sie  des  Emmanuel  Mutter  ohne 
Samen  geworden  ist,  ist  sie  rein,  heilig  und  unbefleckt;  ja,  nachdem 
sie  Mutter  geworden  ist,  ist  sie  noch  Jungfrau  verblieben  3).« 

Durch  diese  Beispiele,  die  sich  leicht  vermehren  liessen,  nament¬ 
lich  ,  wenn  wir  auch  auf  Schriften  von  angezweifelter  Aechtheit 
Rücksicht  nehmen  wollten  (wir  wollen  nur  an  Mehreres  erinnern, 
was  dem  h.  Athanasius  und  Gregor  von  Nyssa 4)  zugeschrieben 
wird),  lässt  sich  ein  ungefähres  Bild  machen,  wie  es  um  diesen 


b  Adv.  Haer.  T.  II,  graec.  et  lat.  p.  266,  267. 

2)  Levit.  XII,  2. 

3)  Comm.  in  Jesai  c.  VII,  n.  201. 

4)  Des  Letzteren  bek.  »orat.  in  diem  nat.  Christi«  wird  von  vielen  Kennern 
für  acht  gehalten ,  z.  B.  auch  von  Tischendorf.  S.  Prol.  zum  Protev.  Für  uns 
ist  die  Sache  von  keiner  grossen  Bedeutung.  Die  Bede  beweist,  wenn  sie  acht 
ist,  eben  hauptsächlich,  dass  das  Protev.  zu  Gregors  Zeiten  vielfach  gekannt  und 
geglaubt  war,  was  wir  ohnehin  wissen. 


132,  — 


Glauben  vor  dem  Auftreten  Jovi ni ans  stand.  Wir  machen  auch 
hier  wieder  die  alte  kirchenhistorische  Erfahrung,  dass  eine  auch 
schon  verbreitete  Vorstellung  nur  dann  mit  sich  ganz  ins  Reine 
kommt,  wenn  sie  auf  offenen  Widerspruch  stösst. 

Jovinian  nun  erhob  diesen  Widerspruch.  Er  war  Mönch 
und  hatte  als  solcher  ein  streng  ascetisches  Leben  geführt,  aber 
darin  keine  Befriedigung  gefunden.  Um  seine  innerliche  Entzweiung 
loszuwerden,  schlug  er  ums  Jahr  388  ins  Gegentheil  um,  vertauschte 
seinen  bisherigen  Stoicismus  gegen  behagliches  Wohlleben  und  suchte 
sich  durch  Publikation  seiner  Gründe  zu  rechtfertigen.  Seine  Lehren 
lassen  sich  in  folgende  Punkte  zusammenfassen:  1.  Jungfräulichkeit, 
Witwenschaft,  eheliches  Leben  seien  gleich  verdienstlich;  2.  Fasten 
sei  nicht  von  höherem  Werth  als  Essen  und  Trinken  unter  Dank¬ 
sagung  gegen  Gott;  3.  Alle  mit  vollem  Glauben  Getauften  können 
nicht  mehr  vom  Teufel  überwältigt  werden;  4.  Alle,  welche  die 
Taufgnade  bewahren,  haben  gleiche  Belohnung  im  Himmel  zu  erwarten. 
Diese  Punkte  sind  es  hauptsächlich.,  gegen  welche  Hieronymus  in 
seiner  ausführlichen  Schrift  gegen  Jovinian  in  die  Schranken  tritt. 
Von  zwei  weiteren  Neuerungen  desselben  spricht  der  heilige  Augustin 
in  seiner  um  421  verfassten  Schrift  gegen  Julian  und  in  seinem  um 
428  oder  29  geschriebenen  Buch  »über  die  Häresieen«.  Er  habe 
nemlich  gelehrt:  alle  Sünden  seien  gleich  (keine  leichter  oder  schwerer), 
und  endlich,  was  uns  alleinangeht:  die  heilige  Jungfrau  habe  durch 
ihre  Geburt  das  Prädikat  »Jungfrau«  verloren  x).  Letzteren  Vorwurf 
macht  ihm  übrigens  auch  Ambrosius  in  einem  Briefe  an  den  Pabst 
Siricius ,  und  Hieronymus  spielt  wenigstens  darauf  an ,  sowohl  in 
seiner  oben  genannten  Gegenschrift  als  auch  in  seinem  Briefe  an 
Pammachius,  durch  den  er  diese  Schrift  vertheidigt. 

Zunächst  nun  suchte  Jovinian  seine  Neuerungen  in  Rom  zu 
verbreiten,  gewann  etliche  Anhänger,  erregte  aber  noch  vielmehr  den 
Unwillen  der  Priester,  welche  im  Bunde  mit  mehreren  angesehenen 
Laien,  worunter  jener  Pammachius,  an  welchen  Hieronymus  seinen 
Brief  richtete,  offen  gegen  ihn  sich  erhoben  und  beim  Pabst  Siricius 
auf  die  Verurtheilung  seiner  Lehren  antrugen.  Siricius  that  dieses 
denn  auch  auf  der  römischen  Synode  vom  Jahr  390  und  theilte  den 
Beschluss  derselben  dem  heiligen  Ambrosius  zu  Mailand  mit.  Sofort 
versammelte  auch  Ambrosius,  der  schon  früher  gegen  Jovinian  auf- 


')  S.  Aug.  c.  Julian.  I,  2  u.  de  haer.  n.  82. 


133 


getreten  war,  eine  Provinzialsynode,  die  der  römischen  beistimmte. 
Jovinian,  der  sich  inzwischen  nach  Mailand  begeben  hatte,  wurde 
dort  sammt  seinem  Anhang  ausgetrieben. 

Auffallender  Weise  enthält  der  Brief  des  Siricius  an  Ambrosius 
nichts  von  dem  die  heilige  Jungfrau  betreffenden  Punkte.  Wahr¬ 
scheinlich  war  derselbe,  da  ihn  Jovinian  zu  Rom  wohl  nur  nebenher 
als  Motiv  gebrauchte,  um  gottgeweihte  Jungfrauen  zur  Ehe  zu  über¬ 
reden,  nicht  zur  Kenntniss  des  Pabstes  gekommen.  Um  so  aus¬ 
führlicher  geht  Ambrosius  in  seinem  Synodalschreiben  an  Siricius 
(vom  Jahre  391)  darauf  ein  und  wir  lassen  im  Folgenden  den  Kirchen¬ 
vater  selbst  reden:  ».  .  .  .  Durch  ein  Weib  kam  die  Sorge  in  die 
Welt,  durch  eine  Jungfrau  das  Heil.  Christus  selbst  hat  für  sich 
die  besondere  Gabe  der  Jungfräulichkeit  gewählt ,  und  in  sich  die 
Gnade  der  Reinigkeit  bethätigt.  Er  hat  an  sich  dargestellt,  was  er 
in  seiner  Mutter  erwählte.  Wie  gross  ist  nun  der  Wahnsinn  des 
unheilvollen  Gebells  dieser  Leute  (der  Jovinianisten) ,  da  sie  sagen, 
Christus  habe  aus  einer  Jungfrau  nicht  geboren  werden  können, 
während  sie  doch  erklären,  dass  Personen,  die  von  Weibern  auf 
ganz  natürliche  Weise  geboren  sind,  Jungfrauen  verbleiben  können 
Andern  also  gewährt  Christus,  was  er  sich,  wie  sie  sagen,  nicht 
gewähren  konnte?  Jener  aber,  obwohl  er  Fleisch  angenommen,  ob¬ 
wohl  er  Mensch  geworden,  um  den  Menschen  wieder  zu  erkaufen 
und  vom  Tode  zu  erretten,  ist  dennoch,  als  Gott,  auf  ungewohntem 
Wege  in  die  Welt  gekommen,  so  dass  er  (nach  seinem  Ausspruch: 
Siehe,  ich  mache  Alles  neu  x)  durch  das  Gebären  einer  sogar  unver¬ 
letzten  Jungfrau  geboren  wurde  und  damit  er,  wie  geschrieben  steht, 
als  »Gottmituns«  geglaubt  würde.  Aber  vom  Wege  der  Verkehrtheit 
aus* 2)  proklamiren  sie:  Als  Jungfrau  hat  sie  empfangen,  aber  nicht 
als  Jungfrau  geboren.  Es  konnte  also  eine  Jungfrau  empfangen, 
aber  nicht  als  solche  gebären,  da  doch  immer  die  Empfängniss  vorher¬ 
geht,  die  Geburt  nachfolgt?  Aber  wenn  man  den  Lehren  der  Priester 
nicht  glauben  will,  so  glaube  man  doch  den  Prophezeiungen  Christi, 
man  glaube  den  Weisungen  der  Engel,  welche  sagen :  denn  bei  Gott 
ist  nichts  unmöglich!3)  Man  glaube  dem  apostolischen  Glaubens¬ 
bekenntnisse,  welches  die  römische  Kirche  immer  unverkümmert  be- 


9  Isai.  XLIII,  19. 

2)  Nach  der  Leseart:  de  via  perversitatis;  andere  lesen:  devii  a  via  veritatis. 

3)  Luc.  I,  37. 


134 


wahrt  und  erhält.  Maria  hörte  die  Stimme  des  Engels,  und  sie,  die 
vorher  gesagt  hatte:  Wie  soll  das  geschehen?  ohne  übrigens  über 
die  Glaubwürdigkeit  der  Geburt  zu  fragen,  antwortet  nachher: 
Sieh,  ich  bin  eine  Magd  des  Herrn,  mir  geschehe  nach  deinem 
Worte.  Das  ist  die  Jungfrau,  welche  empfangen  hat,  die  Jungfrau, 
welche  geboren  hat.  Denn  so  steht  geschrieben:  Siehe  eine  Jungfrau 
wird  empfangen  und  einen  Sohn  gebären.  Nicht  bloss  empfangen 
werde  die  Jungfrau,  sondern  auch  gebären  werde  die  Jungfrau,  hat 
er  (der  Prophet  oder  Christus  durch  den  Propheten)  gesagt.  Was 
ist  aber  jenes  Thor  des  Heiligthums,  jenes  äussere  Thor  gegen  Osten, 
das  verschlossen  bleibt  und  durch  das  Niemand  geht,  als  der  Gott 
Israels  allein  ?  *)  Ist  nicht  dieses  Thor  Maria,  durch  welches  der  Er¬ 
löser  in  diese  Welt  trat?  Das  Thor  der  Gerechtigkeit,  wie  er  selbst 
gesagt  hat:  Lass  uns  erfüllen  alle  Gerechtigkeit*  2 3).  Dieses  Thor  ist 
die  selige  Maria,  von  der  geschrieben  steht:  der  Herr  wird  durch 
sie  gehen  und  sie  wird  verschlossen  sein  nach  der  Geburt;  denn  als 
Jungfrau  hat  sie  empfangen  und  geboren.  Was  ist  aber  unglaublich 
daran,  wenn  gegen  die  Gewohnheit  natürlichen  Entstehens  Maria  geboren 
hat  und  Jungfrau  bleibt,  da  doch  gegen  die  Gewohnheit  der  Natur  ,das 
Meer  es  sah  und  floh  und  die  Jordanfluthen  zu  ihrer  Quelle  zurückliefen4  3). 
Es  übersteigt  daher  nicht  den  Glauben,  dass  eine  Jungfrau  geboren 
hat,  wenn  wir  lesen,  dass  ein  Fels  Wasser  spie4)  und  dass  die  Meeres¬ 
welle  wie  eine  Mauer  feststand  5).  Es  übersteigt  nicht  den  Glauben, 
dass  ein  Mensch  aus  einer  Jungfrau  hervorging,  wenn  ein  Fels  von 
hervorsprudelndem  Wasser  überfloss  6),  wenn  Eisen  über  den  Wassern 
schwamm7),  wenn  ein  Mensch  über  den  Wassern  ging 8).  Also 
wenn  einen  Menschen  die  Welle  trug,  konnte  einen  Menschen  nicht 
die  Jungfrau  gebären?  Und  welchen  Menschen?  Den,  von  welchem 
wir  lesen :  Und  es  wird  ihnen  der  Herr  einen  Menschen  schicken, 
welcher  sie  retten  wird,  und  bekannt  wird  der  Herr  sein  den  Aegyptern  9). 


b  Ezech.  XLIV,  2. 

2)  Matth.  III,  15. 

3)  Psalm.  CXIII,  3. 

4)  Exod.  XVII,  6. 

5)  Ibid.  XIV,  22. 

6)  Num.  XX,  11. 

7)  IV.  Reg.  VI,  6. 

8)  Matth.  XIV,  26. 

9)  Isai.  XIX,  20. 


135 


Im  alten  Testamente  also  hat  eine  Jungfrau  das  Heer  der  Hebräer 
durchs  Meer  geführt,  im  neuen  Testamente  ist  eine  Jungfrau  als 
Palast  des  himmlischen  Königs  erwählt  worden  1).«  In  seiner,  nur 
etwa  um  ein  Jahr  jüngeren  Schrift  »Ueber  die  Unterweisung  einer 
Jungfrau«,  worin  er,  wie  wir  gesehen  haben,  gegen  Bonosus  auf¬ 
getreten  ist,  setzt  Ambrosius,  wenn  auch  nicht  mit  ausgesprochenem 
Bezug  auf  Jovinian,  doch  unverkennbar  durch  die  so  kurz  vorher 
aufgetretene  Neuerung  noch  stark  angeregt,  sein  typologisches  Be¬ 
weisverfahren  für  die  im  strengsten  Sinne  unverletzte  Jungfräulichkeit 
Marias  fort.  Und  zwar  ist  es  zunächst  wieder  die  verschlossene 
Pforte  Ezechiels,  die  er  fast  wörtlich  so  erklärt,  wie  oben.  »Wer 
ist  diese  Pforte,  wenn  nicht  Maria;  darum  verschlossen,  weil  Jung¬ 
frau?  Die  Pforte  also  ist  Maria  (fährt  er  mit  unumwundener  Nennung 
des  tertium  comparationis  fort),  durch  welche  Christus  in  diese  Welt 
trat,  nachdem  er  aus  jungfräulicher  Geburt  hervorgegangen  ist  und 
den  Riegel  der  Jungfrauschaft  an  den  Geburtstheilen  nicht  gelöst 
hat.  Unangetastet  blieb  das  Gehege  der  Keuschheit,  unverletzt  blieb 
das  Siegel  der  Reinigkeit,  als  der  aus  der  Jungfrau  hervorging,  dessen 
Höhe  die  Welt  nicht  fassen  konnte2).« 

Ambrosius  deutet  diese  Stelle  des  Ezechiel  noch  weiter  aus  und 
wiederholt  sich  mehrmals  fast  wörtlich,  worin  wir  ihm  zu  folgen  nicht 
nothwendig  finden.  Er  bringt  dann  der  Reihe  nach  noch  mehrere 
Stellen  des  alten  Testamentes  als  Vorbilder  für  die  immerwährende 
Jungfräulichkeit,  die  wir  aber,  weil  sie  für  die  Sache  nichts  Neues 
aufführen,  hier  weglassen.  Wir  haben  ohnehin  später  noch  darauf 
zurückzukommen. 

In  seinem  Briefe  an  die  Kirche  von  Vercelli  endlich  (a.  396), 
worin  er  besonders  zwei  abtrünnige  Mönche,  Anhänger  Jovinians, 
tüchtig  mitnimmt,  wiederholt  Ambrosius  mit  derselben  Deutlichkeit 
und  Entschiedenheit,  ja  wieder  mit  denselben  Ausdrücken  seine  An¬ 
sicht,  so  dass  wir  kaum  nöthig  finden,  darauf  hinzuweisen,  dass 
durch  Herbeiziehung  einer  mehrfach  besprochenen  Stelle  in  seiner 
Erklärung  des  Lukasevangeliums  seine  Auffassung  dieser  Frage  nicht 
alterirt  wird.  Bei  Erklärung  der  Worte  nemlich:  »Alles  Männliche, 
das  den  Mutterschooss  öffnet  etc.«  sagt  er  mit  Hinweisung  auf 
Christus:  »dieser  ist  es,  welcher  den  Schooss  seiner  Mutter  öffnete, 


3  Ambr.  epist.  42. 

2)  De  inst.  virg.  52. 


136 


um  fleckenlos  daraus  hervorzugehen  1).«  Hiemit  weist  Ambrosius, 
wie  viele  seiner  Vorgänger,  nur  diejenigen  ab,  welche  Mariens  vater¬ 
lose  Mutterschaft  bezweifelten,  und  darum  interpretirt  ihn  Thomas 
von  Aquino  mit  den  Worten:  »jene  Oeffnung  bezeichnet  nicht  die 
gemeinigliche  Aufschliessung  des  Riegels  der  Jungfrauschaft,  sondern 
allein  den  Ausgang  des  Kindes  aus  dem  Leibe  der  Mutter  2).«  In 
demselben  Sinne  ist  auch  Epipbanius  zu  verstehen,  wenn  er  mit 
Beziehung  auf  dieselbe  Bibelstelle  sagt:  »Dieser  ist  es,  der  wahrhaft 
den  Schooss  seiner  Mutter  eröffnet  hat 3).«  Diese  Worte  stehen  nem- 
lich  im  Zusammenhang  der  Darstellung  des  richtigen  Verhältnisses 
zwischen  Joseph  und  Maria  und  lassen  darum  nur  eine  Deutung 
zu,  die  wir  nach  dem  Früheren  nicht  näher  zu  erklären  brauchen. 

Ausser  Siricius  und  Ambrosius  ist  es  hauptsächlich,  wie  schon 
oben  bemerkt,  Hieronymus,  der  gegen  Jovinian  zu  Felde  zog. 
Jovinians  Schrift  wurde  ihm  von  Rom  nach  Betlehem,  wo  er  sich 
seit  mehreren  Jahren  aufhielt,  zugeschickt  und  auf  Bitten  seiner 
Freunde  schrieb  er  daselbst  seine  Entgegnung  in  zwei  Büchern  im 
Jahre  392  oder  93.  Auffallender  Weise  findet  sich  darin  keine  eigent¬ 
liche,  eingehende  Beleuchtung  des  die  heilige  Jungfrau  betreffenden 
Punktes,  was  nur  daher  kommen  kann,  dass  dieser  Punkt  in  Jovinians 
Schrift  gar  nicht  vorhanden  war.  Diess  bestätigt  unsere  früher  aus¬ 
gesprochene  Vermuthung,  dass  Jovinian  nur  nebenher  bei  seinen 
praktischen  Versuchen,  jungfräulich  Lebende  zur  Ehe  zu  überreden, 
auch  die  Behauptung  als  Ueberredungsmittel  gebraucht  habe:  selbst 
die  heilige  Jungfrau  habe  ja  einmal  aufgehört,  Jungfrau  zu  sein. 
Doch  bezieht  er  den  »verschlossenen  Garten,  die  versiegelte  Quelle« 
des  Hohenliedes  4)  auf  Maria,  wie  man  aus  Folgendem  sieht.  »Was 
verschlossen  und  versiegelt  ist,  gibt  ein  Bild  der  Mutter  des  Herrn, 
der  Mutter  und  Jungfrau.  Daher  ist  auch  in  dem  neuen  Grabe  des 
Heilandes,  welches  im  härtesten  (nach  anderer  Leseart:  reinsten, 
purissima  statt  durissima)  Felsen  ausgehauen  war,  weder  vorher 
noch  nachher  Jemand  beigesetzt  worden.  Und  doch  ist  diese  immer¬ 
währende  Jungfrau  Mutter  vieler  Jungfrauen  5).«  Etwas  näher  geht 


9  Expos,  ev.  Luc.  II,  56,  57. 

2)  S.  Thomas  3.  part.  quaest.  28,  art.  2. 

3)  Epiph.  haer.  78,  19. 

4)  Cant.  cant.  IV,  12. 

5)  Adv.  Jov.  I,  31. 


137 


er  auf  die  Sache  ein  in  dem  Briefe,  den  er  zur  Vertheidigung  oben¬ 
genannter  Schrift  an  Pammachius  schrieb  (a.  393  oder  94).  »Christus 
ist  Jungfrau,  die  Mutter  unserer  Jungfrau  (virginis  nostri  d.  h.  Christi) 
ist  immerwährende  Jungfrau,  Mutter  und  Jungfrau.  Denn  Jesus  ist 
bei  verschlossenen  Thüren  eingetreten  und  in  seinem  Grabe,  welches 
neu  und  im  härtesten  Felsen  ausgehauen  war,  ist  weder  vor-  noch 
nachher  Jemand  beigesetzt  worden.  Sie  ist  der  verschlossene  Garten, 
die  versiegelte  Quelle,  aus  welcher  Quelle  nach  Joel  Q  jener  Fluss 
strömt,  welcher  (bewässert)  erfüllt  den  Strom  der  Stricke  oder  (nach 
anderer  Uebersetzung)  der  Dornen  —  Stricke  der  Sünden,  mit  welchen 
wir  früher  gebunden  waren;  Dornen,  welche  die  Aussaat  des  Haus¬ 
vaters  erstickten.  Sie  ist  die  östliche  Pforte,  wie  Ezechiel  sagt,  die 
immer  verschlossene,  die  glänzende,  die  in  sich  verschliesst  oder  aus 
sich  hervorführt  das  Allerheiligste,  durch  welche  die  Sonne  der  Ge¬ 
rechtigkeit  und  unser  Hohepriester  nach  der  Ordnung  Melchisedek 
ein-  und  ausgeht.  Man  antworte  mir,  wie  Christus  durch  ver¬ 
schlossene  Thüren  gegangen  ist,  als  er  seine  Hände  zum  Berühren, 
seine  Seite  zum  Betrachten,  als  er  Fleisch  und  Bein  zeigte,  damit 
nicht  die  Wirklichkeit  seines  Körpers  für  ein  Gespenst  gehalten  werde; 
und  ich  werde  antworten,  wie  die  heilige  Maria  sowohl  Jungfrau 
als  Mutter  sei,  —  Jungfrau  nach  der  Geburt,  Mutter  vor  der 
Heirath *  2).« 

Man  sieht,  Hieronymus  hält  sich  dem  Ambrosius  und  Zeno 
gegenüber  in  einer  gewissen  Allgemeinheit.  Man  könnte  die  obigen 
Ausführungen,  besonders  auch  die  Parallele  des  Grabes  Christi,  bloss 
so  verstehen,  dass  er  nur  damit  sagen  wollte,  Maria  habe  ausser 
Christus  keine  anderen  Kinder  gehabt.  Die  einzige  Parallele  des 
Gehens  Christi  durch  verschlossene  Thüren,  sowie  der  Ausdruck 
»Jungfrau  nach  der  Geburt«  lassen  sich  als  ausdrücklichen  Beweis 
verstehen,  dass  Hieronymus  seinen  Begriff  von  der  Jungfräulichkeit 
Mariens  ebensoweit  ausdehnte,  wie  Ambrosius.  Nirgends  aber  ist 
von  dem  »Schloss«,  von  dem  »Siegel«  der  Jungfrauschaft  die  Rede, 
was  nur,  wie  gesagt,  daher  kommen  kann,  dass  die  ihm  zu  Gesicht 
gekommene  Schrift  Jovinians  auch  nichts  Ausdrückliches  davon  ent¬ 
hielt.  Dagegen  findet  sich  in  seinem  a.  415  geschriebenen  Dialog 
gegen  die  Pelagianer  eine  Stelle,  die  die  Sache  vollkommen  klar 


fi  Joel  III,  18. 

2)  Hier,  ep.  48  (Ed,  Vallarsi)  oder  30  (Ed,  Maur.) 


138 


legt.  Er  sagt  dort:  »Christus  allein  hat  die  verschlossenen  Pforten 
des  jungfräulichen  Mutterleibs  eröffnet,  und  diese  blieben  dennoch 
beständig  verschlossen.  Das  ist  die  östliche  Pforte,  die  verschlossene, 
durch  welche  allein  der  Oberpriester  ein-  und  ausgeht,  und  welche 
nichtsdestoweniger  immer  verschlossen  ist  1).«  Diese  »verschlossene 
Pforte«  wird  auch  in  seinem  Commentar  zu  Ezechiel  in  demselben 
Sinne  ausgedeutet,  auch  dort  sagt  er,  »Maria  die  Jungfrau  sei  vor 
der  Geburt  und  nach  der  Geburt  Jungfrau  verblieben«  2).  Sehr 
interessant  ist,  dass  er  bei  alledem  die  Geschichte  von  der  Hebamme 
mit  Indignation  abweist.  »Keine  Hebamme  war  dabei,  keine  Ge¬ 
schäftigkeit  von  Weiberchen  kam  dazu.  Sie  selbst  wickelte  das 
Kind  in  Windeln,  sie  selbst  war  Mutter  und  Hebamme.  ,Und  sie 
legte  das  Kind  in  die  Krippe,  weil  kein  Platz  dafür  in  der  Herberge 
war.‘  Dieser  Satz  widerlegt  das  alberne  Geschwätz  der  Apokryphen, 
indem  Maria  selbst  das  Kind  einwickelt 3).«  Doch  versteht  sich  diese 
Verwerfung  der  Apokryphen  für  den  grossen  Bibelkritiker  von  selbst. 

Ein  vierter  Bekämpfer  Jovinians  ist  der  h.  Augustin.  Wie  oben 
angedeutet,  sagt  er  in  seinem  Buch  über  die  Häresieen  4)  von  ihm: 
»Die  Jungfräulichkeit  Mariens  vernichtete  er,  indem  er  behauptete, 
dass  dieselbe  durch  das  Gebären  verletzt  worden  sei«  und  in  seinem 
Buch  gegen  den  Pelagianer  Julian5):  »Jovinian  leugnet,  dass  die 
Jungfräulichkeit  Mariens,  welche  bestand,  als  sie  empfing,  verblieben 
sei,  als  sie  gebar.«  Weiter  aber  lässt  er  sich  mit  dem  Ketzer  (in 
dieser  Frage)  nicht  ein.  Für  ihn  ist  die  unverletzte  Jungfrauschaft 
eigentlich  eine  bereits  ausgemachte  und  der  Erörterung  nicht  ferner 
unterworfene  Sache.  Darum  sagt  er  schon  in  seinem  Buch  gegen 
Faustus  6)  (um  400):  »Ganz  mit  Recht  also  wurde  dieselbe  (Maria) 
so  geehrt,  dass  sie  uns  Christus,  den  wir  durch  Glauben  in  reinem 
Herzen  empfangen,  den  wir  durch  Bekennen  gewissermassen  gebären 
sollen ,  auch  mit  Aufrechthaltung  ihrer  körperlichen  Unverletztheit 
zur  Welt  brachte.  Denn  in  keiner  Weise  konnte  Christus  seine 
Mutter  durch  die  Geburt  herabsetzen  wollen,  so  dass  er  ihr,  der  er 
die  Gnade  der  Fruchtbarkeit  verliehen  hatte,  die  Zierde  der  Jung- 


0  Dial.  adv.  Pelag.  II,  4. 

2)  Comm.  in  Ezech.  XIII,  44.  Tom.  III,  p.  1023. 

3)  Contra  Helv.  8  (eigentl.  10). 

4)  c.  82. 

•"’)  lib.  I,  cap.  2. 

6)  1.  XXIX,  c.  4- 


139 


fräulichkeit  nahm.«  Hauptsächlich  in  seinen  Reden  kommt  er  häufig 
auf  den  Gegenstand  zurück  und  zwar  manchmal  in  panegyrischem 
Tone.  Da  finden  sich  denn  Wendungen  wie  folgende:  »Er  (Christus) 
gab  der  Jungfrau  die  Fruchtbarkeit,  er  nahm  ihr  nicht  die  Unversehrt¬ 
heit  *).«  »Empfangend  ist  sie  Jungfrau,  gebärend  ist  sie  Jungfrau; 
Jungfrau  schwanger,  Jungfrau  Mutter,  Jungfrau  beständig *  2).«  »Feiern 
wir  also  mit  Freuden  den  Tag,  an  welchem  Maria  den  Heiland  ge¬ 
boren  hat,  die  Verehelichte  den  Schöpfer  der  Ehe,  die  Jungfrau  den 
Fürsten  der  Jungfrauen;  dem  Manne  übergeben,  nicht  Mutter  von 
dem  Manne,  Jungfrau  vor  der  Ehe,  Jungfrau  in  der  Ehe,  Jungfrau 
schwanger,  Jungfrau  säugend.  Denn  der  heiligen  Mutter  entriss  der 
allmächtige  Sohn,  der  sie  zur  Mutter  wählte,  in  keiner  Weise  die 
Jungfrauschaft  durch  seine  Geburt.  Gut  ist  die  Fruchtbarkeit  in  der 
Ehe,  besser  die  Unversehrtheit  in  der  Ehelosigkeit.  Als  Mensch  also 
würde  Christus,  welcher  als  Gott  beides  gewähren  konnte  (denn 
ebenderselbe  ist  Mensch  und  Gott),  seiner  Mutter  niemals  das  Gut, 
welches  die  Eheleute  lieben,  so  gewähren,  dass  er  ihr  das  grössere 
Gut,  dessentwegen  die  Jungfrauen  Mütter  zu  werden  verachten,  ent- 
reissen  würde  3).«  »Was  ist  wunderbarer,  als  die  Geburt  der  Jung¬ 
frau?  Sie  empfängt  und  ist  Jungfrau,  sie  gebiert  und  ist  Jungfrau. 
Er  ist  hervorgebracht  von  der,  die  er  hervorgebracht  hat;  er  hat 
ihr  Fruchtbarkeit  verliehen  und  ihre  Unverletztheit  nicht  aufgehoben  4).« 
»Wer  begreift  die  neue,  ungewohnte,  einzige  Neuheit  in  der  Welt, 
die  unglaublich  ist  und  glaublich  geworden  ist,  die  von  der  ganzen 
Welt  unglaublicher  Weise  geglaubt  wird:  dass  nemlich  eine  Jungfrau 
empfange,  eine  Jungfrau  gebäre,  eine  Gebärende  Jungfrau  bleibe?«  5) 
»So  ist  erfüllt  worden,  was  der  Psalm  6)  vorhergesagt  hatte,  ,die 
Wahrheit  sprosset  von  der  Erde‘.  Maria  ist  Jungfrau  vor  der  Em¬ 
pfängnis,  Jungfrau  nach  der  Geburt.  Ferne  sei  es,  dass  in  der¬ 
jenigen  Erde,  d.  h.  in  demjenigen  Fleische,  woher  die  Wahrheit 
sprosset,  die  Unversehrtheit  zu  Grunde  gehe.  Denn  nach  seiner 
Auferstehung,  als  man  ihn  für  einen  Geist,  nicht  für  einen  Körper 
hielt,  sagte  er:  , Tastet  und  sehet,  denn  ein  Geist  hat  nicht  Fleisch 


J)  Sermo  69.  Edit.  Maur.  T.  V,  p.  382. 

2)  Sermo  186,  Ibid.  p.  884. 

3)  S,  188  in  nat.  Dom.  Ibid.  p.  889. 

4)  S.  189,  2. 

5)  S.  190,  2. 

9  84,  12- 


140 


und  Bein,  wie  ihr  sehet,  dass  ich  habe  x).‘  Und  doch  ist  die  feste 
Masse  seines  Körpers  durch  verschlossene  Thüren  zu  den  Jüngern 
eingegangen.  Warum  also  konnte  der,  welcher  als  Mann  durch  ver¬ 
schlossene  Thüren  eindringen  konnte,  nicht  als  Kind  durch  unverletzte 
Gliedmassen  ausgehen?  Aber  weder  das  Eine,  noch  das  Andere 
glauben  die  Ungläubigen.  Dess wegen  glaubt  der  Glaube  beides  um 
so  lieber,  weil  der  Unglaube  beides  nicht  glaubt*  2).«  —  »Der  Engel 
verkündigt,  die  Jungfrau  hört,  glaubt  und  empfängt.  Der  Glaube 
im  Herzen,  Christus  im  Mutterleibe!  Eine  Jungfrau  hat  empfangen, 
wunderbar!  Eine  Jungfrau  hat  geboren,  noch  wunderbarer!  Nach 
der  Geburt  ist  sie  Jungfrau  verblieben!  Wer  also  wird  diese  Geburt 
erklären?«3)  —  »Ja,  wer  wird  diese  Geburt  erklären?  Denn  wer 
kann  würdiglich  annehmen,  dass  Gott  wegen  der  Menschen  habe 
wollen  geboren  werden,  dass  eine  Jungfrau  ohne  männlichen  Samen 
empfangen  habe,  dass  sie  ohne  Verletzung  geboren  habe  und  nach 
der  Geburt  in  der  Unverletztheit  verblieben  sei?  Denn  unser  Herr 
Jesus  Christus  hat  geruht,  den  Mutterleib  der  Jungfrau  zu  betreten, 
er  hat  die  Organe  des  Weibes  unbefleckt  erfüllt,  die  Mutter  ohne 
Verletzung  befruchtet,  ist  von  sich  selbst  gebildet  hervorgegangen 
und  hat  den  Leib  der  Gebärerin  unversehrt  erhalten  (reservavit,  nach 
anderer  Leseart:  erschlossen,  reseravit),  auf  dass  er  diejenige,  von 
welcher  er  geboren  zu  werden  geruhte,  sowohl  mit  der  Ehre  der 
Mutter  überschütte,  als  auch  mit  der  Heiligkeit  der  Jungfrau  4).« 

Solcherlei  Wendungen  finden  sich  noch  häufig  in  den  Reden 
des  h.  Augustin,  namentlich  auch  in  denjenigen,  die  ihm  nicht  mit 
Sicherheit  zugesprochen  werden  können.  Jedoch  seine  Anschauung 
der  Sache  ist  aus  dem  Obigen  klar  genug.  Wir  begnügen  uns  daher, 
nur  noch  die  Stelle  aus  seinem  a.  421  geschriebenen  Enchiridion  5) 
auszuheben,  die  besonders  schlagend  beweist,  dass  für  ihn  der  Be¬ 
griff  der  beständigen  Jungfrauschaft  in  anatomisch-physiologischem 
Sinne  einfache  Consequenz  des  alten  Titels  »Jungfrau«  war.  »Wenn 
durch  seine  Geburt,  sagt  er,  ihre  Unversehrtheit  aufgehoben  würde, 
so  würde  er  ja  nicht  von  einer  Jungfrau  geboren  werden,  und  die 


b  Lac.  XXIV,  39. 

2)  Sermo  191,  2;  in  nat.  Dom.  T.  V,  p.  894. 

3)  Jesai.  53,  8,  S.  196.  In  nat.  Dom.  Ibid.  p.  902. 

4)  S.  215,  2.  Ibid.  p.  950. 

5)  Cap.  34- 


141 


ganze  Kirche,  welche  seine  Mutter  nachahmend  täglich  seine  Glieder 
gebiert  und  Jungfrau  bleibt,  würde  —  ferne  sei  es!  —  fälschlich 
bekennen,  dass  er  von  der  Jungfrau  Maria  geboren  sei.«  Darum 
hat  er  auch  schon  a.  400,  ähnlich  wie  der  h.  Zeno,  für  seinen 
Glauben  eine  kurze  Formel  aufgesetzt:  »Jungfrau  bei  ihrer  Empfäng¬ 
nis,  Jungfrau  bei  ihrer  Geburt,  Jungfrau  bei  ihrem  Tode  *).« 

Nicht  mit  unmittelbarer  Beziehung  auf  Jovinian,  aber  mit  der¬ 
selben  Entschiedenheit  zeigen  sich  auch  andere  Zeitgenossen  als  Ver¬ 
treter  der  Vorstellung  seiner  Bekämpfer. 

Ruf  in  z.  B.  äussert  sich  in  seinem  Commentar  zum  apostolischen 
Glaubensbekenntnis  so:  »Bei  der  Geburt  der  Jungfrau  kann  keine 
Verletzung  angenommen  werden  ....  Die  wunderbare  Art  der  Geburt 
derselben  hatte  der  Prophet  Ezechiel  vorgebildet ,  indem  er  Maria 
figürlich  »das  Thor  des  Herrn«  nannte,  durch  welches  nemlich  der 
Herr  in  die  Welt  eingetreten  ist.«  Folgt  die  Stelle  Ezech.  XLIV,  2. 
»Was  konnte  so  einleuchtend  über  die  Bewahrung  der  Jungfrau  ge¬ 
sagt  werden?  Verschlossen  war  jenes  Thor  der  Jungfrauschaft;  durch 
dasselbe  ging  ein  der  Flerr  Gott  Israels,  durch  dasselbe  trat  er  hervor 
in  diese  Welt  aus  dem  Mutterleib  der  Jungfrau,  und  in  Ewigkeit  ver¬ 
blieb  das  Thor  der  Jungfrau  geschlossen,  da  die  Jungfrauschaft  auf¬ 
recht  erhalten  war *  2).« 

Gaudentius  von  Brescia  sagt  in  einer  seiner  Reden:  »Wenn  wir 
die  Empfängniss  der  Jungfrau  glauben,  müssen  wir  auch  an  ihre  Ge¬ 
burt  glauben;  beides  scheint  dem  Menschen  unmöglich,  ist  aber  für  die 
göttliche  Allmacht  ein  Kleines.«  Es  werden  hierauf  einige  Akte  der 
göttlichen  Allmacht  aus  dem  alten  Testamente  als  Analoga  aufgeführt: 
die  Schöpfung  aus  nichts,  die  Erschaffung  Adams,  die  Erschaffung 
der  Eva  und  dann  wird  fortgefahren :  »Wenn  man  an  die  Empfäng¬ 
niss  ohne  Verletzung  der  Mutter  glaubt,  warum  sollte  man  nicht 
auch  die  Geburt  ohne  Verletzung  annehmen?  Die  unverletzte  Jung¬ 
frau  hat  geboren,  was  die  unberührte  Jungfrau  empfangen  hat.  Die 
Unversehrtheit  konnte  der  nicht  durch  seine  Geburt  beeinträchtigen, 
der  gekommen  war,  um  die  Natur  zu  erneuen.«  Einen  Beweis  für 
die  Möglichkeit  liefere  das  Gehen  Christi  durch  verschlossene  Thüren 
nach  seiner  Auferstehung.  »Durch  ebendieselbe  Kraft  der  Gottheit 
also  betrat  er  durch  ein  unverletzliches  (inviolabilem)  Weib  die  Her- 


*)  De  cat.  rud.  c.  22. 

2)  Gomm.  in  symb.  apostol.  ad  »Qui  natus  est  etc.« 


142 


berge  dieser  Welt,  indem  er  das  Schloss  jungfräulicher  Keuschheit 
auch  im  Geburtsakt  erhielt,  durch  welche  (Kraft)  er  nach  seiner 
Auferstehung  bei  verschlossenen  Thüren  ein  Haus  körperlich  betreten 
konnte  1).«  In  einer  andern  Rede  sagt  er:  »Die  Allmacht  des  Gottes¬ 
und  Menschensohnes  bezeugt  auch  die  Jungfrau-Mutter,  welche  vom 
heiligen  Geiste  empfangend  den  Gott-Menschen,  den  sie  im  keuschen 
Leibe  getragen,  so  gebar,  dass  bei  der  unverletzten  erhabenen  Mutter 
nach  der  göttlichen  Geburt  die  glorreichere  Unversehrtheit  verblieb  2).« 
In  einer  dritten  Rede  bringt  er  dieselbe  Sache  vor  und  hat  dafür 
den  Ausdruck:  »der  ewige  Gipfel  der  Keuschheit3).« 

Wir  könnten  nun  noch  manche  jüngere  Zeitgenossen  citiren, 
besonders  Orientalen,  und  namentlich  solche,  welche  bei  dem  nestoria- 
nischen  Streite  eine  Rolle  spielten,  z.  R.  Nilus,  Proklus,  Cyrill  von 
Alexandrien,  Theodot  von  Ancyra  u.  s.  w. ;  jedoch  bei  allen  diesen 
ist  der  Zug  anatomisch-physiologischer  Jungfrauschaft  schon  ein  voll¬ 
kommen  geläufiger  Begriff  und  wird  im  Ganzen  in  derselben  Weise 
dargelegt  und  mit  denselben  Mitteln  begründet,  wie  bei  den  obigen 
Zeugen.  Nur  Eines  darf  nicht  übersehen  werden,  dass  nemlich  jetzt 
dieser  Begriff,  offenbar  aus  Anlass  der  neuesten  Häresie,  besonders 
auch  als  Beweis  für  die  volle  Gottheit  des  Sohnes  ins  Feld  geführt 
wird  (worauf  übrigens  auch  Gaudentius  so  eben,  ja  schon  Ambrosius 
(S.  133)  hinzielte)  4).  So  sagt  Proklus  in  seiner  oben  (S.  81)  er¬ 
wähnten  Predigt:  »Wenn  die  Mutter  nicht  Jungfrau  blieb,  so  war 
der  Geborene  ein  blosser  Mensch  und  die  Geburt  nicht  wunderbar; 
wenn  sie  aber  auch  nach  der  Geburt  Jungfrau  blieb,  wie  ist  der 
Geborene  nicht  auch  Gott  und  das  Geheimniss  unaussprechlich?« 
Aehnlich  äussert  sich  Theodot  in  einer  Homilie,  die  auf  dem 
Ephesiner  Concil  vorgelesen  wurde:  »Wenn  (Christus)  nach  unserer 
Weise  geboren  wurde,  so  war  er  ein  Mensch,  wenn  er  aber  seine 
Mutter  als  Jungfrau  bewahrte,  so  wird  der  Geborene  von  den  Ein¬ 
sichtsvollen  als  Gott  erkannt  5).« 

Hiemit  sind  wir  offenbar  an  der  Vollendung  des  Zugs  angelangt, 
wrenn  derselbe  auch  erst  durch  einen  viel  späteren  Synodalbeschluss 
seine  officielle  Weihe  erhielt;  denn  wenn  von  den  Früheren  die 

x)  Sermo  9. 

2)  Sermo  13. 

3)  Sermo  8. 

4)  Vgl.  auch  Gregor  von  Nyssa,  oben  (S.  74)  und  Zeno  (S.  127). 

5)  Galland.  Tom.  IX,  pag.  450. 


143 


immerwährende  Jungfräulichkeit  aus  der  Gottheit  Christi  abgeleitet 
wurde,  so  wird  jetzt  umgekehrt  aus  der  immerwährenden  Jung¬ 
fräulichkeit  als  Thatsache  die  Gottheit  Christi  bewiesen. 

Es  ist  nun  nur  noch  übrig,  die  vorgekommenen  Begründungen 
in  beiläufiger  chronologischer  Ordnung  zu  rekapituliren. 

1.  Körperliche  Untersuchung  fand  unverletzte  Jungfrauschaft 
vor.  (Diess  wird  später  fallen  gelassen.) 

2.  Prophetische  Schriftstellen  weisen  auf  das  Wunder  hin. 

3.  Auch  alttestamentliche  Analogieen. 

4.  Nicht  minder  das  naturgeschichtliche  Beispiel  der  Perlmuschel. 

5.  Der  göttliche  Sohn  beraubte  die  Mutter  nicht  des  hoch- 
geschätzten  Gutes. 

6.  Jungfräuliche  Geburt  ist  Consequenz  jungfräulicher  Empfäng¬ 
nis. 

7.  Der  jungfräuliche  Sohn  kann  nur  eine  (immer)  jung¬ 
fräuliche  Mutter  haben. 

8.  Die  berühmte  Prophetie  des  Jesaias  enthält  ja  schon  die 
jungfräuliche  Geburt. 

9.  Eine  grosse  Anzahl  alttestamentlicher  Typen  bildet  sie  vor. 

10.  Einige  neutestamentliche  Stellen  setzen  sie  voraus. 

11.  Eine  überzeugende  Parallele  ist  das  Gehen  Christi  durch 
verschlossene  Thüren. 

12.  Unverletzte  Jungfrauschaft  der  Mutter  ist  ein  Hauptbeweis 
für  die  Göttlichkeit  des  Sohnes. 


Das  geistige  Wesen  Mariens. 

Für  die  Zeichnung  des  geistigen  Wesens  Mariens  geben  die 
beiden  ersten  Evangelien  so  gut  wie  nichts,  Lukas  aber  und  Johannes 
einige  schöne  Grundlinien.  Maria  erscheint  in  der  Scene  mit  dem 
Engel  als  zartfühlendes ,  sinniges ,  sittsames  Mädchen ,  als  gläubiges 
Gemüth,  demüthig  und  gehorsam  gegenüber  dem  erkannten  göttlichen 
Willen.  Bei  Elisabeth  zeigt  sie  sich  in  ihrem  Glauben  gestärkt  und 
in  begeisterter  Andacht  und  Dankbarkeit.  Trotzdem  »wundert«  sie 
sich  mehrmals  bei  den  ausserordentlichen  Begebenheiten,  deren  Zeugin 
oder  Theilnehmerin  sie  ist,  und  »versteht«  die  Antwort  ihres  zwölf¬ 
jährigen  Sohnes  »nicht«.  Doch  »behält«  sie  all  das,  was  ihr  nicht 
klar  ist,  »überlegend  im  Herzen«.  Ihr  Geistesleben  wird  also  als 
sich  entwickelnd,  sie  wird  als  Lernende,  sich  Vervollkommnende  dar¬ 
gestellt.  Die  Reise  mit  dem  zwölfjährigen  Sohn  nach  Jerusalem 
wirft  auch  ein  Streiflicht  auf  ihre  mütterlich  erziehende  Thätigkeit. 
Das  »ihre  Seele  durchdringende  Schwert«  Simeons,  ihre  Unter¬ 
brechung  des  Lehrvortrags  des  Herrn  zu  Kapernaum  bei  den  ersten 
drei  Evangelisten,  ihre  Bemerkung  auf  der  Hochzeit  zu  Kana  bei 
Johannes  lassen  verschiedene  Auslegungen  zu  und  können  daher  für 
einen  sichern  evangelischen  Zug  nicht  verwerthet  werden.  Es  ist 
abzuwarten,  was  die  Kirchenväter  hierüber  sagen.  Johannes  ist  der 
einzige,  der  sie  wenigstens  zeitweise  im  Gefolge  ihres  Sohnes,  nachdem 
er  sein  Amt  angetreten,  aufführt  und  denselben  auch  zum  Tode 
geleiten  lässt.  Die  Apostelgeschichte  endlich  zeigt  sie  als  Glied  der 
Christengemeinde  nach  der  Himmelfahrt  des  Erlösers.  Zu  diesen 
rein  menschlichen  Zügen  lässt  sich  noch  ein  übermenschlicher  ge¬ 
sellen.  Aus  dem  Titel  »Gnadenvolle« ,  aus  der  Versicherung  des 
Engels,  dass  der  Herr  mit  ihr  sei  und  dass  sie  Gnade  gefunden  bei 
Gott,  lässt  sich  nemlich  zunächst  folgern,  dass  sie  diess  durch  ihr 


145 


bisheriges  Geistesleben  verdient  habe,  dann  aber  auch  zweitens,  dass 
von  jetzt  an  ihr  Geistesleben  als  ein  durch  die  Gnade  von  Oben 
noch  erhöhtes  zu  betrachten  sei. 

Diese  wenigen  Striche  gruben  sich  nun  ohne  Zweifel  im  All¬ 
gemeinen  ebenso  in  das  Gemüth  der  Gläubigen  ein ,  wie  die  bisher 
abgehandelten  mehr  äussern  Züge.  Doch  liefern  uns  die  ältesten 
Kirchenväter  nur  spärliche  Belege  dafür,  dass  das  geistige  Wesen 
Mariens  sie  besonders  beschäftigt  habe.  Diess  kommt  wohl  haupt¬ 
sächlich  daher,  weil  sie  hier  keine  eigenen  weitern  häretischen  An¬ 
griffe  zu  bekämpfen  hatten,  ausser  denjenigen,  welche  sich  mit  der 
Leugnung  ihrer  körperlichen  Eigenschaften  unmittelbar  verknüpften. 
Immerhin  aber  nennen  Einige  von  ihnen  einzelne  Tugenden  derselben. 

So  rühmt,  wie  wir  gesehen  haben,  Justin  ihren  freudigen 
Glauben,  und  indem  er  diesen  dem  Ungehorsam  der  Eva  entgegen¬ 
setzt,  eben  damit  stillschweigend  auch  ihren  Gehorsam.  Irenäus 
hebt  diese  beiden  Tugenden  mehrmals  hervor  und  macht  sie  zu  den 
Grundbedingungen  der  Mission  Mariens,  um  nun  eine  dritte  Beziehung 
der  oben  (S.  29)  ausgezogenen  Stellen  blosszulegen.  Durch  Glauben 
und  Gehorsam  hat  Maria  das  gelöst,  was  Eva  durch  Unglauben 
und  Ungehorsam  gebunden  hatte.  Die  beiden  Tugenden  sind  ihm  die 
Voraussetzung  der  Möglichkeit,  Ursache  unseres  Heils  zu  werden.  An 
einem  andern  Orte  rühmt  er  ihre  Herzenseinfalt  (S.  30).  Daneben 
sieht  er  in  ihrer  Bemerkung  auf  der  Hochzeit  zu  Gana:  »Herr,  sie 
haben  keinen  Wein«,  eine  »unzeitige  Eile«,  und  beweist  hiemit,  dass  ihm 
ihre  Persönlichkeit  nicht  als  über  jede  Bemängelung  erhaben  erschien. 

Tertullian  lässt  sie  ebenfalls  durch  ihren  rechten  Glauben 
sühnen,  was  Eva  durch  ihren  falschen  Glauben  (an  die  Worte  der 
Schlange)  gesündigt  hat 1).  Dagegen  findet  sich  in  dem  nemlichen 
Buche,  welchem  wir  diese  Antithese  entnommen  haben ,  folgende 
Erläuterung  der  Erwiderung  Christi  auf  die  Unterbrechung  seines 
Lehrvortrags  zu  Kapernaum :  »Wer  ist  meine  Mutter«  u.  s.  w. 
»Die  Brüder  des  Herrn,  sagt  er,  glaubten  nicht  an  ihn,  wie  das  in 
dem  Evangelium,  welches  vor  Marcion  erschienen  ist,  enthalten  ist. 
Von  seiner  Mutter  wird  ebenfalls  nicht  bewiesen,  dass 
sie  ihm  angehangen  habe,  da  hingegen  Martha  und  die  anderen 
Marien  häufig  im  Verkehr  mit  ihm  gefunden  werden.  So  erscheint 
auch  an  dieser  Stelle  der  Unglaube  derselben  (eorum).  Während 


')  De  carne  Christi  17. 

Lehn  er,  Die  Marienverehrung. 


10 


146 


er  den  Weg  des  Lebens  lehrte,  während  er  das  Reich  Gottes  pre¬ 
digte,  während  er  für  Heilung  von  Schwächen  und  Schäden  thätig 
war,  während  Fremde  an  seinem  Munde  hingen,  —  waren  die  ihm 
Nächststehenden  entfernt.  Endlich  kommen  sie  herbei,  bleiben 
draussen  stehen  und  gehen  nicht  herein ,  indem  sie  nemlich  nicht 
bedenken,  was  innen  vorgeht ;  ja  sie  gedulden  sich  nicht  einmal, 
als  ob  sie  etwas  Nothwendigeres  brächten,  als  das,  was  jener  ge¬ 
rade  damals  that,  sondern  sie  unterbrechen  ihn  vielmehr  und  wol¬ 
len  ihn  von  einem  so  wichtigen  Werke  abrufen  ....  Gott  predigend 
und  erweisend,  das  Gesetz  und  die  Propheten  erfüllend,  die  Finster¬ 
niss  einer  so  langen  Vergangenheit  zerstreuend,  gebrauchte  Christus 
voll  Unwillen  diesen  Ausspruch,  um  die  Ungläubigkeit  der  draussen 
Stehenden  zu  erschüttern,  oder  um  die  Rücksichtslosigkeit  der  vom 
Werke  Abrufenden  zurückzuweisen  ....  Wenn  sein  Unwillen  die 
Verwandten  verleugnet,  so  verleugnet  er  sie  nicht,  er  schilt  sie. 
Die  andern  hält  er  höher,  und  indem  er  als  Grund  der  Bevor- 
zugung  die  Anhörung  seines  Wortes  aufzeigt,  thut  er  dar,  unter 
welcher  Bedingung  er  Mutter  und  Brüder  verleugnet  habe.  Denn 
unter  derselben  Bedingung ,  unter  welcher  er  die  andern ,  die  ihm 
anhangen,  acloptirt,  verleugnet  er  jene,  welche  sich  von  ihm  fern¬ 
hielten.  Auch  pflegt  Christus  das  selber  zu  erfüllen,  was  er  andere 
lehrt.  Wie  nun,  wenn  er  lehrte,  Mutter  und  Brüder  seien  nicht  so 
hoch  anzuschlagen,  als  Gottes  Wort,  aber  selber  bei  der  Anmeldung 
seiner  Mutter  und  Brüderschaft  Gottes  Wort  verlassen  hätte?  Er 
verleugnet  also  die  Verwandten,  gleichwie  er  gelehrt,  dass  man  sie 
um  Gottes  Werk  verleugnen  müsse.  Aber  sonst  ist  auch  das  Bild 
der  Synagoge  in  der  getrennten  Mutter  und  das  der  Juden  in  den 
ungläubigen  Brüdern  dargestellt.  Draussen  war  in  jenen  Israel,  die 
neuen  Schüler  aber,  welche  drinnen  hörten,  glaubten  und  Christus 
anhingen,  bezeichneten  die  Kirche ,  welche  er  mit  Zurückweisung 
des  fleischlichen  Geschlechtes  als  die  vorzüglichere  Mutter  und  würdigere 
Brüderschaft  einsetzte.  In  demselben  Sinne  antwortet  er  auch 
jenem  Ausrufe  (der  Frau  aus  dem  Volke),  indem  er  nicht  der 
Mutter  Schooss  und  Brüste  verleugnet,  sondern  die,  welche  Gottes 
Wort  hören,  als  die  glückseligeren  bezeichnet  .  .  .«  x) 

Es  braucht  kaum  darauf  hingewiesen  zu  werden,  dass  Tertullian 
hier  unnöthiger  Weise  in  die  Breite  geht.  Um  die  Stelle  zu  er- 


*)  De  carne  Christi  7. 


147  — 


klären,  hätte  etwa  die  Bemerkung  hingereicht,  dass  Christus,  um 
nach  seiner  eigenen  Vorschrift  zu  handeln ,  die  leibliche  Verwandt¬ 
schaft  dem  göttlichen  Berufe  nachzusetzen  habe.  Man  könnte  daher 
sagen,  dass  der  schroffe,  processirende  Jurist  im  Eifer  gegen  Marcions 
falsche  Exegese,  der  ja  aus  den  Worten  Christi  herauslas,  dass  dieser 
gar  keine  Mutter  gehabt  habe,  sich  auch  selbst  gegen  Maria  vorübergehend 
in  Harnisch  gebracht  und  bis  zum  Widerspruch  mit  sich  selbst  über¬ 
stürzt  habe.  Es  ist  dieses  wohl  auch  der  Fall.  Allein  er  hätte  die 
Mutter  Christi,  wenn  er  auch  zwischen  Mutter  und  Brüdern  unterscheidet 
und  den  Unglauben  der  letzteren  für  erwiesen  hält,  während  ihm  für 
den  Glauben  der  erstem  bloss  der  Beweis  fehlt,  unmöglich  der  Martha 
und  den  andern  Marien  nachsetzen,  er  hätte  in  ihr  nicht  das  Bild  der 
Synagoge  im  Gegensatz  zur  Kirche  erblicken  können,  wenn  ihm  Maria 
mehr  gewesen  wäre,  als  blosses,  einmal  gebrauchtes  und  dann  weiter 
nicht  mehr  in  Betracht  kommendes  Werkzeug  der  Menschwerdung. 

In  einem  anderen  Lichte  erscheint  Maria  bei  Origen  es.  In 
seinen  Homilien  zu  den  Anfangs-Kapiteln  des  Lukas  windet  er  mit 
liebevoller  Hand  die  Worte  des  Evangeliums  zu  einem  Strausse  von 
Tugenden,  womit  er  die  heilige  Jungfrau  schmückt.  »Die  Worte 
des  Engels,  sagt  er,  ,Gegrüsset  seist  du  Gnaden  volle1,  erinnere  ich 
mich  nicht,  sonst  irgendwo  in  der  Schrift  gelesen  zu  haben  .... 
Für  Maria  allein  ist  dieser  Gruss  aufbewahrt.  Denn  wenn  Maria 
gewusst  hätte,  dass  auch  an  jemand  anders  ein  ähnliches  Wort  er¬ 
gangen  sei,  —  sie  hatte  nemlich  Kenntniss  des  Gesetzes  und  war 
heilig  und  hatte  die  Weissagungen  der  Propheten  durch  tägliches 
Nachdenken  verstehen  gelernt,  —  so  hätte  sie  der  Gruss  niemals 
als  ein  fremder  erschreckt  *).«  Zu  der  Stelle  Luc.  I,  48:  »Denn 
er  hat  angesehen  die  Niedrigkeit  seiner  Magd«  gibt  er  folgende  Be¬ 
trachtung:  »Was  war  das  für  eine  Niedrigkeit  Mariä,  die  der  Herr 
angesehen  hat?  Was  hatte  die  Mutter  des  Heilandes  Niedriges  oder  Ge¬ 
ringzuschätzendes  an  sich,  sie,  die  den  Sohn  Gottes  im  Leibe  trug?  Ihre 
Worte  sind  darum  wohl  so  zu  verstehen,  als  ob  sie  gesagt  hätte:  er  hat 
angesehen  die  Gerechtigkeit  seiner  Magd,  die  Mässigung,  die  Tapferkeit, 
die  Weisheit.  Denn  es  ist  würdig,  dass  er  die  Tugenden  ansehe. 
Es  möchte  jemand  einwenden :  ich  verstehe,  wie  Gott  die  Gerechtig¬ 
keit  und  Weisheit  seiner  Magd  ansieht,  wie  er  aber  die  Niedrigkeil 
ansieht,  ist  mir  nicht  klar.  Wer  solche  Fragen  stellt,  der  möge  be- 


1)  Hom.  in  Lac.  VII,  Bd.  III,  S.  939. 


148 


denken,  dass  in  der  heiligen  Schrift  die  Niedrigkeit  ausdrücklich  als 
eine  der  Tugenden  gepriesen  wird.  Denn  es  sagt  der  Heiland :  Lernet 
von  mir,  denn  ich  bin  sanftmüthig  und  niedrig  (demüthig)  von 
Herzen 4).  Wenn  du  darum  den  Namen  dieser  Tugend  vernehmen 
willst,  den  ihr  auch  die  Philosophen  geben,  so  wisse,  dass  die  Niedrig¬ 
keit,  welche  Gott  anschaut,  dieselbe  Tugend  ist,  die  von  jenen  Anmas- 
sungslosigkeit  oder  Bescheidenheit  genannt  wird.  Aber  auch  wir  können 
sie  mit  einer  Umschreibung  bezeichnen :  wenn  nemlich  jemand  nicht 
aufgeblasen  ist,  oder  wenn  er  sich  selbst  gering  achtet ....  ,Er  hat  die 
Niedrigkeit  seiner  Magd  angesehen1  heisst  also :  Gott  hat  mich  die 
Niedrige,  mich  die  Anhängerin  der  Sanftmuth  und  Selbstgering¬ 
achtung  angesehen  2).« 

Origenes  beleuchtet  hier  das  gesammte  Geistesleben  der  Jung¬ 
frau  durch  die  Aufstellung,  dass  sie  die  heilige  Schrift  fleissig  ge¬ 
lesen,  täglich  zum  Gegenstand  ihres  Nachdenkens  gemacht  und  sich 
so  durch  die  Tugendübung  der  Meditation  über  heilige  Dinge  gewisser- 
massen  auf  ihren  hohen  Beruf  vorbereitet  habe.  Er  schmückt  sie 
mit  allen  Kardinaltugenden,  preist  ihre  Heiligkeit  und  dann  nament¬ 
lich  ihre  Demuth  —  denn  diesen  Begriff  meint  er  mit  seinen 
Umschreibungen.  Wie  wir  oben  (S.  95)  gesehen  haben,  betrachtet 
er  ferner  die  immerwährende  Jungfräulichkeit  Mariens  nicht  bloss  als 
auferlegte,  sondern  als  von  ihr  selbst  gewollte  Veranstaltung,  als  Opfer, 
und  wird  hiemit,  wenn  auch  nur  in  andeutender  Weise,  zum  ersten 
Verkündiger  ihres  später  angenommenen  Keuschheitsgelübdes. 

Mit  solchen  Tugenden  ausgerüstet  macht  er  sie  zum  Vorbild 
der  christlichen  Frauen.  »Wie  die  Sünde  von  dem  Weibe  aus  ihren 
Anfang  nahm  und  sofort  auf  den  Mann  überging,  so  nahm  auch  der 
Anfang  des  Heiles  3)  von  den  Frauen  (er  meint  Maria  und  Elisabeth) 
seinen  Ausgang,  auf  dass  auch  die  übrigen  Frauen  die  Gebrechlichkeit 
ihres  Geschlechts  ablegen  und  das  Leben  und  die  Beschäftigung  dieser 
heiligen  Frauen  nachahmen4).«  Dass  Elisabeth  die  Bolle  mit  Maria 
theilt,  thut  nichts  zur  Sache,  denn  in  demselben  Zusammenhang 
stellt  Origenes  das  Verhältniss  beider  Frauen  zu  einander  fest,  wie 
wir  später  sehen  werden. 


9  Malth.  XI,  29. 

2)  Hom.  in  Luc.  VIII,  Bd.  III,  S.  941. 

3)  Das  griech.  Fragm.  bei  Combefis  lautet  hier:  oßxiu  xal  xa  aya&a  atzb 
xiLv  Y^vatxuiv  Yjp^axo  .  .  . 

4)  T.  III,  p.  940. 


149 


Das  Geistesleben  Mariens  hat  aber  einen  noch  höheren  Flug 
genommen  dadurch,  dass  der  heilige  Geist  auf  sie  herabkam. 
»Mit  dem  heiligen  Geiste,  sagt  Origen  es ,  wurde  Maria  damals  er¬ 
füllt,  als  sie  anfing,  den  Heiland  im  Schoosse  zu  tragen.  Denn 
sogleich,  als  der  heilige  Geist  als  Bildner  des  Leibes  Christi  auf  sie 
herabkam,  und  der  Sohn  Gottes  in  ihrem  Leibe  zu  sein  begann, 
wurde  auch  sie  selber  vom  heiligen  Geiste  erfüllt  *).« 

Aus  diesem  Grunde  »musste  auch  Maria  mit  dem  hochwürdigen 
Gottessprössling  nach  der  göttlichen  Anrede  auf’s  Gebirge  steigen 
und  in  höheren  Regionen  verweilen.  Daher  heisst  es  in  der  Schrift: 
Maria  stand  auf  in  jenen  Tagen  und  ging  ins  Gebirge.  Denn  da 
sie  nicht  (geistes-)  träge,  sondern  strebsam  war,  musste  sie,  des 
heiligen  Geistes  voll,  zu  höheren  Regionen  geführt  und  von  der 
Kraft  Gottes  bedeckt  werden ,  von  der  sie  überschattet  worden 
war 1  2).«  Die  tropische  Ausdeutung  des  Wortes  »Gebirge«  für 
höhere  Regionen  geistigen  Lebens  ist  ganz  die  Art  und  Weise  des 
Origenes. 

Bei  alledem  betrachtet  er  Maria  nicht  als  ein  von  vornherein 
vollkommenes  Wesen,  ja  er  nimmt  an,  dass  das  volle  Verständniss 
der  Persönlichkeit  und  der  Mission  ihres  Sohnes  ihr  nur  ganz  allmälig 
aufgegangen  und  sogar  bis  zum  Kreuzestod  desselben  nicht  ohne 
Schwanken  geblieben  sei.  Ihr  Besuch  bei  Elisabeth  hat  unter 
Anderm  auch  den  Zweck,  dass  sie  »fester  werde  im  Glauben  an 
das,  was  sie  vom  Engel  gehört  hatte«  3).  Zu  der  Stelle  »wir  suchten 
dich  mit  Schmerzen«  bemerkter:  »Ich  glaube  nicht,  dass  sie  dess- 
wegen  Schmerz  empfunden  haben,  weil  sie  meinten,  der  Knabe  habe 
sich  verirrt  oder  sei  umgekommen;  es  konnte  doch  nicht  geschehen, 
dass  Maria,  welche  wusste,  dass  sie  vom  heiligen  Geiste  empfangen 
habe,  welche  die  Rede  des  Engels  gehört,  den  Zulauf  der  Hirten  gesehen, 
die  Prophezeiung  Simeons  vernommen  hatte,  fürchtete,  den  sich 
verirrenden  Knaben  zu  verlieren  .  .  .  .«  Sie  habe  wohl  vielmehr  daran 
gedacht,  dass  er  sie  verlassen  und  anderswohin  sich  gewendet  habe  oder 
am  Ende  gar  »wieder  zum  Himmel  zurückgekehrt  sei,  um,  wenn 
es  ihm  gefallen  hätte,  noch  einmal  herabzusteigen«  u.  s.  w.  4)  Zu 


1)  In  Luc.  hom.  VII,  Bd.  III,  S.  940. 

2)  Ibid.  S.  939. 

3)  T.  III,  p.  980. 

4)  T.  III,  p.  955,  hom.  in  Luc.  XIX. 


150 


der  Stelle  »und  sie  selbst  verstanden  das  Wort  nicht,  welches  er 
zu  ihnen  gesprochen  hatte«  (nach  seiner  Wiederauffindung),  fügt  er 
erläuternd  bei:  »Joseph  und  Maria  haben  noch  nicht  den  vollen 
Glauben  gehabt  1).«  Dass  aber  mit  dem  »vollen  Glauben«  hier 
eigentlich  das  »volle  Verständniss«  gemeint  ist,  geht  aus  der  Erklärung 
der  bald  folgenden  Worte  des  Evangeliums:  »Seine  Mutter  behielt 
alle  diese  Worte  in  ihrem  Herzen«  klar  hervor.  Origenes  sagt 
nemlich  hiezu :  »Sie  ahnte  darin  etwas  Höheres  als  Menschliches, 
daher  sie  auch  alle  seine  Worte  in  ihrem  Herzen  bewahrte,  nicht 
als  Reden  eines  zwölfjährigen  Knaben,  sondern  als  Reden  desjenigen, 
welcher  vom  heiligen  Geiste  empfangen  war  ,  welchen  sie  an  Weis¬ 
heit  und  Gnade  vor  Gott  und  Menschen  wachsen  sah  2).«  Dieses 
ahnungsvolle  Schwanken  zwischen  »vollem  Glauben«  und  menschlich 
befangenem  Zagen  verlässt  Maria  bei  Origenes,  wie  gesagt,  bis  zum 
Tode  ihres  Sohnes  nicht  ganz.  Rei  der  Darstellung  des  Kindes  im 
Tempel  findet  er  in  dem  prophetischen  Worte  Simeons  folgenden 
Sinn:  »Was  ist  nun  diess  für  ein  Schwert,  fragt  er,  welches  nicht 
allein  durch  das  Herz  der  andern,  sondern  auch  durch  Marias  Herz 
gehen  wird?  Es  steht  deutlich  geschrieben,  dass  zur  Zeit  seines 
Leidens  alle  Apostel  an  ihm  irre  geworden  sind,  da  der  Herr  selbst 
sagt :  Ihr  alle  werdet  euch  in  dieser  Nacht  ärgern  3).  Sie  haben 
sich  also  allesammt  an  ihm  geärgert ,  so  dass  selbst  Petrus ,  der 
Fürst  der  Apostel,  ihn  zum  dritten  Male  verleugnet  hat.  Wie  nun? 
Können  wir  annehmen,  dass,  wenn  die  Apostel  sich  geärgert  haben, 
die  Mutter  des  Herrn  von  Aergerniss  freigeblieben  sei?  Wenn  sie 
beim  Leiden  des  Herrn  nicht  an  ihm  irre  geworden  ist,  so  ist  Jesus 
nicht  für  ihre  Sünden  gestorben.  Wenn  aber  alle  gesündigt  haben 
und  der  Herrlichkeit  des  Herrn  bedürfen ,  um  durch  seine  Gnade 
gerechtfertigt  und  erkauft  zu  werden ,  so  ist  auch  Maria  schlechter¬ 
dings  zu  jener  Zeit  an  ihm  irre  geworden.  Und  diess  ist  es,  was 
Simeon  prophezeit.  Auch  deine  Seele,  meint  er,  die  du  weisst,  dass 
du  als  Jungfrau  ohne  Mann  geboren,  die  du  von  Gabriel  gehört 
hast:  ,Der  heilige  Geist  wird  über  dich  kommen  und  die  Kraft  des 
Höchsten  wird  dich  überschatten,4  auch  deine  Seele  wird  das  Schwert 
der  Ungläubigkeit  durchdringen,  von  der  Spitze  des  Zweifels  wirst 


x)  Ibid.  XX. 

2)  Ibid. 

3)  Matth.  XXYI,  31. 


151 


du  getroffen  werden  und  deine  Gedanken  werden  dich  hin  und  her 
zerren,  wenn  du  siehst,  wie  jener,  den  du  Sohn  Gottes  nennen 
hörtest,  den  du  ohne  Mannes  Samen  gezeugt  wusstest,  gekreuzigt 
wird  und  stirbt,  menschlicher  Qual  unterworfen  ist  und  zuletzt 
jammervoll  klagt  und  spricht:  Vater,  wenn  es  möglich  ist,  so  gehe 
dieser  Kelch  an  mir  vorüber  *).« 

Sagt  nun  auch  Origenes  hier  offenbar  selber,  dass  seine  Exegese 
der  Worte  Simeons  eine  unfreie  und  unter  dem  Banne  der  dogma¬ 
tischen  Voraussetzung  entstanden  sei,  dass  alle  Menschen  (also  auch 
Maria)  gesündigt  haben  müssen,  weil  Christus  für  die  Sünden  aller 
Menschen  gestorben  sei ,  so  bleibt  seine  Anschauung  nichts  desto 
weniger  stehen.  Maria  hat  einmal  gewankt,  ihr  Glaube,  ihre  Ein¬ 
sicht  in  das  Wesen  und  den  Beruf  ihres  Sohnes  hat,  trotz  ihrer 
Begnadigung,  unter  dem  Kreuze  Schiffbruch  gelitten  und  sie  theilt 
diese  Erfahrung  mit  den  Aposteln. 

Nachdem  aber  ihr  Sohn  vollendet,  vollendet  sich  auch  ihr  Ver- 
ständniss  seines  Wesens,  und  ihrer  Führung  verdankt  zum  Theil 
wenigstens  ihr  Adoptivsohn  Johannes  die  tiefere  Erkenntniss,  welche 
in  seinem  Evangelium  zu  Tage  tritt.  Diess  lässt  sich  dem  Com- 
mentar  des  Origenes  zum  Johannesevangelium  entnehmen,  wo  er 
sagt:  »Wagen  wir  also  die  Behauptung,  die  vornehmste  aller  heiligen 
Schriften  sei  das  Evangelium,  das  vornehmste  von  den  Evangelien 
aber  sei  das  des  Johannes,  dessen  Sinn  Niemand  fassen  kann,  wer 
nicht  an  der  Brust  Jesu  gelegen,  oder  von  Jesus  Maria  em¬ 
pfangen  hat,  damit  sie  auch  seine  Mutter  werde* 2).« 

Diese  Anschauung  des  Origenes  von  den  hohen  geistigen  und 
sittlichen  Vorzügen  Mariens,  aber  auch  von  ihrem  nur  allmäligen 
und  nicht  ohne  Irrthum  sich  vollziehenden  Fortschreiten  auf  dem 
Wege  zur  Vollkommenheit,  scheint  nun  für  das  dritte  und  den  grössten 
Theil  des  vierten  Jahrhunderts  als  die  herrschende  angenommen 
werden  zu  dürfen.  Dass  seine  Deutung  des  »Schwertes«  Niemand  auf¬ 
fiel,  geht  daraus  hervor,  dass  seine  späteren  Gegner,  welche  ihn 
mehrerer  Irrthümer  beschuldigten,  dieselbe  ihm  nicht  zum  Vorwurf 
machten,  ja,  dass  unter  den  auf  der  konstantinopolitanischen  Synode 
a.  543  gegen  ihn  erlassenen  fünfzehn  Anathematismen  sich  nichts 
hievon  findet 3). 


3  Hom.  in  Luc.  XVII,  Bd.  III,  S.  952. 

2)  Bd.  IV,  p.  6. 

3)  Hefele,  Gonciliengesch.  II,  S.  768  ff.  Später  wurde  es  getadelt. 


152 


Er  hat  aber  auch  noch  an  mehreren  Vätern  des  vierten  Jahr¬ 
hunderts  Genossen  seiner  Auffassung.  Basilius  z.  B.  erklärt  die 
Stelle  ebenso:  »Es  wird  auch  in  deiner  Seele  ein  Schwanken  ent¬ 
stehen.  Denn  der  Herr  musste  für  Alle  den  Tod  kosten  und  der 
Erlöser  der  Welt  musste  Alle  rechtfertigen  in  seinem  Blute.  Auch 
dich  also,  die  du  von  oben  über  die  Verhältnisse  des  Herrn  unter¬ 
richtet  worden  warst,  wird  ein  Zweifel  ergreifen.  Diess  ist  das 
Schwert  1).«  Aehnlich  äussern  sich  Titus,  Bischof  von  Bostra,  Am- 
philochius,  Bischof  von  Ikonium  2),  Chrysostomus  3),  Cyrillus  4)  u.  s.  w. 
Chrysostomus  insbesondere  gefällt  sich  in  der  nachdrücklichen  Be¬ 
tonung  des  ächt  Menschlichen  ihres  Wesens.  Wie  wir  oben  (S.  90) 
gesehen  haben,  sagt  er:  der  Jungfrau  sei  bei  der  Verkündigungs¬ 
scene  etwas  Menschliches  begegnet  mit  der  Frage:  »wie  wird  diess 
geschehen,  da  ich  keinen  Mann  erkenne?«  In  demselben  Zusammen¬ 
hang  wirft  er  sich  selbst  die  Frage  auf,  warum  der  Engel  nicht  erst, 
nachdem  Maria  schon  schwanger  gewesen ,  ihr  die  frohe  Botschaft 
gebracht  habe,  und  gibt  die  Antwort:  »Damit  sie  nicht  in  grosse 
Bestürzung  und  Verwirrung  gerathe.  Denn  wahrscheinlich  hätte  sie, 
wenn  sie  das  Richtige  nicht  gewusst  hätte,  etwas  Unziemliches  über 
sich  beschlossen  und  wäre  auf  Strick  und  Schwert  verfallen,  indem 
sie  die  Schande  nicht  ertragen  hätte.  Denn  bewundernswerth  war 
die  Jungfrau  und  Lukas  zeigt  ihre  Tugend,  indem  er  sagt,  dass  sie 
nach  Vernehmung  des  Grusses  nicht  sogleich  sich  hingegeben  und 
den  Spruch  angenommen  habe.  Sie  erschrack  vielmehr  und  unter¬ 
suchte,  von  wannen  der  Gruss  komme.  Da  sie  nun  so  gar  genau 
war,  hätte  sie  vielleicht  wohl  der  Verzagtheit  Raum  gegeben,  wenn 
sie  an  die  Schande  dachte  und  Niemanden,  soviel  sie  auch  hätte 
sagen  mögen,  zu  überzeugen  hoffte,  dass  ihr  Zustand  nicht  Folge 
von  Ehebruch  sei.  Damit  also  diess  nicht  geschehe,  kam  der  Engel 
vor  der  Empfängniss.  Denn  es  musste  ja  von  aller  Bestürzung  frei 
sein  jener  Mutterleib,  in  den  der  Schöpfer  der  Welt  einging,  es 
musste  vor  aller  Verwirrung  bewahrt  bleiben  die  Seele,  welche 
Dienerin  werden  sollte  von  solchen  Geheimnissen  5).« 


9  Epist.  259. 

2)  Orat.  3  de  occursu  Dom.  Die  Aechtheit  dieser  Rede  ist  jedoch  bezweifelt. 

3)  In  Psalm  13. 

4)  In  Joann. 

5)  Hom.  IV,  in  Matth,  ed.  Montf.  T.  VII,  S.  54. 


153 


Findet  also  auch  Chrysostomus  den  Glauben  Mariens  nicht  durch¬ 
aus  so  fest,  dass  nicht  auch  hin  und  wieder  ein  Zweifel  ihn  er¬ 
schüttert  hätte,  hält  er  sie  bei  aller  sittlichen  Höhe,  auf  welcher  sie 
als  »Dienerin  solcher  Geheimnisse«  stehen  musste,  gar  eines  Selbst¬ 
mordes  für  fähig,  um  der  Schande  zu  entgehen,  so  tadelt  er  ferner  bei 
dem  Vorfall  zu  Kapernaum  ihre  mütterliche  Eitelkeit  und  Ueberhebung. 
Christus,  sagt  er,  habe  dort  nicht  die  Gegenfrage:  »Wer  ist  mir 
Mutter  u.  s.  w.«  gestellt,  »weil  er  sich  seiner  Mutter  schämte,  sondern 
um  zu  zeigen,  dass  ihr  auch  die  Mutterwürde  nichts  nützen  würde, 
wenn  sie  nicht  alle  Pflichten  erfüllte.  Denn  das,  was  sie  unternahm, 
war  unnütze  Prunksucht.  Sie  wollte  nemlich  dem  Volke  zeigen, 
dass  sie  über  ihren  Sohn  Macht  habe  und  ihm  befehlen  könne,  indem 
sie  sich  nicht  viel  aus  ihm  mache.  Daher  kam  sie  auch  zur  Unzeit 
herbei.  Schaut  nun  ihren  und  der  Brüder  Unverstand!  Sie  hätten 
hineingehen  und  mit  dem  Volke  zuhören  sollen,  oder  wenn  sie  das 
nicht  wollten,  mussten  sie  abwarten,  bis  er  seinen  Vortrag  beendet 
hatte,  und  dann  herbeikommen.  Sie  aber  rufen  ihn  heraus  und  thun 
diess  in  Gegenwart  Aller  mit  unnützer  Prahlerei,  indem  sie  zeigen 
wollten ,  dass  sie  ihm  ohne  Umstände  befehlen.  Diesen  Vorwurf 
macht  ihnen  auch  der  Evangelist  oder  deutet  ihn  wenigstens  an  mit 
den  Worten  , während  er  zu  den  Völkern  sprach4,  gleich  als  wenn 
er  sagte:  gab  es  denn  keine  andere  Zeit?  konnte  man  nicht  etwa 
zu  Hause  mit  ihm  sprechen?«  x) 

Wenn  man  nun  auch  in  Anschlag  bringt,  dass  obige  Aeusserungen 
des  Chrysostomus  aus  Predigten  stammen ,  welche  vorzugsweise 
praktische  Zwecke  verfolgten,  wenn  man  auch  weiss,  dass  die  alt¬ 
christlichen  Prediger  so  gut  als  die  späteren  dem  augenblicklichen 
Effekt  oft  kühne  exegetische  Concessionen  machten,  —  es  kann  doch 
Niemanden  entgehen,  dass  auch  für  Chrysostomus  Maria  keineswegs 
schon  ein  intellektuell-moralisches  Ideal  ist. 

Andere  Kirchenväter  des  vierten  Jahrhunderts  sprechen  wieder, 
wie  die  ältesten,  von  einzelnen  Tugenden  der  Jungfrau.  So  rühmt 
Zeno  von  Verona  den  Glauben  (s.  oben  S.  126),  der  syrische 
Bischof  Aphraates  (um  340)  die  Tugendübungen  des  Fastens  und 
Betens  bei  Maria.  »Jener  (Gabriel)  brachte  auch  das  Gebet  Marias 
vor  Gott  und  verkündigte  ihr  die  Geburt  Christi.  Denn  er  sprach 


0  Hom.  44  in  Matth.  T.  VII,  p.  467.  Hiezu  macht  Montfaucon  die  Be¬ 
merkung:  Bona  verba,  Chrysostome! 


154 


zu  ihr:  Du  hast  Gnade  gefunden  bei  Gott.  Wodurch  anders  aber 
hat  Maria  Gnade  gefunden  als  durch  Fasten  und  Gebet?  Denn 
Gabriel  nimmt  die  reinen  Gebete  in  Empfang  und  bringt  sie  vor 
Gott1).«  An  einem  andern  Orte  preist  er  ihre  Demuth.  »Wegen 
ihrer  Demuth  empfing  Maria  jenen  (Christus)  2).« 

Der  Pabst  Liberius  (352 — 366)  findet  bei  ihr  die  von  ihm  so 
hoch  gestellte  »Tugend  des  Schweigens«  in  den  Worten  der  Schrift: 
sie  bewahrte  Alles  in  ihrem  Herzen  3). 

Epiphanius  bringt,  wie  wir  oben  gesehen  haben  (S.  34),  die 
alte  Antithese  des  Gehorsams  Mariens  und  des  Ungehorsams  der 
Eva,  er  nennt  Maria  die  »Anfängerin  der  Jungfräulichkeit«  (S.  99), 
er  heisst  sie  »gerecht«  (S.  100);  er  bewundert  ferner  bei  der  Frage 
Mariens:  »wie  wird  jenes  geschehen,  da  ich  keinen  Mann  erkenne« 
ihre  »Geistesgegenwart,  Sicherheit,  ihren  Verstand«  4);  er  erklärt  im 
Unterschiede  von  seinem  Zeitgenossen  Chrysostomus:  Christus  habe 
mit  den  Worten  »wer  ist  meine  Mutter  u.  s.  w.«  »demjenigen, 
der  die  Verwandten  a n kün d i gte,  die  ungelegene  Unterbrechung 
seiner  heiligen  Berufsthätigkeit  verwiesen«  5),  bei  welcher  Exegese  eine 
Korrektur  der  Mutter  unmöglich  ist,  da  nicht  sie  die  Unterbrechung 
verschuldet.  Epiphanius  hält  sich  hier  offenbar  nur  an  die  Version 
des  Lukas  6). 

In  einer  merkwürdigen  Stelle  wird  Maria  als  Beispiel  einer  Aus¬ 
nahme  von  der  allgemeinen  Sündhaftigkeit  aufgeführt.  Epiphanius 
bestreitet  nemlich  gegen  Marcion,  dass  das  Fleisch  an  sich  böse  sei. 
Letzteres  gehe  auch  nicht  aus  der  Stelle  des  Korintherbriefes:  »Fleisch 
und  Blut  werden  das  Reich  Gottes  nicht  besitzen«  7)  hervor.  »Denn 
(der  Apostel)  meint  hiemit  nicht  alles  Fleisch.  Wie  könnte  denn  das 
Fleisch  gemeint  sein,  welches  die  oben  aufgeführten  Sünden  (Buhlerei, 
Unreinigkeit,  Schwelgerei,  Abgötterei,  Giftmischerei  u.  s.  w.)  nicht 
begangen  hat?  Hiefür  gibt  es  auch  noch  andere  Beweise.  ,Wer 
wird  die  Auserwählten  Gottes  anklagen4,  sagt  der  Apostel8).  Wie 


0  Sermo  III,  de  jejunio,  c.  10.  (Uebers.  v.  Bickell). 

2)  Sermo  IX,  de  humilitate,  cap.  4. 

3)  Liberii  oratio  Marcellinam,  Ambrosii  sororem,  consecrantis  XI. 

4)  Haeres.  LI,  5. 

5)  Haer.  XLII,  p.  326,  ed.  Pet. 

6)  Luc.  VIII,  19—21. 

7)  I.  Cor.  XV,  50. 

8)  Rom.  VIII,  33. 


155 


sollte  die  heilige  Maria  nicht  sammt  dem  Fleische  das  Himmelreich 
erben,  sie,  die  weder  der  Unzucht,  noch  der  Schwelgerei,  noch  des 
Ehebruchs,  noch  der  übrigen  verderblichen  Fleischeswerke  sich  schuldig 
gemacht  hat,  sondern  unbefleckt  verblieben  ist?  Der  Apostel  sagt 
also  nicht  von  dem  Fleisch  (im  Allgemeinen),  dass  es  das  Himmelreich 
nicht  erben  werde ,  sondern  er  sagt  diess  von  den  fleischlichen 
Menschen ,  welche  durch  das  Fleisch  das  Böse  thun ,  als  da  ist 
Buhlerei,  Götzendienst  und  Aehnliches  *).« 

Der  Kirchenvater  spricht  hier  allerdings  nur  von  recht  groben 
Sünden,  aber  dass  ihm  als  einzige  Ausnahme  hiebei  bloss  Maria 
einfällt,  ist  doch  ein  Beweis  für  ihre  hohe  sittliche  Stellung  in  seiner 
Ueberzeugung. 

Uebrigens  findet  sich  die  Ausnahme  Mariens  von  der  allgemeinen 
Sündhaftigkeit  nicht  bei  ihm  zuerst,  noch  viel  weniger  allein.  Sein 
älterer  Zeitgenosse  Gregor  von  Nazianz  z.  B.  sagt,  »dass  die  Jung¬ 
frau  sowohl  in  Bezug  auf  die  Seele  als  den  Körper  zum  voraus  vom 
heiligen  Geiste  gereinigt  gewesen  sei« *  2).  Der  erste  aber,  der  von 
der  Sündenlosigkeit  Mariens  spricht,  ist  wohl  der  h.  Ephräm,  der 
Syrer,  der  etwa  ums  Jahr  370  ausruft:  »Du,  o  Herr,  und  deine 
Mutter,  ihr  seid  die  einzigen,  welche  in  jeder  Beziehung  vollkommen 
heilig  (schön)  sind;  denn  in  dir,  o  Herr,  ist  kein  Flecken  und  an 
deiner  Mutter  keine  Makel  3).«  An  einem  andern  Orte  nennt  er  Maria 
so  unschuldig,  wie  Eva  vor  dem  Sündenfall  4).  Neben  der  sittlichen 
Höhe  preist  er  auch  ihre  geistige  Ueberlegenheit,  rühmt  ihre  Klug¬ 
heit  gegenüber  von  Evas  Thorheit 5)  und  heisst  sie  das  reine,  helle, 
rechte  Auge  der  Welt,  während  Eva  das  blinde,  linke  Auge  vor¬ 
stelle6).  Schliesslich  apostrophirt  er  Christus  mit  den  Worten:  »Auf 
jede  Weise  hast  du  sie  (Maria)  ausgeschmückt,  o  du  Zierde  deiner 
Mutter7)«,  und  idealisirt  hiemit  ihr  intellektuell-moralisches  Wesen, 
wenn  auch  nur  kurz  andeutend. 

Werfen  wir  einen  Rückblick  auf  das  Bisherige,  so  macht  es  den 


h  Haer.  42,  p.  352.  Pet. 

2)  Oratio  in  Christi  nativ.  Opp.  ed.  Morell,  Paris  1630,  Tom.  I,  pag.  620. 
Vgl.  pag.  682. 

3)  Carm.  Nisib.  27,  8,  ed.  Bickell  pag.  122,  123. 

4)  Tom.  II,  syr.  p.  327,  a. 

5)  Ibid.  p.  327. 

fi)  lbid.  p.  329. 

7)  Ibid.  p.  423  f. 


156 


Eindruck  einer  Sammlung -verschiedenfarbiger,  auch  dunkler,  Mosaik¬ 
stifte,  die  theils  in  einem  gegebenen  allgemeinen  Umriss  vereinigt 
werden  können,  theils  aber  auch  schon  für  bestimmte  Partieen  des 
Bildes  zusammengeordnet  sind.  Ein  volles,  nach  allen  Seiten  hin 
ausgearbeitetes  Ganzes  ist  noch  nicht  vorhanden.  Diess  in  rela¬ 
tiver  Vollendung  darzustellen,  ist  dem  grossen  abendländischen 
Zeitgenossen  der  zuletzt  aufgeführten  Zeugen,  dem  heiligen  Ambrosius 
Vorbehalten. 

Ambrosius  sammelte  die  Elemente  zu  dem  Bilde,  welches  er 
von  Maria  aufstellt,  ohne  Frage  durch  liebevolles  Sichversenken  und 
Vertiefen  in  die  wenigen  biblischen  Stellen,  welche  von  Maria  handeln. 
Darum  geben  wir  zuerst  die  betreffenden  Bemerkungen  aus  seiner 
etwa  aus  den  Jahren  386—387  stammenden  »Auslegung  des  Lukas¬ 
evangeliums«  *),  ehe  wir  den  Abschnitt  aus  seinem  »Buch  über  die 
Jungfrauen«  mittheilen,  welcher  eine  zusammenhängende  Charakteristik 
enthält,  obwohl  das  letztere  Buch  schon  im  Jahre  377  geschrieben  ist. 

Ambrosius  liest  die  Stelle  Luk.  I,  28,  29  so:  »Und  der  Engel 
kam  zu  ihr  hinein  und  sprach:  Gegrüsst  seist  du  Gnadenvolle,  der 
Herr  ist  mit  dir,  du  bist  gebenedeit  unter  den  Weibern.  Da  sie  aber 
ihn  sah,  wurde  sie  erschüttert  bei  seinem  Eintritt.«  Die 
unterstrichene  Partie,  welche  sich  von  der  gewöhnlichen  Leseart  des 
griechischen  und  lateinischen  Textes  unterscheidet,  musste  hervor¬ 
gehoben  werden,  weil  Ambrosius  eben  auf  diese  Worte  mehrfach 
Bezug  nimmt. 

Er  knüpft  also  hieran  das  Folgende: 

»Erkenne  die  Jungfrau  an  ihrem  Charakter ,  erkenne  sie  an 
ihrer  Sittsamkeit  .  .  .  .  Es  ist  Jungfrauenart,  bei  jedem  Eintritt 
eines  Mannes  zu  zittern  und  zu  beben ,  bei  jeder  Anrede  eines 
Mannes  zu  erschrecken.  Die  Frauen  mögen  lernen,  den  Vorsatz  der 
Keuschheit  nachzuahmen.  Sie  war  allein  in  ihrem  Gemache,  damit 
sie  kein  Mann  sehen  und  nur  der  Engel  finden  konnte;  allein,  ohne 
Gesellschaft,  ohne  Zeugen ,  um  von  keiner  unwürdigen  Ansprache 
herabgesetzt  zu  werden,  wird  sie  vom  Engel  begrüsst.  Lerne, 
o  Jungfrau,  ausgelassene  Reden  zu  meiden;  Maria  erschrak  auch 
vor  dem  Grusse  eines  Engels.  ,Doch  dachte  sie  darüber  nach,  was 
das  für  ein  Gruss  sei‘  —  mit  Scheu,  weil  sie  erschrak,  mit  Klug¬ 
heit,  weil  sie  sich  über  die  neue  Segensformel  wunderte,  die  vorher 


9  Expos,  in  Luc,  lib.  II. 


157 


nirgends  gelesen,  nirgends  zur  Kenntniss  gekommen  ist.  Für  Maria 
allein  ward  dieser  Gruss  aufbewahrt.  Mit  Recht  wird  sie  allein 
gnadenvoll  genannt,  da  sie  allein  eine  Gnade  erlangt  hat,  welche 
keine  andere  verdient  hatte,  dadurch,  dass  sie  mit  dem  Urheber  der 
Gnade  erfüllt  wurde«  .... 

,Es  sprach  aber  Maria  zum  Engel:  Wie  wird  dieses  geschehen, 
da  ich  keinen  Mann  erkannt  habe?1 

»Es  scheint  hier  Maria  ungläubig  gewesen  zu  sein,  wenn  man 
nicht  sorgfältig  die  Sache  überlegt;  denn  es  wäre  gegen  alle  Ordnung, 
dass  diejenige ,  welche  auserwählt  war ,  den  eingeborenen  Sohn 
Gottes  zu  gebären ,  ungläubig  gewesen  zu  sein  schiene.  Wie  aber 
hätte  es  geschehen  können  .  .  .  . ,  dass  Zacharias ,  welcher  nicht  ge¬ 
glaubt  hatte,  zum  Schweigen  verurtheilt,  Maria  aber,  wenn  sie  nicht 
geglaubt  hätte,  durch  Eingiessung  des  heiligen  Geistes  erhöht  wurde ! 
Aber  Maria  durfte  weder  nicht  glauben ,  noch  so  blindlings  sich 
aneignen  —  nicht  glauben  dem  Engel,  sich  aneignen  das  Göttliche. 
Denn  es  war  nicht  leicht,  das  von  Ewigkeit  in  Gott  verborgene  Ge- 
heimniss  zu  wissen,  welches  nicht  einmal  die  höheren  Mächte  wissen 
konnten.  Und  doch  verweigerte  sie  den  Glauben  nicht,  lehnte  die 
Pflicht  nicht  ab,  sondern  sie  stellte  sich  zur  Verfügung  und  sagte 
Gehorsam  zu.  Denn  wenn  sie  sagt  »wie  wird  dieses  geschehen«, 
so  zweifelt  sie  nicht  an  der  Ausführung,  sondern  fragt  nach  der 
Art  der  Ausführung. 

»Um  wie  viel  gemässigter  ist  diese  Antwort ,  als  es  die  Worte 
des  Priesters  sind!  Diese  sagt:  ,wie  wird  das  geschehen1,  jener 
antwortet :  , woher  soll  ich  das  wissen  Diese  verhandelt  schon  über 
die  Angelegenheit,  jener  bezweifelt  noch  die  Nachricht.  Jener  verneint 
es  zu  glauben,  indem  er  es  zu  wissen  verneint,  und  sucht  gleichsam 
noch  einen  andern  Gewährsmann  des  Glaubens;  diese  erklärt  es 
thun  zu  wollen  und  zweifelt  nicht,  dass  das  gethan  werden  müsse, 
nach  dessen  Ausführungsart  sie  sich  erkundigt.  Denn  so  steht  ge¬ 
schrieben:  ,Wie  wird  dieses  geschehen,  da  ich  keinen  Mann  er¬ 
kenne  Die  unglaubliche  und  unerhörte  Zeugungsweise  musste  vor¬ 
her  gehört  werden,  um  geglaubt  zu  werden.  Dass  eine  Jungfrau 
gebiert ,  ist  Zeichen  eines  göttlichen ,  nicht  eines  menschlichen  Ge¬ 
heimnisses.  Es  heisst:  ,Nimm  dir  zum  Zeichen:  siehe,  eine  Jungfrau 
wird  empfangen  und  einen  Sohn  gebären.4  Maria  hatte  das  gelesen, 
daher  glaubte  sie,  dass  es  geschehen  werde;  aber  wie  es  geschehen 
würde,  hatte  sie  vorher  nicht  gelesen,  denn  wie  es  geschehen  würde 


158 


war  selbst  einem  so  grossen  Propheten  nicht  geoffenbart.  Denn  das 
Geheimniss  eines  so  hohen  Auftrags  war  nicht  aus  eines  Menschen, 
sondern  nur  aus  Engels  Munde  zu  vernehmen.  Heute  wird  zum 
ersten  Male  gehört :  der  heilige  Geist  wird  über  dich  kommen.  Es 
wird  gehört  und  geglaubt.  Siehe,  sprach  sie,  ich  bin  eine  Magd 
des  Herrn,  mir  geschehe  nach  deinem  Worte. 

»Schau  ihre  Demuth,  schau  ihre  Gottergebenheit.  Sie  nennt 
sich  eine  Magd  des  Herrn,  welche  zur  Mutter  erwählt  wTird,  und 
wird  nicht  durch  die  plötzliche  Verheissung  übermüthig.  Indem  sie 
eine  Magd  sich  nennt,  macht  sie  keinen  Anspruch  auf  den  Vorrang 
einer  solchen  Gnade,  da  sie  thut,  was  ihr  befohlen  wird.  Denn  sie, 
die  den  Sanftmüthigen  und  Demüthigen  gebären  sollte,  musste  selbst 
auch  die  Demuth  zur  Schau  tragen.  , Siehe  ich  bin  eine  Magd  des 
Herrn,  mir  geschehe  nach  deinem  Worte.1  Hier  hast  du  die  Hin¬ 
gebung,  hier  siehst  du  das  Gelöbniss.  Denn  die  Worte  , siehe  ich 
bin  eine  Magd  des  Herrn4  sind  die  Zurüstung  zum  Berufe,  die 
Worte  ,mir  geschehe  nach  deinem  Wort4  sind  die  Weihe  des  Ge¬ 
löbnisses. 

»Wie  schnell  also  hat  Maria  auch  die  ungleichartige  Empfängniss 
geglaubt!  Denn  was  ist  so  ungleichartig,  als  der  heilige  Geist  und 
ein  Körper?  Was  so  unerhört,  als  eine  schwangere  Jungfrau,  wider 
das  Gesetz,  wider  die  Gewohnheit,  wider  die  Keuschheit,  die  doch 
einer  Jungfrau  am  meisten  am  Herzen  liegt?  ....  Maria  also  scheint 
mit  ihrer  Frage  nicht  an  der  Thatsache  gezweifelt,  sondern  nach 
der  Art  und  Weise  der  Thatsache  geforscht  zu  haben  .... 

»Und  mit  Recht  fragte  sie,  wie  es  geschehen  solle,  denn  sie 
hatte  gelesen,  dass  eine  Jungfrau  Mutter  werden  solle,  aber  sie 
hatte  nicht  gelesen,  wie  sie  Mutter  werden  solle.  Sie  hatte,  wie 
gesagt,  gelesen:  , siehe  eine  Jungfrau  wird  empfangen;4  wie  aber  die 
Jungfrau  empfangen  werde,  hat  zuerst  der  Engel  im  Evangelium 
verkündigt.« 

Die  Heimsuchung  der  Elisabeth  erklärt  Ambrosius  theils  tropisch, 
wie  Origenes,  theils  entwickelt  er  aus  der  dieselbe  erzählenden  Stelle 
weitere  Tugenden  der  heiligen  Jungfrau. 

»Nachdem  Maria  (die  Schwangerschaft  der  Elisabeth)  vernom¬ 
men  hatte,  eilte  sie  ins  Gebirge,  nicht  ungläubig  gegenüber  der 
Offenbarung,  nicht  unsicher  über  die  Verkündigung ,  nicht  zweifelnd 
über  das  Beispiel  (der  Elisabeth) ;  sondern  froh  in  ihrem  Gelöbniss, 
andachtsvoll  in  ihrer  Hingebung,  eilig  in  ihrer  Freude.  Wohin 


159 


hätte  denn  die  Gotterfüllte  eilen  sollen,  als  in  höhere  Regionen? 
Die  Gnade  des  heiligen  Geistes  kennt  kein  Säumniss. 

»Lernet  denn  auch  ihr,  heilige  Frauen,  hieraus  die  Dienstbe¬ 
flissenheit,  die  ihr  den  schwangeren  Verwandten  schuldig  seid.  Maria, 
die  vorher  allein  in  ihren  Gemächern  verweilte ,  liess  sich  von  der 
öffentlichen  Strasse  nicht  durch  die  jungfräuliche  Scheu,  von  ihrem 
Eifer  nicht  durch  die  Rauhheit  des  Gebirges,  von  der  Pflicht  nicht 
durch  die  Länge  des  Weges  abhalten  .... 

»Lernet  hieraus,  ihr  Jungfrauen,  nicht  herumlaufen  in  fremden 
Häusern,  nicht  verweilen  auf  den  Strassen ,  nicht  plaudern  auf 
öffentlichen  Plätzen.  Maria,  zu  Hause  voll  Ernst,  auf  öffentlicher 
Strasse  voll  Eile ,  blieb  bei  ihrer  Verwandten  drei  Monate.  Sie 
war  zu  pflichtgemässer  Pflege  gekommen  und  verharrte  in  der 
Pflicht.  Sie  blieb  drei  Monate,  nicht  weil  das  fremde  Haus  sie  ver¬ 
gnügte,  sondern  weil  sie  nicht  häufiger  auf  öffentlicher  Strasse 
gesehen  werden  wollte. 

»Ihr  habt  die  Züchtigkeit  Mariens  kennen  gelernt,  o  Jungfrauen; 
lernet  nun  auch  ihre  Demuth  kennen.  Die  Verwandte  kam  zu  der 
nächst  Verwandten,  die  jüngere  zu  der  älteren,  sie  kam  nicht  nur, 
sondern  sie  grüsste  auch  zuerst;  denn  eine  Jungfrau  soll,  je  züchtiger 
sie  ist,  auch  um  so  demüthiger  sein.  Sie  muss  die  älteren  zu  ehren 
wissen  ....  Die  Vornehmere  kommt  zu  der  Niedrigeren,  um  der 
Niedrigeren  beizustehen.  Maria  kommt  zu  Elisabeth,  wie  Christus 
zu  Johannes.«  —  In  den  Worten  der  Elisabeth:  »selig  bist  du,  die 
du  geglaubt  hast«  sieht  Ambrosius  einen  weiteren  Reweis,  dass 
»Maria  nicht  gezweifelt,  sondern  geglaubt  und  desswegen  die  Frucht 
ihres  Glaubens  empfangen  habe«. 

Zu  dem  »Magnifikat«  bemerkt  er:  »Es  lobpreiset  die  Seele 
Mariens  den  Herrn  und  es  frohlocket  ihr  Geist  in  Gott,  darum  weil 
sie  mit  Seele  und  Geist  dem  Vater  und  dem  Sohne  sich  aufopfernd, 
den  einen  Gott,  aus  welchem  Alles,  und  den  einen  Herrn,  durch 
welchen  Alles  erschaffen  ist,  mit  frommer  Liebe  verehrt.« 

An  die  Stelle  »Maria  behielt  alle  diese  Worte  (der  Hirten)  und 
überlegte  sie  in  ihrem  Herzen«  knüpft  Ambrosius  die  Betrachtung: 
»Lasst  uns  in  Allem  die  Keuschheit  der  heiligen  Jungfrau  erkennen, 
welche  mit  der  Rede  ebenso  schamhaft  als  mit  dem  Leibe,  die 
Beweise  des  Glaubens  im  Herzen  überlegte.  Wenn  Maria  von  den 
Hirtent  lernt,  warum  vermeidest  du,  von  den  Priestern  zu  lernen. 
Wenn  Maria  vor  der  apostolischen  Lehre  schweigt,  warum  willst 


160 


du  nach  der  apostolischen  Lehre  mehr  lehren  als  lernen?  .  .  .  . 
Und  Maria  empfing-  nicht  eine  Lehre,  sie  gab  ein  Beispiel.« 

Bei  Simeons  Schwert  denkt  er  nicht  an  Glaubensschwäche  oder 
Zweifel.  »Weder  die  Schrift,  sagt  er,  noch  die  Geschichte  lehrt, 
dass  Maria  aus  diesem  Leben  durch  einen  gewaltsamen  Tod  ge¬ 
schieden  sei ;  denn  nicht  die  Seele ,  sondern  der  Körper  wird  durch 
das  Schwert  durchbohrt.  Und  daher  zeigt  (Simeon)  die  Einsicht 
Mariens,  welche  des  himmlischen  Geheimnisses  nicht  unkundig  war. 
,Denn  lebendig  ist  das  Wort  Gottes  und  wirksam  und  schärfer  als 
jedes  zweischneidige  Schwert,  und  dringet  durch,  bis  dass  es  Seele 
und  Geist,  auch  Mark  und  Bein  scheidet,  und  ist  ein  Bichter  der 
Gedanken  und  Gesinnungen  des  Herzens  ^  —  weil  Alles  in  den 
Geistern  nackt  und  offen  daliegt  vor  dem  Gottessohne,  dem  die 
Geheimnisse  des  Gewissens  nicht  entgehen.«  Ambrosius  gewinnt 
also  der  vielbesprochenen  Stelle  durch  Herbeiziehung  eines  Verses 
aus  dem  Hebräerbrief  nicht  einen  Tadel  für  Maria  ab,  sondern 
vielmehr  das  Lob  ihres  Verstandes. 

Wie  Ambrosius  die  Erwiderung  Christi  bei  der  Unterbrechung 
seiner  Predigt  zu  Kapernaum  auslegte ,  ist  schon  oben  gezeigt 
(S.  50).  Hier  ist  nur  noch  beizufügen ,  dass  er  an  einem  andern 
Orte  nochmals  darauf  zurückkommt  und  bemerkt,  Christus  habe  jene 
Worte:  wer  ist  meine  Mutter  u.  s.  w.  gebraucht,  »weil  er  nicht  ge¬ 
kommen  war,  die  Gerechten  zu  berufen,  sondern  die  Sünder« *  2). 

Die  Auslassungen  des  Ambrosius  über  das  Verhalten  Mariens 
unter  dem  Kreuze  sind  ebenfalls  oben  (S.  114  ff.)  schon  mitge- 
theilt  zum  Beweise  ihrer  bräutlich  gebliebenen  Ehe.  Darum  braucht 
nur  darauf  hingewiesen  zu  werden,  wie  er  die  Jungfräulichkeit  ihres 
Herzens,  ihre  höhere  Erkenntniss  der  Mission  ihres  Sohnes,  ihre 
Glaubenskraft,  ihre  Aufopferungswilligkeit,  ihre  Furchtlosigkeit  im 
Vergleich  mit  den  Aposteln  und  ihre  mütterliche  Liebe  auch  dort 
hervorhebt.  Für  letztere  Tugend  ist  ihm  Maria  ebenfalls  ein 
Musterbild,  von  welchem  die  Mütter  die  Selbstaufopferung  bei  Ge¬ 
fahren  ihrer  Kinder  lernen  sollen  3). 

Einzelne  Resultate  seiner  Exegese  führt  Ambrosius  auch  in 
seinen  übrigen  Schriften  auf,  um  verschiedene  Tugenden  Mariens  zu 


‘)  Hebr.  IV,  12. 

2)  Expos.  Ev.  Luc.  lib.  X,  131. 

3)  »Magisterium  pietatis«  Expos,  in  Luc.  lib.  X,  132. 


161 


beleuchten  x);  doch  da  er  dabei  nichts  wesentlich  Neues  bringt,  so 
genügt  es,  diess  einfach  erwähnt  zu  haben  zum  Beweise,  wie  gerne 
er  sich  mit  dem  Gegenstände  beschäftigte. 

Nur  eine  Bemerkung  aus  seiner  ausführlichen  Erklärung  des 
langen  118.  Psalmes  ist  noch  auszuheben.  Er  nennt  dort  ganz 
im  Vorbeigehen  Maria  »die  unversehrte  Jungfrau,  die  Jungfrau, 
welche  durch  die  Gnade  von  jeder  Makel  der  Sünde  frei 
ist« *  2),  und  schliesst  sich  hiemit  den  Anschauungen  des  Epiphanius, 
Gregor  von  Nazianz  und  Ephram  (S.  155)  von  der  Ausnahme 
Mariens  von  der  Sünde  an. 

Auf  Grund  dieser,  an  die  betreffenden  Bibelstellen  geknüpften, 
Betrachtungen  gibt  nun  Ambrosius,  wie  oben  gesagt,  eine  Charakte¬ 
ristik  des  innern  Wesens  Marias  in  seinem  Buch  über  die  Jung¬ 
frauen,  d.  h.  er  trägt  alle  die  Eigenschaften  und  Tugenden,  mit 
welchen  er  seine  Zuhörerinnen  und  Leserinnen  ausgestattet  sehen 
möchte,  auf  den  Namen  Mariens  zusammen. 

»Ein  Bild  der  Jungfräulichkeit  sei  euch  das  Leben  Mariens,  von 
welchem  wie  von  einem  Spiegel  der  Glanz  der  Keuschheit  und  die 
Schönheit  der  Tugend  zurückstrahlt.  Hier  mögt  ihr  Beispiele  des 
Lebens  holen,  wo  die  Grundsätze  der  Tugend,  gleichsam  in  einem 
Musterbild  ausgeprägt,  euch  zeigen,  was  ihr  bessern,  was  ihr  meiden, 
was  ihr  behalten  sollet. 

»Den  besten  Lerneifer  gibt  der  Adel  des  Lehrers.  Was  ist  edler 
als  die  Mutter  Gottes?  was  glänzender  als  diejenige,  welche  der 
Glanz  selbst  erwählt  hat?  was  ist  keuscher  als  die,  welche  einen 
Körper  ohne  körperliche  Berührung  geboren  hat?  Denn  was  soll 
ich  von  ihren  übrigen  Tugenden  sagen?  Jungfrau  war  sie,  nicht 
bloss  körperlich,  sondern  auch  im  Gemüthe,  da  sie  nicht  mit  trügerischen 
Ränken  die  reine  Empfindung  schändete;  sie  war  demtithigen  Herzens, 
ernst  von  Worten,  klugen  Geistes,  sparsam  im  Reden,  fleissig  im 
Lesen ;  sie  setzte  nicht  auf  die  Unzuverlässigkeit  des  Reichthums, 
sondern  auf  das  Gebet  der  Armen  ihre  Hoffnung;  sie  war  eifrig  bei 
der  Arbeit,  sittsam  im  Gespräch,  gewohnt,  nicht  einen  Menschen, 
sondern  Gott  zum  Zeugen  (Richter)  ihrer  Gedanken  zu  wählen;  sie 
verletzte  Niemand,  wollte  Allen  wohl,  war  ehrerbietig  gegen  Aeltere, 


b  Z.  B.  Epist.  49,  2  (Ueber  die  Einsamkeit);  Exbort,  virgin.  G.  X,  71;  De 
offic.  ministr.  I,  e.  18  u.  69  etc. 

2)  Beim  letzten  Vers  des  Ps. 

Lehn  er,  Die  Marien  Verehrung. 


11 


nicht  missgünstig  gegen  die  Gespielen ,  sie  mied  das  Prahlen ,  folgte 
der  Vernunft,  liebte  die  Tugend.  Wann  hat  sie  auch  nur  mit  einem 
Blicke  den  Eltern  wehe  gethan?  wann  hat  sie  sich  mit  den  Ver¬ 
wandten  entzweit?  wann  hat  sie  sich  eines  Niederen  geschämt? 
wann  hat  sie  einen  Gebrechlichen  verlacht?  wann  hat  sie  einem 
Dürftigen  sich  entzogen ,  die  nur  solche  Männerkreise  zu  besuchen 
pflegte,  welche  die  Barmherzigkeit  nicht  zu  scheuen  und  das  Zart¬ 
gefühl  nicht  zu  meiden  brauchte?  Nichts  Freches  war  in  ihren  Augen, 
nichts  Zudringliches  in  ihren  Worten,  nichts  Schamloses  in  ihren 
Geberden.  Ihre  Haltung  war  nicht  weichlich,  ihr  Gang  nicht  aus¬ 
gelassen,  ihre  Stimme  nicht  leichtfertig,  so  dass  das  Aeussere  ihres 
Körpers  ein  Abbild  ihrer  Seele,  ein  Bild  der  Tugend  war  .... 

»Was  soll  ich  von  der  Spärlichkeit  der  Speisen,  von  der  Ueber- 
fülle  der  Andachtsübungen  erzählen!  Letztere  überstiegen  die  natür¬ 
liche  Kraft,  erstere  genügten  kaum  dem  natürlichen  Bedürfniss;  dort 
wurde  keine  Zeit  versäumt,  hier  die  Tage  durch  Fasten  verdoppelt. 
Wenn  das  Verlangen  nach  Erquickung  eintrat,  diente  das  Essen  nur 
zur  Abhaltung  des  Todes,  nicht  zum  Genüsse.  Zum  Schlafen  kam 
die  Lust  erst  mit  der  Noth Wendigkeit,  und  während  der  Körper 
ruhte,  wachte  doch  die  Seele;  diese  wiederholte  häufig  im  Traume 
die  Lektüre  oder  setzte  sie  bei  unterbrochenem  Schlafe  fort,  oder 
führte  einen  Vorsatz  aus  oder  fasste  einen  neuen. 

»Das  Haus  verliess  sie  nur,  um  in  die  Kirche  zu  gehen  und 
auch  das  nur  in  Begleitung  ihrer  Eltern  oder  Verwandten.  Zu  Hause 
in  einsamer  Thätigkeit,  ausser  dem  Hause  in  guter  Begleitung,  hatte 
sie  jedoch  keinen  besseren  Wächter  als  sich  selbst;  in  Gang  und 
Ansprache  verehrungs würdig,  erhob  sie  sich  mit  jedem  Schritte  zu 
einer  höheren  Stufe  der  Tugend.  Jedoch  eine  Jungfrau  mag  andere 
als  Wächter  ihres  Körpers  haben,  ihre  Sitten  wächterin  aber  muss 
sie  selber  sein.  Mehrere  werden  sein,  von  denen  sie  lernen  kann, 
wenn  sie  selbst  sich  lehrt,  sie,  die  die  Tugenden  zu  Lehrerinnen 
hat,  denn  Alles,  was  sie  thut,  ist  Unterweisung.  So  gab  Maria  auf 
Alles  Acht,  als  ob  sie  von  Mehreren  erinnert  würde;  so  erfüllte  sie 
alle  Pflichten  der  Tugend,  so  dass  sie  nicht  so  fast  lernte  als  lehrte. 

»So  beschaffen  hat  Maria  der  Evangelist  gezeigt,  so  beschaffen 
hat  sie  der  Engel  erfunden,  so  beschaffen  hat  sie  der  heilige  Geist 
erwählt.  Was  soll  ich  bei  Einzelheiten  verweilen,  wie  dass  die  Eltern 
sie  geliebt,  dass  die  Fremden  sie  gepriesen  haben,  sie,  die  würdig 
war,  den  Sohn  Gottes  zu  gebären?  Sie  befand  sich  beim  Eintritt  des 


163 


Engels  selbst  zu  Hause  in  ihrem  Gemache  ohne  Gesellschaft,  damit 
Niemand  ihre  gespannte  Aufmerksamkeit  störe  und  unterbreche; 
denn  sie  begehrte  keine  Frauen  zu  Gesellschafterinnen,  da  sie  gute 
Gedanken  zu  Gesellschaftern  hatte.  Ja  sie  kam  sich  am  wenigsten 
allein  vor,  wenn  sie  allein  war.  Denn  wie  sollte  sie  allein  gewesen 
sein,  da  so  viele  Bücher  bei  ihr  waren,  so  viele  Erzengel,  so  viele 
Propheten  ? 

»Kurz,  Gabriel  fand  sie  da,  wo  er  sie  zu  besuchen  gewohnt  war. 
Vor  dem  Engel  bebte  Maria  anfänglich  zurück,  weil  sie  ihn  für  einen 
Mann  hielt;  nachdem  sie  aber  seinen  Namen  gehört  hatte,  behandelte 
sie  ihn  als  Bekannten.  So  war  sie  fremd  mit  dem  Manlie,  aber 
nicht  fremd  mit  dem  Engel;  da  sieht  man  die  scheuen  Ohren,  die 
züchtigen  Augen.  Nach  dem  Grusse  verstummt  sie,  auf  die  Anrede 
antwortet  sie;  zuerst  war  ihr  Gemüth  verwirrt,  nachher  verspricht 
sie  Gehorsam. 

»Wie  zart  sie  gegen  die  Verwandten  war,  zeigt  die  heilige  Schrift. 
Denn  sie  wurde  nicht  nur  demüthiger,  als  sie  sich  von  Gott  aus¬ 
erwählt  sah,  sondern  sie  eilte  auch  sofort  zu  ihrer  Verwandten  ins 
Gebirge,  gewiss  nicht  um  erst  dem  Beispiel  zu  glauben,  da  sie  be¬ 
reits  der  Offenbarung  geglaubt  hatte;  ,denn  glückselig  bist  du,  heisst 
es,  dass  du  geglaubt  hast.4  Und  drei  Monate  blieb  sie  bei  ihr.  In 
so  langer  Zeit  wird  nicht  der  Glaube  gesucht,  sondern  die  Liebe 
bethätigt  .... 

»Als  so  viele  Zeichen  sich  folgten,  als  die  Unfruchtbare  gebar, 
die  Jungfrau  empfing,  der  Stumme  sprach,  der  Magier  anbetete, 
Simeon  (das  Heil)  erwartete,  die  Sterne  (es)  verkündeten,  bewahrte 
Maria  ....  alles  diess  in  ihrem  Herzen.  Obwohl  Mutter  des  Herrn, 
begehrte  sie  doch  die  Lehren  des  Herrn  zu  lernen,  und  sie,  die  Gott 
geboren  hatte,  wünschte  doch  Gott  zu  erkennen. 

»Alle  Jahre  ging  sie  nach  Jerusalem  am  Passahfeste  und  ging 
mit  Joseph.  Ueberall  bei  einer  Jungfrau  ist  die  Begleiterin  aller 
Tugenden  die  Züchtigkeit.  Diese  ist  unzertrennlich  von  der  Jung¬ 
fräulichkeit,  ohne  sie  kann  die  Jungfräulichkeit  nicht  bestehen.  Nicht 
einmal  zum  Tempel  also  ging  Maria  ohne  den  Behüter  ihrer  Züch¬ 
tigkeit. 

»Maria  ist  das  Bild  der  Jungfräulichkeit.  Denn  Maria  war  so 
beschaffen,  dass  ihr  Lehen  allein  allen  zum  Muster  dient.  Wenn 
nun  die  Urheberin  nicht  missfällt,  so  lasst  uns  auch  ihr  Werk  gut¬ 
heissen;  jede,  welche  ihren  Lohn  sich  wünscht,  ahme  ihr  Beispiel 


164 


nach.  Wie  viele  Tugendarien  strahlen  in  der  Einen  Jungfrau  her¬ 
vor!  Die  Eingezogenheit  der  Sittsamkeit,  die  Fahne  des  Glaubens, 
der  Gehorsam  der  Gottergebenheit;  Jungfrau  innerhalb  des  Hauses, 
Gefährtin  zum  Gottesdienste,  Mutter  beim  Tempel«  u.  s.  w.  *) 

Als  Musterbild  der  Weiblichkeit  erscheint  Maria  auch  bei 
Hieronymus  und  Sulpicius  Severus. 

Ersterer  schreibt  a.  384  an  seine  Schülerin  Eustochium:  »Nimm 
dir  die  heilige  Maria  als  Beispiel,  welche  von  so  grosser  Reinheit 
war,  dass  sie  Mutter  des  Herrn  zu  sein  verdiente  2).«  Er  führt  diess 
dann  weiter  aus  durch  eine  dem  Ambrosius  sehr  ähnliche  Er¬ 
läuterung  der  Verkündigungsscene,  worauf  er  auch  in  andern 
Briefen  zurückkommt  3).  Und  in  seinem  Dialog  gegen  die  Pelagianer 
(geschrieben  415)  sagt  er;  »Elisabeth  und  Zacharias  können  uns 
lehren,  wie  tief  sie  an  Heiligkeit  unter  der  seligen  Maria,  der  Mutter 
des  Herrn,  stehen,  welche  im  Bewusstsein,  dass  Gott  in  ihr  wohnt, 
frei  ausruft:  Von  nun  an  werden  alle  Geschlechter  selig  mich  preisen; 
denn  Grosses  hat  an  mir  gethan  der  Mächtige  u.  s.  w.  Beachte 
hiebei  wohl,  dass  sie  sich  selig  nennt  nicht  durch  eigenes  Verdienst 
und  durch  eigene  Tugend,  sondern  durch  die  Gnade  Gottes,  der  in 
ihr  Wohnung  nahm  4).« 

Der  letztere  bemerkt:  »Christus  habe  in  seiner  Mutter  den  Frauen 
ein  Beispiel  der  Jungfräulichkeit  gegeben«  und  »eine  Jungfrau,  welche 
sündige,  sei  der  Eva,  nicht  der  Maria  zu  vergleichen«  5). 

Gaudentius  von  Brescia  hebt  hauptsächlich  die  intellektuelle 
Seite  des  inneren  Wesens  Marias  hervor.  Bei  der  Begebenheit  zu 
Kana  findet  er  ihre  tiefe  Einsicht  in  das  Wesen  und  die  Aufgabe 
ihres  Sohnes  bethätigt. 

Die  Antwort  Christi  an  Maria  nemlich:  Was  habe  ich  mit  dir 
zu  schaffen  u.  s.  w.  hat  einen  mystischen  Sinn.  Unter  dem  Wein, 
den  die  Hochzeitsleute  nicht  haben,  ist  der  heilige  Geist  zu  verstehen, 
den  Christus  erst  nach  seinem  Tode  schicken  konnte.  Christus  will 
also  mit  seiner  Antwort  sagen:  »Was  ist  deine  Erinnerung  so  vor- 


x)  De  virgin.  üb.  II,  c.  11,  n.  6  ff. 

2)  Ep.  22. 

3)  Z.  B.  Ep.  108.  Andere  Stellen  des  Hieron.,  z.  B.  Ep.  18  ad  Eustocb., 
ep.  57  ad  Laetum  u.  s.  w.  bringen  nichts  Neues. 

4)  Dial.  adv.  Belag.  I,  n.  17. 

Ä)  Ep.  II,  ad  sororem,  Gallandi  T.  VIII,  p.  422  u.  424.  Doch  wird  dieser 
Brief  von  Einigen  bezweifelt. 


165 


schnell,  o  Weib,  da  die  Stunde  meines  Leidens  noch  nicht  gekommen 
ist?  ...  .  Nach  meinem  Leiden  und  meiner  Auferstehung,  wenn 
ich  zum  Vater  zurückgekehrt  sein  werde,  dann  wird  ihnen  der  Wein 
des  heiligen  Geistes  gegeben  werden.  Aus  diesem  Grunde  hat  auch 
die  Seligste  (beatissima)  selber  in  richtiger  Erkenntniss  des  tiefen 
Geheimnisses  dieser  Antwort  eingesehen ,  dass  ihre  gegenwärtige 
Erinnerung  nicht  mit  Verachtung  aufgenommen  worden  sei  ...  . 
Uebrigens  hätte  sie  den  Dienern  niemals  aufgetragen:  »was  er  euch 
sagt,  das  thut«,  wenn  sie  nicht  nach  der  göttlichen  Geburt,  des 
heiligen  Geistes  voll,  sowohl  den  Sinn  der  Antwort  Christi  verstanden, 
als  auch  den  ganzen  Zusammenhang  seiner  Verwandlung  des  Wassers 
in  Wein  vorausgesehen  hätte.  Was  wäre  denn  verborgen  der  Mutter 
der  Weisheit,  der  Empfängerin  Gottes,  dem  würdigsten  Hause  so 
grosser  Tugend  x)?  .  .  .  .« 

Im  Einklang  mit  der  Ueberzeugung  von  der  tiefen  Einsicht 
Mariens  in  die  göttlichen  Geheimnisse  steht  dann  auch  der  Glaube 
einiger  Kirchenväter,  dass  sie  die  Prophetengabe  besessen  habe. 
Schon  Irenäus  lässt  sie  im  »Magnifikat«  prophezeien *  2);  Ambrosius 
sagt:  »nicht  leicht  finden  wir  eine,  welche  reichlicher  prophezeit 
hätte,  als  die  Mutter  des  Herrn«;  und  Epiphanius  3)  und  Hieronymus 
erkennen  in  der  Stelle  des  Jesaias:  »ich  nahte  mich  der  Prophetin«  4) 
den  Beweis  dafür.  Letzterer  meint  in  seinem  Jesaiascommentar: 
»Einige  verstehen  unter  der  Prophetin  die  heilige  Maria.  Und  es 
ist  auch  kein  Zweifel,  dass  sie  eine  Prophetin  gewesen  sei,  denn  sie 
selbst  spricht  im  Evangelium:  siehe,  von  nun  an  werden  alle  Ge¬ 
schlechter  u.  s.  w.  5)«  Auch  Augustinus  schliesst  sich  hierin 
diesen  Vorgängern  an6). 

Ueberhaupt  aber  fusst  der  grosse  Kirchenlehrer  in  Betreff  des  ge- 
sammten  inneren  Wesens  Mariens  ganz  auf  den  Anschauungen  seines 
Lehrers  Ambrosius.  Wenn  er  auch  keine  zusammenhängende  Charak¬ 
teristik  gibt,  wie  jener,  so  spricht  er  doch  häufig  von  den  Haupt¬ 
tugenden  Mariens.  Insbesondere  preist  er  ihren  Glauben ,  ihren 
Gehorsam,  ihre  Demuth;  ist  überzeugt,  dass  sie  von  vornherein,  ehe  sie 


x)  Sermo  9. 

2)  Haer.  III,  10,  2. 

3)  Haer.  30,  31. 

4)  Is.  VIII,  3. 

5)  Coram.  in  Is.  üb.  III,  c.  8. 

6)  De  civ.  Dei  lib.  XVII,  c.  24. 


166 


ihre  hohe  Bestimmung  ahnte,  das  Gelübde  der  Keuschheit  abgelegt  habe, 
und  lehrt  endlich  ihre  völlige  Sündenlosigkeit  in  ganz  unzweideutiger 
Weise.  Um  sein  Verfahren,  hauptsächlich  um  den  Ton  seines  Vor¬ 
trags  zu  zeigen,  wollen  wir  einige  Hauptstellen  aus  seinen  Werken 
ausheben.  In  einer  seiner  Predigten  sagt  er  z.  B.:  »Die  selige 
Maria  hat  den,  welchen  sie  durch  Glauben  gebar-,  durch  Glauben 
empfangen.«  Mit  ihrer  Frage  an  den  Engel:  wie  wird  das  geschehen 
u.  s.  w.,  habe  sie  sich  bloss  nach  der  Art  und  Weise  erkundigt. 
Auf  seine  Antwort:  der  heilige  Geist  wird  dich  überschatten  u.  s.  w. 
»hat  sie,  des  Glaubens  voll,  Christus  früher  im  Geiste  als  im 
Leibe  empfangen«  x). 

In  zwei  andern  Reden  wird  die  Verkündigung  an  Zacharias  mit 
der  Verkündigung  an  Maria,  insbesondere  die  Frage  des  erstem  mit 
der  Frage  der  letztem  an  den  Engel  verglichen.  Es  wird  zugegeben, 
dass  eine  äussere  Aehnlichkeit  bestehe,  aber  eine  innere  Verschieden¬ 
heit  gezeigt.  »Zacharias  fragte  in  Verzweiflung,  Maria  um  sich  zu 
belehren«,  »die  Worte  lauten  ähnlich,  die  Herzen  waren  unähnlich«, 
jener  glaubte  nicht,  diese  glaubte.  Es  wird  dann  fortgefahren:  »Wie 
soll  dieses  geschehen,  da  ich  keinen  Mann  erkenne?  Da  seht  ihr 
den  Vorsatz  der  Jungfrau.  Wann  würde  eine,  die  sich  mit  dem 
Manne  vereinigen  wollte,  sagen:  wie  wird  dieses  geschehen?  Denn 
wenn  es  geschehen  sollte,  wie  es  bei  allen  Kindern  zu  geschehen 
pflegt,  so  würde  sie  nicht  sagen :  wie  wird  es  geschehen.  Aber  jene, 
ihres  Vorsatzes  eingedenk  und  ihres  heiligen  Gelübdes  bewusst, 
stellte,  weil  sie  die  Bedeutung  ihres  Gelübdes  kannte,  die  Frage 
nach  dem  Wie.  Sie  wusste,  dass  nur  verehelichte  und  ihren  Männern 
beiwohnende  Frauen  Söhne  gebären,  was  sie  selbst  nicht  kennen 
zu  lernen  sich  vorgenommen  hatte,  und  fragte  darum  nach  der  Art 
und  Weise,  zweifelte  aber  nicht  an  Gottes  Allmacht.  Was  ist  das 
für  eine  Art  und  Weise,  nach  welcher  diess  geschehen  wird?  Du 
verkündigest  mir  einen  Sohn,  meine  Seele  ist  bereit,  aber  sag  mir 
die  Art  und  Weise.  Es  konnte  die  heilige  Jungfrau  den  Rathschluss 
Gottes,  nach  welchem  sie  einen  Sohn  haben  sollte,  fürchten  oder 
doch  missverstehen ,  gleich  als  wenn  er  ihr  Gelübde  der  Jungfrau¬ 
schaft  missbilliget  hätte.  Wie  denn,  wenn  der  Engel  sagen  würde: 
Heirathe,  verbinde  dich  mit  dem  Manne!  Es  war  diess  allerdings 


Ü  Sermo  215,  4.  Den  Glauben  Mariens  preist  Augustin  auch  Sermo  69,  c.  2; 
214;  Quaest.  in  heptat.  IV,  19;  de  peccat.  mer.  II,  c.  24;  contra  Faust.  XXIX,  4  u.  s.  vv. 


167 


nicht  zu  besorgen,  denn  Gott  hatte  das  Gelübde  der  Jungfrau  an¬ 
genommen:  er  hatte  es  angenommen,  weil  er  selbst  es  gewährt 
hatte.  Sag  mir  also,  Bote  Gottes,  wie  wird  dieses  geschehen?  Ihr 
seht,  der  Engel  weiss  es,  jene  fragt,  zweifelt  aber  nicht.  Weil  also 
der  Engel  sie  fragen,  aber  nicht  zweifeln  sah,  verweigerte  er  seine 
Auskunft  nicht.  Höret  wie.  Deine  Jungfräulichkeit  wird  fortbestehen, 
glaube  du  nur  die  Wahrheit,  erhalte  die  Jungfräulichkeit,  empfange 
die  Unverletztheit.  Weil  dein  Glaube  unverletzt  ist,  wird  auch  deine 
Keuschheit  unangetastet  sein.  Höre  also,  wie  diess  geschehen  wird. 
Der  heilige  Geist ....  überschatten.  Eine  solche  Ueberschattung 
kennt  den  Brand  der  Lust  nicht,  desswegen  weil  ....  du  durch 
Glauben  empfängst,  weil  du  durch  Glauben,  nicht  durch  Beiwohnen 
schwanger  sein  wirst  .  .  .  .« 

Nach  dieser  Paraphrasirung  des  Verkündigungsdialogs  apo- 
strophirt  Augustinus  die  Jungfrau  folgendermassen :  »Was  bist  du, 
die  du  nachher  gebären  wirst?  Woher  hast  du  es  verdient,  woher 
hast  du  dieses  empfangen,  woher  wird  der  in  dir  werden,  der  dich 
erschaffen  hat,  woher,  frag’  ich,  wird  dir  ein  so  grosses  Gut  zu 
Theil?  Du  bist  Jungfrau,  du  bist  heilig,  du  hast  ein  Gelübde  ge- 
than;  viel  ist,  was  du  verdient  hast,  aber  sehr  viel  ist,  was  du 
empfangen  hast.  Woher  hast  du  dieses  verdient?  Es  wird  in  dir 
derjenige,  durch  welchen  du  erschaffen  worden  bist,  ja  durch 
welchen  Himmel  und  Erde,  durch  welchen  Alles  erschaffen  worden 
ist.  Es  wird  in  dir  das  Wort  Gottes  Fleisch,  indem  er  das  Fleisch 
annimmt,  die  Gottheit  nicht  verliert.  Und  das  Wort  wird  mit  dem 
Fleisch  verbunden,  und  das  Wort  wird  mit  dem  Fleisch  vermählt, 
und  das  Brautgemach  dieser  so  hohen  Vermählung  ist  dein  Leib,  da¬ 
her  es  heisst:  der  Bräutigam  geht  hervor  aus  seinem  Brautgemach  *). 
Es  findet  dich  als  Jungfrau  der  Empfangene,  es  entlässt  dich  als 
Jungfrau  der  Geborene.  Er  gibt  Fruchtbarkeit  und  hebt  nicht  auf 
die  Unversehrtheit.  Woher  dir  das?  Frech  scheineich  die  Jungfrau 
zu  fragen  und  fast  unverschämt  die  züchtigen  Ohren  durch  meine 
Worte  zu  erschüttern.  Aber  ich  sehe  die  Jungfrau  erröthen  und 
doch  antworten  und  mich  erinnern:  Du  fragst,  woher  mir  das? 
Ich  scheue  mich,  dir  das  mir  gewordene  Gut  zu  rühmen.  Höre 
den  Gruss  des  Engels  und  erkenne  in  mir  dein  Heil.  Glaube,  dem 
ich  geglaubt  habe.  Woher  mir  das,  fragst  du?  der  Engel  mag 


J)  Ps.  18,  6. 


168 


antworten.  Sag  mir,  Engel,  woher  hat  Maria  das?  Ich  habe  es 
schon  gesagt  mit  dem  Grusse:  sei  gegrüsst;  voll  der  Gnaden1).« 

In  seinem  Buch  »über  die  heilige  Jungfräulichkeit«  (geschrieben 
ca.  401)  behandelt  Augustinus  dasselbe  Thema,  nur  in  etwas  andern 
Wendungen.  »Glückseliger  war  Maria  dadurch,  dass  sie  den  Glauben 
an  Christus  erfasste ,  als  dadurch ,  dass  sie  das  Fleisch  Christi 
empfing  ....  Die  mütterliche  Verwandtschaft  hätte  Maria  nichts 
genützt,  wenn  sie  Christum  nicht  glücklicher  im  Herzen,  als  im 
Fleische  getragen  hätte  .  .  .  .« 

»Ihre  Jungfräulichkeit  war  desswegen  um  so  wohlgefälliger  und 
willkommener,  weil  Christus  durch  seine  Empfängniss  dieselbe  nicht 
der  Verletzung  durch  einen  Mann  entzog,  um  sie  zu  erhalten,  sondern 
vor  seiner  Empfängniss  eine  schon  Gott  geweihte  Jungfrau  erwählte, 
um  von  ihr  geboren  zu  werden.  Das  zeigen  die  Worte  an,  welche 
Maria  dem  Verkündigungsengel  erwiderte.  Wie  wird  dieses  ge¬ 
schehen  ....  So  würde  sie  wahrhaftig  nicht  sprechen,  wenn  sie 
nicht  vorher  schon  sich  Gott  als  Jungfrau  geweiht  hätte.  Aber 
weil  dieses  die  Sitten  der  Israeliten  noch  nicht  gestatteten,  wurde 
sie  einem  gerechten  Manne  verlobt,  der  das,  was  sie  schon  gelobt 
hatte,  nicht  mit  Gewalt  ihr  entreissen,  sondern  vielmehr  gegen  jede 
Gewalt  schützen  würde  ....  Es  hätte  ihr  ja  auch  (von  Gott) 
befohlen  werden  können,  Jungfrau  zu  verbleiben,  damit  Gottes 
Sohn  in  ihr  durch  ein  entsprechendes  Wunder  Knechtsgestalt  an¬ 
nehme;  aber  um  heiligen  Jungfrauen  zum  Beispiel  zu  werden  und 
nicht  den  Schein  auf  sich  zu  laden,  dass  sie  allein  hätte  Jungfrau 
sein  müssen,  die  auch  ohne  Beiwohnung  ein  Kind  zu  empfangen 
verdient  hätte,  hat  sie  ihre  Jungfrauschaft  Gott  geweiht,  als  sie 
noch  nicht  wusste,  was  sie  empfangen  werde,  damit  in  einem 
irdischen  und  sterblichen  Körper  die  Nachahmung  himmlischen 
Lebens  durch  ein  freies  Gelübde  werde,  nicht  durch  einen 
Befehl,  durch  die  Liebe  des  Wählens,  nicht  durch  die  Nothwendig- 
keit  des  Müssens  2)  .  .  .  .« 

»Die  Jungfrauen  Gottes  haben  also  keinen  Grund,  zu  trauern, 
weil  sie  durch  Erhaltung  ihrer  Jungfräulichkeit  nicht  Mütter  dem 
Fleische  nach  werden  können.  Denn  jenen  allein  konnte  die  Jung¬ 
fräulichkeit  schicklicher  Weise  gebären,  welcher  in  seiner  Geburt 


b  Sermo  290  u.  291  in  natal.  Joh.  Bapt. 

2)  Ueber  das  Keuschheitsgelübde  vgl.  auch  Sermo  225,  c.  2. 


169 


keinen  gleichen  haben  konnte.  Doch  jene  einzige  Geburt  der  heiligen 
Jungfrau  ist  eine  Zierde  aller  heiligen  Jungfrauen.  Auch  sie  sind 
mit  Maria  Mütter  Christi,  wenn  sie  den  Willen  seines  Vaters  thun. 
Denn  aus  diesem  Grunde  ist  auch  Maria  viel  glorreicher  und  glück¬ 
seliger  Christi  Mutter  nach  dem  Ausspruch:  wer  immer  den  Willen 
meines  Vaters  thut,  der  im  Himmel  ist,  ist  mir  Bruder,  Schwester 
und  Mutter  *).  Alle  diese  Verwandtschaften  erwirbt  er  sich  geistiger 
Weise  in  dem  Volke,  welches  er  erlöst  hat;  zu  Brüdern  und  Schwestern 
hat  er  die  heiligen  Männer  und  Frauen,  weil  sie  beim  himmlischen 
Erbe  seine  Miterben  sind.  Seine  Mutter  ist  die  ganze  Kirche,  weil 
sie  seine  Glieder,  d.  h.  die  an  ihn  Glaubenden  durch  Gottes  Gnade 
ja  selbst  gebiert.  Dessgleichen  ist  seine  Mutter  auch  jede  fromme 
Seele,  welche  den  Willen  seines  Vaters  thut,  durch  die  fruchtbare 
Liebe  in  denen,  welche  sie  gebiert,  bis  er  selber  in  ihnen  gebildet 
wird  2).  Maria  also  ist,  indem  sie  den  Willen  Gottes  thut,  körper¬ 
lich  nur  Mutter  Christi,  geistig  aber  sowohl  seine  Schwester  als 
seine  Mutter  3).« 

Auf  die  Tugend  des  Gehorsams,  die  »den  Willen  des  Vaters 
thut«,  kommt  Augustinus  öfters  zurück.  So  unterlässt  er  nicht  bei 
den  Worten  Christi  »ja  glücklich  diejenigen ,  welche  das  Wort 
Gottes  hören  und  beobachten«  die  Anmerkung  zu  machen:  »das 
will  sagen :  auch  meine  Mutter ,  welche  ihr  glücklich  preiset ,  ist 
darum  glücklich,  weil  sie  das  Wort  Gottes  beobachtet,  nicht  weil 
in  ihr  das  Wort  Fleisch  geworden  ist  ...  .,  sondern  weil  sie  das 
Wort  Gottes  selbst,  durch  welches  sie  gemacht  ist  und  welches  in 
ihr  Fleisch  geworden  ist,  beobachtet 4).« 

Ihre  Demuth  erkennt  er  auch  in  der  formellen  Unterordnung 
unter  ihren  Mann.  »Es  darf,  sagt  er,  insbesondere  wegen  der  Zucht 
der  Frauen,  unserer  Schwestern,  die  heilige  Bescheidenheit  der  Jung¬ 
frau  Maria  nicht  übergangen  werden.  Sie  hatte  verdient,  den  Sohn 
des  Höchsten  zu  gebären,  und  war  doch  die  demüthigste  und  gab 
sich  nicht  einmal  in  der  Reihenfolge  des  Namens  den  Vorrang  vor 
ihrem  Manne,  so  dass  sie  gesagt  hätte  ,ich  und  dein  Vater1,  sondern 
,dein  Vater  und  ich‘  sagte  sie.  Sie  legte  nicht  das  Gewicht  auf 


9  Matth.  XII,  50. 

2)  Galat.  IV,  19. 

3)  De  sancta  virginitate  3,  4,  5. 

4)  In  evang.  Joh.  cap.  2,  tract.  X,  3. 


170 


die  Würde  ihres  Mutterleibes,  sondern  auf  den  Rang  in  der  Ehe. 
Denn  Christus,  der  Demüthige,  hätte  seine  Mutter  nicht  gelehrt, 
stolz  zu  sein.  Dein  Vater  und  ich  suchten  dich  mit  Schmerzen, 
dein  Vater  und  ich,  sagte  sie,  weil  der  Mann  des  Weibes  Haupt  ist x).« 

Die  völlige  Sündenlosigkeit  Mariens  endlich  lehrt  Augustin 
in  seinem  Buch  über  die  Natur  und  Gnade  gegen  Pelagius  (geschr.  415). 
Pelagius  hatte  nemlich  behauptet,  eine  grosse  Anzahl  »Gerechter« 
von  Abel  bis  Joseph,  dem  Verlobten  Marias,  hätten  ohne  Sünde  ge¬ 
lebt  und  dann  »auch  die  Mutter  unseres  Herrn  und  Heilandes  selbst, 
von  welcher  die  fromme  Liebe  (pietas)  annehmen  müsse,  dass  sie 
ohne  Sünde  gewesen  sei«.  Hierauf  erwidert  Augustin:  »die  heilige 
Jungfrau  Maria  nehme  ich  aus,  welche  wegen  der  Ehre  Gottes  gar 
nicht  in  Frage  kommen  kann,  wenn  es  sich  um  die  Sünde  handelt. 
Denn  wir  wissen,  dass  ihr  mehr  Gnade  (als  allen  übrigen  Menschen) 
zu  theil  geworden  ist,  um  die  Sünde  in  jeder  Beziehung  zu  besiegen, 
da  sie  verdient  hat,  denjenigen  zu  empfangen  und  zu  gebären,  von 
welchem  bekannt  ist,  dass  er  keine  Sünde  gehabt  habe.  Diese 
Jungfrau  also  ist  ausgenommen  .  .  .  . *  2)«  — 

Mit  der  Ausnahme  von  der  allgemeinen  Sündhaftigkeit,  wie  sie 
sich  in  der  zweiten  Hälfte  des  vierten  Jahrhunderts  zuerst  ange¬ 
deutet  oder  in  allgemeinere  Ausdrücke  gefasst,  im  Anfang  des 
fünften  aber  förmlich  und  unzweideutig  ausgesprochen  darstellt,  hat 
sich  die  Vorstellung  von  dem  Geistesleben  Mariens  vollendet.  Sie 
ist  auch  hierin  dem  Menschenmaasse  entwachsen,  sie  ist  Ideal  ge¬ 
worden. 

Ihre  geistige  Höhe  wird  einerseits  durch  die  göttliche  Gnade, 
die  ihr  nicht  bloss  eine  bevorzugte  Naturanlage  verlieh,  sondern  sie 
auch  durch  specielle  Akte  unterstützte,  andererseits  durch  ihr  eigenes 
Verdienst  bedingt. 

Ihre  Intelligenz  ist  nicht  durch  glänzende  weltliche  Weisheit 
repräsentirt,  sondern  sie  ist  die  Weisheit  des  Gläubigen,  dem 
weltliches  Wissen  Thorheit  ist ;  sie  ist  die  Einsicht  in  die  Geheim¬ 
nisse  der  Religion.  Ihr  Charakter  ist  die  personificirte  Tugend. 

Diese  Vorstellung  von  ihrer  intellektuellen  und  sittlichen  Voll¬ 
kommenheit  hat  sich,  wie  wir  gesehen  haben,  auch  nur  allmälig 


J)  Sermo  51  de  concord.  Matth,  et  Luc.  C.  XI,  18. 

2)  De  nat.  et  grat.  c.  36.  Die  Stelle  bat  ihre  Schwierigkeiten ,  auch  ver¬ 
schiedene  Lesearten.  Im  Sinne  glauben  wir  nicht  geirrt  zu  haben. 


171 


gebildet.  Sie  hat  sich  zwar  nicht  gerade  durch  Kämpfe  mit  gegen¬ 
teiligen  Aufstellungen  hindurchzuarbeiten  und  in  denselben  zu 
befestigen  gehabt,  wie  die  Vorstellung  von  ihren  körperlichen 
Eigenschaften,  aber  es  ist  unverkennbar,  dass  die  mehr  realistische 
Anschauung  von  ihrem  geistigen  Wesen,  welche  an  gewissen  mensch¬ 
lichen  Unvollkommenheiten  keinen  Anstoss  nahm,  doch  wohl  auch 
im  Zusammenhang  mit  den  angedeuteten  Kämpfen  in  den  Hinter¬ 
grund  trat  und  der  idealistischen  Anschauung  das  Feld  räumte. 
Das  geht  schon  daraus  hervor,  dass  dieselben  Gewährsmänner, 
welche  ihre  körperliche  Ausnahmestellung  verteidigen,  auch  ihre 
geistige  Vollkommenheit  verkündigen. 

Ein  kurzer  Rückblick  auf  die  Entwickelung  zeigt  uns,  dass 
auf  Grundlage  der  biblischen  Stellen  zuerst  und  von  Anfang  an 
ihr  Glaube  und  Gehorsam  —  die  Fundamentaleigenschaften  des 
Christen  —  gepriesen  werden.  Hiezu  gesellt  sich  die  nicht  minder 
ächt  christliche  Tugend  der  Demuth.  Dann  wird  ihr  Wesen  mehr 
im  Einzelnen  entfaltet.  Es  wird  nach  der  intellektuellen  Seite  hin 
ihr  Verstand,  ihre  Einsicht,  Klugheit,  Lernbegierde  hervorgehoben; 
nach  der  moralischen  Seite  hin  ihr  Verhalten  zu  Gott  durch  ihre 
Gottergebenheit,  Frömmigkeit,  Andächtigkeit;  ihr  Verhalten  zu  Andern 
durch  ihre  Bescheidenheit,  Leutseligkeit,  Verträglichkeit,  Dienstbe¬ 
flissenheit,  Wohlthätigkeit,  Opferwilligkeit,  Selbstlosigkeit:  ihr  Ver¬ 
halten  in  Beziehung  auf  sich  selbst  durch  ihre  Eingezogenheit, 
Züchtigkeit,  Sittsamkeit,  Keuschheit,  Schweigsamkeit,  Arbeitsamkeit, 
asketische  Strenge  charakterisirt.  Insbesondere  wird  die  Jungfräu¬ 
lichkeit  ihrer  Seele  mit  zarten  Farben  ausgemalt  und  das  Verdienst 
derselben  dadurch  erhöht,  dass  sie  eine  bewusste,  durch  das  Keusch¬ 
heitsgelübde  von  vornherein  geheiligte  und  geweihte  Qualität  ist. 
Das  gesammte  innere  Leben  wird  schliesslich  durch  die,  einer  be¬ 
sonderen  göttlichen  Begnadigung  verdankte,  Sündenlosigkeit  gekrönt 
und  hiemit  in  eine  höhere,  überirdische  Sphäre  erhoben.  — 


Antheil  am  Erlösungswerke. 


Als  Christi  Mutter  hat  Maria  auch  ihr  Theil  an  dem  Werke 
ihres  Sohnes,  an  dem  Erlösungswerke. 

Schon  das  Evangelium  legt  den  Gedanken  nahe.  Bei  Matthäus 
verkündet,  der  Engel  dem  Joseph,  dass  der  Sohn  Mariens  Jesus 
(d.  h.  Heiland,  Erlöser)  genannt  werden  müsse,  weil  er  sein  Volk 
erlösen  werde.  Bei  Lukas  befiehlt  Gabriel  der  Jungfrau  selbst,  sie 
solle  ihren  Sohn  Jesus  nennen.  Ist  damit  der  passive  Antheil  an 
dem  Werke  des  Sohnes  wenigstens  angedeutet,  so  lässt  sich  ebenso 
die  Aktivität,  welche  in  der  gehorsamen  Zustimmung  der  Jungfrau 
—  »sieh,  ich  bin  eine  Magd  des  Herrn  u.  s.  w.«  —  hegt,  auch  auf 
die  Mission  des  Sohnes  erstrecken. 

Von  den  Kirchenvätern  werden  diese  Consequenzen  in  ziemlich 
früher  Zeit  gezogen.  Der  älteste,  der  den  Gedanken  bereits  in  seiner 
ganzen  Prägnanz  ausspricht,  ist  Irenäus.  Wir  müssen  hier  auf  die 
inhaltschweren  Stellen,  die  wir  im  ersten  Abschnitt  (S.  29)  mitzu- 
theilen  hatten,  noch  einmal  zurückkommen.  Wie  man  sich  erinnert, 
wird  dort  (wie  auch  schon  bei  Justin)  Maria  der  Eva  gegenüber¬ 
gestellt  und  gesagt:  »Eva  sei  für  sich  und  das  ganze  Menschen¬ 
geschlecht  zur  Ursache  des  Todes,  Maria  aber  für  sich  und  das  ganze 
Menschengeschlecht  zur  Ursache  des  Heiles  geworden.«  Und  nach 
dem  wunderlichen  Bild  mit  den  Knoten  kommt  der  Satz:  »der 
Knoten  des  Ungehorsams  der  Eva  habe  seine  Lösung  erhalten  durch 
den  Gehorsam  Mariens«  und  »was  Eva  durch  Unglauben  gebunden 
habe,  habe  Maria  durch  Glauben  gelöst«.  Eine  dritte  Wendung  be¬ 
sagt:  »Wie  jene  durch  die  Rede  des  Engels  (des  bösen  Engels,  der 
Schlange)  verführt  worden  ist,  Gott  zu  entfliehen  durch  Uebertretung 
seines  Wortes;  so  erhielt  auch  diese  durch  die  Rede  des  Engels  die 
gute  Botschaft,  dass  sie  Gott  tragen  sollte,  indem  sie  seinem  Worte 


173 


gehorchte.  Wie  jene  Gott  ungehorsam  war,  so  Hess  sich  diese  zum 
Gehorsam  gegen  Gott  rathen,  damit  die  Jungfrau  Maria  die  Bei- 
steherin  der  Jungfrau  Eva  werde.  Und  wie  das  Menschengeschlecht 
durch  eine  Jungfrau  an  den  Tod  gefesselt  ist,  so  wird  es  durch  eine 
Jungfrau  errettet,  indem  jungfräulicher  Ungehorsam  durch  jungfräu¬ 
lichen  Gehorsam  aufgewogen  wird  1).«  Diese  Aeusserungen  dürfen 
natürlich  nicht  missverstanden  werden.  Für  Irenäus  ist  begreiflich, 
wie  für  alle  Kirchenväter,  Christus  der  Erlöser.  Dass  aber  hier  der 
Mutter  Christi  ein  gewisser  Antheil  an  dem  Werke  ihres  Sohnes 
zugesprochen  wird,  ist  nicht  zu  verkennen.  Dieser  Antheil  ist  zu¬ 
nächst  passiv  und  besteht  eben  darin,  dass  Maria  die  Jungfraumutter 
des  Erlösers  ist;  aber  es  ist  entschieden  auch  aktives  Verdienst 
dabei,  dieses  wird  durch  die  Tugenden  des  Glaubens  und  Gehorsams 
erwiesen. 

Beide  Elemente  des  Antheils  am  Erlösungswerke,  das  passive  und 
aktive  kehrt  ebenso  Tertullian  bei  seiner  Gegenüberstellung  von 
Eva  und  Maria  hervor.  Er  sagt  oben  (S.  32):  Was  durch  das  weib¬ 
liche  Geschlecht  verloren  gegangen,  sei  durch  das  weibliche  Geschlecht 
gerettet  worden,  und  fährt  dann  fort:  »Geglaubt  hatte  Eva  der 
Schlange,  geglaubt  hat  Maria  dem  Gabriel;  was  jene  durch  Glauben 
verbrochen,  hat  diese  durch  Glauben  getilgt  2).« 

In  diesen  Wendungen  also  hat  sich  am  Ende  des  zweiten  und 
am  Anfänge  des  dritten  Jahrhunderts  die  Vorstellung  von  einer  ge¬ 
wissen  Mitwirkung  der  Mutter  des  Erlösers  an  dem  Werke  ihres 
Sohnes  bei  zwei  hervorragenden  Vertretern  der  christlichen  Wissen¬ 
schaft  niedergeschlagen.  Hiebei  bleibt  es  nun  auch  für  lange  Zeit. 
Denn  aus  dem  dritten  Jahrhundert  haben  wir  nur  noch  die  beiden 
Aeusserungen  des  Origenes  hieherzuziehen,  von  denen  oben  (S.  95 
und  148)  die  Rede  war,  nemlich:  Maria  sei  »zum  Dienste  des 
Wortes  auserwählt  worden«  und  »wie  die  Sünde  von  dem  Weibe 
angefangen  habe  .  .  .  .,  so  habe  auch  der  Anfang  des  Heiles 
(nach  dem  Griechischen:  das  Gute)  seinen  Ausgang  von  den  Frauen 
genommen«.  Auch  aus  dem  Anfang  des  vierten  Jahrhunderts  wissen 
wir  nur  den  Vers  des  Juvencus  (um  330)  beizubringen:  »du 
wirst  der  Welt  helfen  durch  den  heilsamen  Sprössling  3).«  Dagegen 


9  S.  oben  und  Haer.  V,  19,  1,  2. 

2)  De  carne  Chr.  17. 

8)  S.  unten  bei  der  Poesie. 


174 


gibt  die  zweite  Hälfte  dieses  Jahrhunderts  wieder  reichere  Aus¬ 
beute. 

Zeno  von  Verona  z.  B.  vergleicht  die  Mission  Elisabeths  und 
Marias  und  wendet  sich  dann  an  die  Frauen:  »Jubelt  ihr  Frauen 
und  erkennet  die  Rangerhöhung  eures  Geschlechtes!  Nach  Tilgung 
der  alten  Schuld  werden  wir  durch  euch  mit  dem  Himmel  ver¬ 
bunden,  denn  die  Alte  (Elisabeth)  gebar  den  Engel  (Johannes)  und 
die  Jungfrau  Gott  *).«  Die  Nennung  der  Elisabeth  in  einem  Athem 
mit  Maria  rechtfertigt  Zeno  damit,  dass  er  ihren  Sohn  einen  Engel 
heisst,  wobei  man  zunächst  an  die  eigentliche  Bedeutung  des  Wortes 
als  eines  himmlischen  Wesens  denkt.  Als  Mutter  eines  himmlischen 
Wesens  hätte  dann  auch  Elisabeth  uns  in  analoger  Art,  wie  Maria, 
mit  dem  Himmel  verbunden.  Dass  aber  Zeno  die  Sache  nicht  so 
verstanden  wissen  will,  bedarf  keiner  weiteren  Auseinandersetzung. 

Für  die  übrigen  Väter  des  vierten  Jahrhunderts  bildet  haupt¬ 
sächlich  die  alte  Antithese  von  Eva  und  Maria  den  beliebten  Anlass, 
um  das  Verhältniss  der  heiligen  Jungfrau  zum  Erlösungswerke  zu 
zeichnen.  So  äussert  sich  Cyrill  von  Jerusalem  in  aller  Kürze: 
durch  Eva  sei  der  Tod,  durch  Maria  das  Leben  erschienen  (S.  33). 
Ephräm  der  Syrer  behandelt  das  Thema  in  verschiedenen  Varia¬ 
tionen:  »Durch  Eva  ist  die  ehrbare  und  liebenswürdige  Zierde  des 
Menschen  ertödtet  worden,  durch  Maria  jedoch  wieder  aufs  Neue 
aufgeblüht;«  »den  Fall  der  alten  Mutter  hat  Maria  endlich  wieder 
gutgemacht;«  »den  Verlust  der  (Stamm-)Mutter  hat  die  Tochter,  die 
Jungfrau,  wieder  ausgeglichen  dadurch,  dass  sie  für  sie  den  Heiland 
gebar* 2);«  »Eva  verhüllte  sich  mit  Blättern,  um  ihre  Scham  zu 
decken ,  deine  (Christi)  Mutter  aber  zog  ein  Kleid  der  Herrlichkeit 
an,  das  Allen  hinreichenden  Schutz  gewährt3).« 

Epiphanius  begnügt  sich  nicht  damit,  den  Contrast  der  Mission 
beider  Frauen  hervorzukehren,  sondern  er  bezieht  auch  ein  der  Eva 
beigelegtes  Prädikat  in  höherem  Sinne  auf  Maria  mit  den  Worten: 
»Maria  ist  eigentlich  unter  der  Eva  verstanden,  wenn  diese  in  Form 
eines  Räthsels  den  Titel  , Mutter  der  Lebendigen4  erhält.  Denn  diese 
wird  Mutter  der  Lebendigen  genannt  nach  dem  Sündenfalle,  nach¬ 
dem  sie  schon  gehört  hatte:  Erde  bist  du  und  sollst  zur  Erde  werden. 


b  Lib.  II,  Tract.  7. 

2)  Ephr.  Opera  ed.  Rom.  1740.  Tom.  II,  syr.  et  lat.  p.  318,  321,  396. 

3)  Sermo  XII,  de  nativ.  Tom.  II,  syr.  et  lat.  p.  430  ff. 


175 


Und  es  war  ein  Wunder ,  dass  sie  nach  dem  Sündenfall  diesen 
grossen  Beinamen  erhielt.  In  physischem  Sinne  stammt  allerdings 
von  jener  Eva  das  ganze  Menschengeschlecht  auf  der  Erde;  in 
Wahrheit  aber  wurde  von  Maria  das  Leben  selbst  x)  für  die  Welt 
geboren,  damit  es  Lebendiges  zeuge  und  Maria  die  Mutter  der  Leben¬ 
digen  würde.  Es  ist  also  Maria,  welche  durch  ein  Räthsel  Mutter 
der  Lebendigen  genannt  worden  ist.«  ....  Weiter  sagt  er:  der 
Eva  sei  auferlegt  worden,  dem  Mann,  den  sie  entblösst  habe,  Kleider 
zu  weben,  um  den  nackten  Körper  zu  bedecken,  Maria  aber  habe 
von  Gott  die  Aufgabe  erhalten,  uns  das  Lamm  zu  gebären,  aus 
dessen  Herrlichkeit,  wie  aus  einem  Vliess,  das  Kleid  der  Unsterblich¬ 
keit  uns  werde *  2).  Schliesslich  kommt  dann  noch  der  gewöhnliche 
Gegensatz  von  Eva  als  dem  Grund  des  Todes  und  Maria  als  dem 
Grund  des  Lebens  (s.  oben  S.  34). 

Ambrosius  sieht  in  der  »leichten  Wolke«  bei  Jesaias  3),  »auf 
welcher  sitzend  der  Herr  kommt« ,  eine  Prophezeiung  des  Antheils 
Mariens  am  Erlösungs werke.  »Ja  wohl,  sagt  er,  leicht  ist  die  Wolke, 
welche  diese  Welt  um  die  schwere  Schuldenlast  der  Sünden  er¬ 
leichterte;  leicht  ist  sie,  welche  die  Nachlassung  der  Sünden  im  Leibe 
trug.«  Dasselbe  bedeutet  ihm  die  Psalmenstelle:  »Moab  ist  der  Topf 
meiner  Hoffnung  4)« ,  welche  er  so  erklärt :  »auch  ein  Topf  ist  der 
Mutterleib  Mariens,  welcher  mit  dem  glühenden  Geiste,  der  auf  sie 
herabkam,  den  Erdkreis  erfüllte,  da  sie  den  Erlöser  gebar5).«  An 
einem  andern  Orte  geht  er  mit  der  Antithese  von  Eva  und  Maria 
rhetorisch  in  die  Breite.  Ausser  der  oben  (S.  34)  ausgezogenen 
Stelle  haben  wir  folgende  Wendungen  von  ihm:  »Durch  das  Weib 
kam  das  Uebel,  durch  das  Weib  das  Gute;  weil  wir  durch  Eva  ge¬ 
fallen  sind,  stehen  wir  durch  Maria;  durch  Eva  sind  wir  zu  Boden 
gestreckt,  durch  Maria  aufgerichtet;  durch  Eva  zur  Sklaverei  ver- 
urtheilt,  durch  Maria  freigemacht.  Eva  entzog  uns  die  Lebensdauer, 
Maria  gab  uns  das  ewige  Leben  zurück;  Eva  übergab  uns  der  Ver- 
dammniss  durch  die  Frucht  des  Baumes,  Maria  erlöste  uns  durch 
das  Geschenk  des  Baumes,  weil  auch  Christus  am  Holze  hing,  wie 


J)  Nach  der  Leseart:  aurrj. 

2)  Haer.  78,  18. 

3)  1s.  19,  1. 

4)  Ps.  59,  10. 

5)  De  inst.  virg.  79,  81. 


176 


eine  Frucht  ....  Alles  was  durch  Adam  verschuldet  wird,  wird 
durch  Maria  rein  gewaschen.  Glücklich  daher  Eva,  durch  welche  die 
Gelegenheit  gegeben,  glücklich  vielmehr  Maria,  durch  welche  die  Hei¬ 
lung  ertheilt  ist  ...  .  Durch  Eva  wachsen  wir,  durch  Maria  herrschen 
wir;  durch  Eva  sind  wir  zur  Erde  gezogen,  durch  Maria  zum  Himmel 
erhoben  und  um  das  ganze  Geheimniss  des  Gesetzes  kurz  ans  Licht 
zu  bringen  und  zu  zeigen,  dass  zwei  in  einer  waren,  wie  alle  in  ihr 
sind:  in  Eva  war  damals  Maria,  durch  Maria  ist  nachher  Eva 
geoffenbart  worden  x).«  Hiemit  gibt  Ambrosius  den  Gedanken  des 
Epiphanius  nur  mit  anderen  Worten  wieder.  Auch  ihm  ist  Maria 
die  eigentliche  Mutter  des  Lebens,  die  Mutter  des  ewigen  Lebens, 
die  zweite  Stammmutter,  die  Stammmutter  der  erlösten  Menschheit, 
in  welcher  also  die  erste  Stammmutter,  die  Mutter  der  gefallenen 
Menschheit  erst  recht  zum  Durchbruch  gekommen  ist.  Uebrigens 
finden  wir  schon  bei  Zeno  von  Verona  den  nemlichen  Gedanken: 
»Du,«  apostrophirt  er  die  göttliche  »Liebe«,  »hast  die  Eva  in  der  Maria 
wieder  erneuert* 2),«  und  von  dem  syrischen  Diakon  Cyrillonas 
(um  400)  werden  wir  im  Abschnitt  über  die  Poesie  Aehnliches  ver¬ 
nehmen.  Auch  dieser  meint,  dass  Maria  »den  ursprünglichen  Glanz 
der  Eva  wieder  zurückgebracht  habe« ,  indem  sie  die  Schuld  der 
Ahnfrau  wieder  gut  gemacht  habe. 

Gleichzeitig  mit  dem  letztem  schreibt  Severianus,  Bischof  von 
Gabala,  der  Rivale  des  Chrysostomus:  »Wie  nun,  ist  das  weibliche 
Geschlecht  dem  Fluch  verfallen  und  verbleibt  es  in  Trübsal,  und 
werden  die  Fesseln  nicht  gelöst?  Es  kam  Christus,  der  die  Fessel 
löste ,  es  kam  entgegen  die  Gebärerin  des  Herrn ,  das  Geschlecht 
vertheidigend ,  die  heilige  Jungfrau  statt  der  Jungfrau;  denn  Jung¬ 
frau  war  auch  Eva,  da  sie  fehlte.  Sie  hob  auf  das  Leid  und  das 
Seufzen  der  Verurtheilten.  Denn  wie  jemand,  wenn  er  in  die  Königs¬ 
burg  berufen  wird,  sich  bemüht,  seine  Angehörigen  zu  Ehren  zu 
bringen  und,  wenn  sie  in  Noth  sind,  zu  befreien;  so  bittet  auch 
die  heilige  Jungfrau,  die  in  die  Königsburg  berufen  wurde,  um  der 
göttlichen  Geburt  zu  dienen,  ....  zuerst  um  diese  Gnade,  oder 
empfängt  sie  vielmehr.  Da  es  sich  nicht  ziemte,  dass  das  ver- 
urtheilte  Weib  den  Unschuldigen  gebäre,  kommt  der,  der  zuerst  das 
Leid  der  Eva  durch  Freude  aufhebt,  es  kommt  der  Engel,  der  zur 


0  Sermo  45,  2 — 5. 

2)  Lib.  I,  Tract.  2,  n.  9.  Siehe  oben  S.  34  Anm.  3. 


177 


Jungfrau  spricht:  freue  dich  Gnadenvolle.  Durch  das  Wort  , freue 
dich4  löst  er  die  Fessel  des  Leides  ....  Mit  jener  ist  die  Schlange 
in  Trübsal;  freue  dich,  mit  dir  ist  Gott  1).« 

Dass  Augustinus  in  Betreff  unserer  Antithese  sich  an  die 
Vorgänger  anschliesst,  haben  wir  auch  schon  im  ersten  Abschnitt 
vernommen  (S.  34);  es  ist  nur  noch  die  neue  bildliche  Einkleidung 
der  Sache  nachzutragen,  die  sich  bei  ihm  an  einem  anderen  Orte 
findet.  »Durch  ein  Weib  ist  dem  Menschen  Gift  zugetrunken  worden, 
um  ihn  zu  bethören,  durch  ein  Weib  soll  dem  Menschen  Heil  zu¬ 
getrunken  werden  zu  seiner  Wiedererneuerung2).« 

Wie  Sedulius  den  Gedanken  in  Verse  fasst,  werden  wir 
unten  sehen. 

Doch  wir  wollen  den  Gegenstand  nicht  weiter  in’s  fünfte  Jahr¬ 
hundert  hinein  verfolgen.  Die  Vorstellung  ist  jetzt  geläufig  und  es 
begegnen  uns  ohnehin  noch  verschiedene  Varianten  in  den  Fragmenten 
von  Predigten  zu  Ehren  der  h.  Jungfrau,  die  wir  im  nächsten 
Abschnitt  vorführen  müssen. 

Dass  aber  der  Antheil  Mariens  am  Erlösungswerke  die  gehörige 
Grenze  nicht  überstieg,  beweist  Ambrosius.  Er  meint,  wie  wir  oben 
vernommen  haben  (S.  116),  Maria  habe  unter  dem  Kreuze  stehend 
vielleicht  mit  ihrem  Sohne  zu  sterben  gewünscht,  um  auch  dadurch 
etwas  zur  Welterlösung  beizutragen,  und  fährt  dann  fort:  »Aber 
Jesus  bedurfte  keines  Helfers  zur  Erlösung  Aller  .  .  .  . ,  er  nahm 
zwar  die  Liebe  der  Mutter  an,  suchte  aber  nicht,  die  Beihilfe  eines 
Menschen  3 4).« 

Zum  Schlüsse  jedoch  ist  zu  erwähnen,  dass  gegen  Ausgang  des 
vierten  Jahrhunderts  auch  noch  die  Bibel  selbst  sich  ausdrücklich 
daran  betheiligt,  der  heiligen  Jungfrau  die  Mitwirkung  am  Erlösungs¬ 
werke  zu  sichern.  Wenigstens  für  die  abendländische  Welt.  Die 
berühmte  Stelle  nemlich  im  ersten  Buche  Mosis4),  die  man  oft 
als  Vorevangelium  bezeichnet,  und  die  im  Urtext,  in  der  griechischen 
Uebersetzung  der  LXX,  in  allen  orientalischen  Uebersetzungen,  auch 
in  der  alten  lateinischen  also  lautet:  »Gott  sprach  zur  Schlange 
ich  will  Feindschaft  setzen  zwischen  dir  und  dem  Weibe  und  zwischen 


*)  Sever.  de  mundi  creatione  orat..  VI.  In  den  Werken  des  Ghrysostomus 
von  Montfaucon,  Tom.  VI,  p.  508  n.  509. 

2)  Sermo  51,  c.  2. 

3)  Exp.  in  Luc.  1.  X,  n.  132. 

4)  C.  III,  15. 

Lehn  er.  Die  Marien  Verehrung. 


12 


178 


deinem  Samen  und  ihrem  Samen.  Derselbe  soll  dir  den  Kopf  zer¬ 
treten,  und  du  wirst  ihn  in  die  Ferse  stechen  (oder:  du  wirst  seiner 
Ferse  nachstellen),«  —  diese  Stelle  ist  in  der  Vulgata  mit  der 
Variante  gegeben:....  »sie  wird  deinen  Kopf  zertreten  und  du 
wirst  ihrer  Ferse  nachstellen.«  Hieronymus  zwar  kennt  die 
Variante  nicht,  aber  schon  Ambrosius1)  und  dann2)  Augustinus 
und  die  folgenden  gebrauchen  sie,  und  der  Zeitgenosse  Prudentius 
verwendet  sie  poetisch  zweimal  in  einem  und  demselben  Hymnus. 
Nach  Erwähnung  des  Sündenfalls  und  seiner  Folgen  für  das  erste 
Menschenpaar  fährt  er  fort:  »Auch  die  Urheberin  des  Betrugs,  die 
arge  Schlange  wird  gestraft  dadurch,  dass  das  Weib  den  drei- 
züngigen  Hals  mit  der  Ferse  treten  soll.  So  schaut  die  Schlange 
mit  Bangen  nach  der  Sohle  des  Weibes  auf3)«  ....  Nach  kurzem 
Hinweis  auf  die  Folgen  des  Sündenfalls  für  die  ganze  Nachkommen¬ 
schaft  der  Stammeltern  geht  er  auf  die  Erlösung  über,  welche  durch 
die  Menschwerdung  Gottes  aus  der  Jungfrau  bewerkstelligt  werde, 
und  sagt  dann  weiter:  »diess  war  jener  alte  Hass  und  Krieg 
zwischen  der  Schlange  und  den  Menschen,  dass  jetzt  die  kopfüber¬ 
stürzende  Schlange  von  weiblichen  Füssen  zertreten  wird.  Denn 
die  Jungfrau,  welche  verdient  hat,  Gott  zu  gebären,  bändiget  alle 
Gifte  (der  Schlange)  .  .  .  .  4)«  Diese  Verse,  welche  wir  unten  im 
Metrum  des  Prudentius  zu  übersetzen  versuchen,  bilden  die  älteste 
Ausdeutung  der  biblischen  Prophezeiung  auf  Maria  und  zwar  offen¬ 
bar  in  dem  von  uns  angegebenen  Sinne.  Dadurch,  dass  Maria  die 
Mutter  Gottes  wird,  zertritt  sie  der  Schlange  den  Kopf  und  bändiget 
ihr  Gift,  d.  h.  sie  vereitelt  die  ferneren  Bestrebungen  des  Teufels, 
die  Menschen  in’s  Verderben  zu  stürzen,  und  hilft  dadurch,  so  weit 
es  an  ihr  ist,  dieselben  erlösen.  Als  Besiegerin  des  Teufels  wird 
übrigens  Maria  schon  von  Ambrosius  ausdrücklich  aufgeführt.  In 
seiner  Leichenrede  auf  Theodosius  den  Grossen  a.  395  lässt  er  die 
Kreuzesfinderin  Helena  gegen  den  Teufel  sprechen:  »besiegt  hat  dich 
Maria,  welche  den  Triumphator  geboren,  welche  ohne  Verletzung 
der  Jungfrauschaft  denjenigen  hervorgebracht  hat ,  der  gekreuzigt 
dich  besiegen  und  gestorben  dich  unterjochen  sollte  5).« 

9  De  fuga  seculi,  c.  7,  n.  43. 

2)  De  genesi  cont.  Manich.  1.  II,  c.  18;  de  genesi  ad  litt.  1.  XI,  c.  36. 

3)  Cathem.  III,  126—130. 

4)  Ibid.  146  ff. 

5)  De  obitu  Theodos.  n.  44. 


179 


An  diese  Vorstellung  von  dem  Antheil  Mariens  am  Erlösungs¬ 
werke  knüpft  sich  dann  die  öfters  vorkommende  Vergleichung  ihrer 
Persönlichkeit  mit  der  Kirche,  der  von  Christus  gestifteten  Erlösungs¬ 
anstalt.  Und  zwar  ist  es  vornemlich  ihre  wunderbare  Qualität  als 
Jungfrau-Mutter,  welche  den  Vergleichungspunkt  abgibt.  Die  Kirche 
wird  nemlich  auch  unter  dem  Bilde  einer  jungfräulichen  Mutter  vor¬ 
gestellt,  wie  wir  schon  von  Clemens  von  Alexandrien  vernommen 
haben  (S.  122).  Darum  ist  Maria  ihr  Vorbild.  Wir  finden  den 
Gedanken  zuerst  bei  Irenäus  angedeutet,  indem  er  sie  »für  die 
Kirche  (oder  im  Namen  der  Kirche)  prophezeiend«  ihr  Magni- 
fikat  sprechen  lässt  Q,  dann  bei  Ambrosius  in  verschiedenen  Wen¬ 
dungen  durchgeführt.  Er  sagt:  »Maria  ist  das  Vorbild  (typus)  der 
Kirche,  welche  unbefleckt  aber  vermählt  ist.  Die  Kirche  hat  uns 
als  Jungfrau  empfangen  vom  Geiste,  sie  gebiert  uns  als  Jungfrau 
ohne  Schmerzenslaut.  Und  desswegen  vielleicht  ist  die  heilige  Maria 
einem  Andern  vermählt,  von  einem  Andern  erfüllt  (repleta,  d.  h. 
mit  ihrem  Kinde  gesegnet),  weil  auch  die  einzelnen  Kirchen  vom 
Geiste  zwar  und  seiner  Gnade  erfüllt,  andererseits  aber  an  die 
Person  eines  zeitlichen  Priesters  gebunden  sind *  2).«  Später  findet 
er  etwas  »Mystisches«  darin,  dass  Maria  (unter  dem  Kreuze)  dem 
Johannes,  der  jünger  war,  als  die  übrigen,  empfohlen  werde.  Das 
sei  wieder  ein  Geheimniss  der  Kirche,  welche  früher  an  das  ältere 
Volk  (Judenthum)  gebunden  war,  jetzt  aber  dem  jüngeren  Volke 
(Christenthum)  angehöre  3).  Zu  demselben  Zwecke  deutet  er  die 
Braut  des  hohen  Liedes  sowohl  auf  die  Kirche,  als  auf  Maria  und 
führt  diess  im  Einzelnen  typologisch  durch  in  seinem  Buch  »über  die 
Unterweisung  einer  Jungfrau«  4).  Die  »Tritte  in  den  Schuhen«  5) 
sind  »entweder  die  Tritte  Mariens  oder  der  Kirche«,  die  »Gelenke 
der  Hüften«,  der  »Nabel«,  der  »Bauch«,  der  »wie  ein  Weizenhaufen 
ist,  von  Lilien  umlagert«  u.  s.  w.  geht  Alles  sowohl  auf  die  Kirche, 
als  auf  Maria. 

Diese  Vergleichung  der  Kirche  mit  Maria  ist  bei  dem  ältern 
Zeitgenossen  des  Ambrosius,  bei  Zeno  von  Verona,  sogar  zu  einer 


9  Haer.  III,  10,  2. 

2)  Expos,  ev.  sec.  Luc.  1.  II,  7. 

3)  Ibid.  1.  X,  134. 

4)  De  inst.  virg.  n.  87  fl'. 

5)  Cant.  VII,  1  ff. 


180 


völligen  Stellvertretung  geworden.  Nach  einer  Gegenüberstellung 
von  Adam  und  Christus,  Eva  und  Maria  sagt  er  schliesslich  (anstatt, 
wie  oben  S.  176  zu  sagen,  Eva  sei  durch  Maria  erneuert  worden) 
»Eva  sei  durch  die  Kirche  erneuert  worden«  !). 

Sehr  häufig  finden  wir  schliesslich  die  Vergleichung  beim 
heiligen  Augustin,  von  dem  wir  noch  einige  Stellen  mittheilen  wollen. 

»Da  die  ganze  Kirche  als  Jungfrau  Einem  Manne,  nemlich  Christo 
verlobt  ist,  wie  der  Apostel  sagt*  2) ;  wie  grosser  Ehre  würdig  sind 
die  Glieder  derselben,  welche  dasjenige  auch  selbst  im  Fleische  be¬ 
wahren,  was  die  ganze  Kirche  im  Glauben  bewahrt,  die  die  Mutter 
ihres  Mannes  und  ihres  Herrn  nachahmt!  Denn  auch  die  Kirche  ist 
sowohl  Mutter  als  Jungfrau  ....  Maria  hat  körperlich  das  Haupt 
dieses  Körpers  geboren,  die  Kirche  gebiert  geistig  die  Glieder  jenes 
Hauptes.  Bei  beiden  ist  die  Jungfräulichkeit  kein  Hinderniss  für 
die  Fruchtbarkeit,  bei  beiden  ist  die  Fruchtbarkeit  nicht  die  Räuberin 
der  Jungfräulichkeit  3).« 

»Jungfrau  ist  die  Kirche  ....  Jungfrau  ist  sie  und  gebiert  doch. 
Sie  ahmt  Maria  nach ,  welche  den  Herrn  geboren  hat.  Hat  nicht 
die  heilige  Jungfrau  Maria  geboren  und  ist  Jungfrau  verblieben  ? 
So  auch  die  Kirche,  sie  gebiert  und  ist  Jungfrau.  Und  wenn  du 
wohl  erwägst ;  sie  gebiert  Christus ,  weil  diejenigen ,  welche  getauft 
werden,  seine  Glieder  sind.  Ihr  seid,  sagt  der  Apostel4),  Leib  und 
Glieder  Christi.  Wenn  sie  also  die  Glieder  Christi  gebiert,  ist  sie 
Marien  sehr  ähnlich  5).« 

»Die  Kirche  also,  nachahmend  die  Mutter  ihres  Herrn,  ist,  weil 
sie  es  körperlich  nicht  konnte,  doch  im  Geiste  Mutter  und  Jungfrau. 
Auf  keine  Weise  hat  daher  Christus  durch  die  Geburt  seiner  Mutter 
die  Jungfräulichkeit  entrissen,  er,  der  seine  Kirche  zur  Jungfrau  ge¬ 
macht  hat,  indem  er  sie  von  der  Buhlerei  der  Dämonen  errettete6).« 

»Die  Jungfrau  also,  die  heilige  Kirche,  feiert  heute  die  Geburt 
der  Jungfrau.  Dieser  nemlich  sagt  der  Apostel:  ich  habe  euch  ver¬ 
lobt  einem  Manne,  euch,  als  keusche  Jungfrau  Christo  darzustellen  7). 


Lib.  II,  Tract.  13,  n.  10. 

2)  II.  Gor.  XI,  2. 

3)  De  s.  virg.  Tom.  VI,  p.  342. 

4)  I.  Gor.  12,  27. 

5)  Epist.  213.  In  trad.  symb.  II,  Tom.  V,  p.  941. 

6)  Sermo  191  in  nat.  dom.  Tom.  V,  p.  894. 

7)  II.  Gor.  11.  2. 


181 


Woher  eine  keusche  Jungfrau  bei  so  vielen  Völkern  beiderlei  Ge¬ 
schlechtes,  bei  so  vielen  nicht  bloss  Jünglingen  und  Jungfrauen, 
sondern  auch  verheiratheten  Vätern  und  Müttern?  Woher,  sage 
ich,  eine  keusche  Jungfrau,  wenn  nicht  in  der  Unversehrtheit  des 
Glaubens,  der  Hoffnung  und  der  Liebe?  Christus  hat  daher,  um 
der  Kirche  die  Jungfräulichkeit  im  Herzen  zu  schaffen,  vorher  Marien 
dieselbe  im  Körper  bewahrt.  Denn  durch  das  menschliche  Eheband 
wird  das  Weib  dem  Bräutigam  übergeben,  um  nicht  mehr  Jungfrau 
zu  sein;  die  Kirche  aber  könnte  nicht  Jungfrau  sein,  wenn  sie 
nicht  den  Bräutigam,  dem  sie  übergeben  wurde,  als  Sohn  der  Jung¬ 
frau  erfunden  hätte  1).« 

Auch  in  der  Poesie  erscheint  Maria  als  Typus  der  Kirche  und 
zwar  zuerst  bei  Sedulius,  wie  wir  unten  sehen  werden. 

Vom  fünften  Jahrhundert  ab  wird  diese  Vorstellung  immer  ge¬ 
läufiger,  darum  wird  Maria  bald  auch  in  dem  apokalyptischen  Weib 
mit  dem  Sternenkranze 2)  erkannt ,  unter  welchem  man  in  den 
ersten  Jahrhunderten  immer  nur  die  Kirche  verstand.  Wir  wenigstens 
haben  bei  Epiphanius  den  ersten  Versuch  gefunden,  diese  Vision 
auf  Maria  zu  deuten,  wie  uns  das  Kapitel  der  Poesie  zeigen  wird; 
darum  haben  wir  weiter  nichts  darüber  zu  sagen,  als  dass  in  unserer 
Periode  nach  dem  Obigen  alle  Vorbereitungen  getroffen  sind,  die 
namentlich  für  die  spätere  Kunst  so  fruchtbare  apokalyptische 
Gestalt  mit  Maria  zu  identificiren. 

Indem  wir  hiemit  dieses  Kapitel  abschliessen ,  wollen  wir  nur 
noch  die  verschiedenen  Wendungen,  in  welchen  der  Hauptgedanke 
zum  Ausdruck  kommt,  kurz  zusammenstellen. 

Maria  hat,  als  Mutter  des  Erlösers,  einen  gewissen  Antheil  am 
Erlösungswerke,  denn  sie  ist 

1.  die  zweite  Stammmutter  der  Menschheit,  die  reine  Stamm¬ 
mutter  der  erlösten  Menschheit; 

2.  sie  verbindet  die  Menschen  mit  dem  Himmel,  indem  sie 
Gott  gebiert; 

3.  sie  zertritt  der  Schlange  den  Kopf  und  zerstört  damit  die 
Macht  des  Feindes  der  Erlösung; 

4.  sie  ist  Vorbild  der  Kirche,  der  von  Christus  gestifteten 
Erlösungsanstalt. 


')  Sermo  188,  4,  Tom.  V,  p.  889.  S.  auch  noch  Sermo  215,  c.  7  u.  s.  w. 

2)  Apocal.  XII,  1. 


Verehrung. 


In  dem  Bisherigen  haben  wir  nachzuweisen  versucht,  wie  das 
Bild  Mariens,  dessen  Grundlinien  wir  den  Evangelien  entnahmen, 
in  der  Vorstellung  der  Christen  sich  nach  und  nach  mit  Farbe  ge- 
gefüllt  hat.  Es  ist  damit  eigentlich  kein  neues  Bild  geworden,  aber 
es  verhält  sich  zu  dem  evangelischen  Umrisse,  wie  das  Gemälde  zur 
Skizze. 

Aus  der  einfachen  Thatsache  jungfräulicher  Empfängniss  ist  die 
nothwendige  Grundbedingung  der  Welterlösung  geworden,  aus  Josephs 
Frau  die  jungfräuliche  Gattin  eines  mit  ihr  und  durch  sie  jungfräu¬ 
lichen  Gatten,  aus  der  Mutter  Jesu  die  immerwährend  jungfräuliche 
Gottesgebärerin,  aus  dem  klugen,  frommen,  sittsamen  Weibe  das 
mit  allen  Tugenden  geschmückte,  vollkommen  sündenlose,  unerreich¬ 
bare  Menschenideal.  Maria  ist  Vermittlerin  zwischen  Gottheit  und 
Menschheit,  sie  ist  Werkzeug  und  Gehülfm  der  Erlösung.  Sie  ist 
dem  Naturgesetz  entrückt,  sie  gehört  der  Welt  des  Wunders,  dem 
Reich  der  Gnade  an. 

Aber  sie  hört  darum  nicht  auf,  Mensch  zu  sein.  Alle  die  ge¬ 
nannten  Qualitäten  sind  ihr  nicht  einfach  von  Gott  geschenkt  oder 
auferlegt,  sondern  sie  muss  sie  ebenso  verdienen.  Sie  bereitet  sich 
auf  eigenen  Antrieb  für  ihre  Bestimmung  vor,  entscheidet  sich  mit 
freier  Wahl  für  dieselbe  und  bleibt  ihr  treu  in  strenger  Selbstzucht. 
Sie  ist  hiedurch  auch  praktisches  Ideal,  nachahmungswürdiges  Bei¬ 
spiel  für  die  Menschen,  deren  Bestimmung  es  ebenfalls  ist,  durch 
Glauben  und  Leben  mit  Gott  sich  zu  vereinigen.  Hiedurch  ist  sie 
wieder  ganz  ein  Kind  der  Erden  weit,  zeigt  aber  stets  hinüber  nach 
dem  Himmel. 

Dieses  Doppelwesen,  das  zwei  Welten  angehört,  ist  jedoch 
Maria  nicht  geworden  auf  dem  Wege  stiller  friedlicher  Entfaltung, 


183 


sondern  im  heissen  Kampfe  entgegengesetzter  Meinungen.  Ihr  Bild 
ist  das  Siegeszeichen  über  Unglauben  und  falschen  Glauben,  das 
Erkennungszeichen  der  Rechtgläubigkeit  und  darum  mit  unverwisch¬ 
baren  Zügen  in  die  Herzen  der  Gläubigen  eingeschrieben.  Es  ist 
aber  kein  Abstraktum,  sondern  ein  lebensvolles  Menschenbild,  das 
auf  Erden  gewandelt  ist  und  im  Himmel  ewig  fortleben  wird,  dessen 
man  mit  Bewunderung,  Liebe  und  Dankbarkeit  gedenken  kann  und 
mit  welchem  man  einst  die  Seligkeit  zusammen  zu  gemessen  hofft, 
—  es  ist  Gegenstand  der  Verehrung. 

Die  Marienverehrung  fusst  auf  demselben  Grunde,  wie  die 
Heiligen  Verehrung  überhaupt.  Es  ist  diess  ein  doppelter,  ein  all¬ 
gemein  menschlicher  und  ein  specifisch  christlicher  Grund.  Den 
allgemein  menschlichen  Grund  zeigt  die  Thatsache,  dass  überall  und 
zu  allen  Zeiten  den  Verstorbenen  ein  Andenken  bewahrt  wird. 
Waren  die  Verstorbenen  hervorragende  Menschen,  so  ist  auch  ihr 
Andenken  von  hervorragender  Art.  Es  bildet  sich  eine  Legende  um 
ihren  Namen,  man  forscht  ihrem  Werden  und  Wachsen  nach,  man 
schreibt  ihre  Biographieen,  man  preist  sie  in  Gedichten,  verherrlicht 
sie  in  Kunstwerken ,  errichtet  ihnen  Denkmale ,  stiftet  Gedächtniss¬ 
tage,  sammelt  Reliquien  u.  s.  w.  Der  specifisch  christliche  Grund 
theilt  mit  diesem  die  psychologische  Unterlage,  nur  handelt  es  sich 
zunächst  um  die  Frage:  wer  war  dem  Christen  der  ersten  Jahr¬ 
hunderte  ein  ausgezeichneter  und  des  Andenkens  besonders  würdiger 
Mensch  ? 

Dem  Christen  als  solchen,  dem  alle  weltlichen  Grössen  vorüber¬ 
gehende,  nichtige  Schatten  sind,  geht  das  Ideal  vollständig  in  der 
Religion  auf.  Der  Held  ist  ein  religiöser  Held.  Besondern  An¬ 
denkens  würdig  ist  nur  der,  der  sich  in  der  Religion  hervorgethan 
hat  durch  erleuchtetes  Lehren,  durch  heiliges  Leben  und  Sterben, 
durch  Leiden  oder  Tod  für  die  Religion.  Aber  auch  die  Art  des 
Andenkens  ist  eine  specifische.  Zu  den  psychologisch  begründeten 
Faktoren  der  Bewunderung,  Liebe  und  Dankbarkeit  kommt  noch 
der  lebendige  Unsterblichkeitsglaube.  Die  selig  Vollendeten  leben 
fort  in  ewiger  Herrlichkeit  mit  dem  Herrn,  sie  »werden  das  Reich 
besitzen,  welches  seit  Grundlegung  der  Welt  ihnen  bereitet  ist«  x), 
»sie  werden  leuchten  wie  die  Sonne  im  Reiche  ihres  Vaters« *  2), 


q  Matth.  25,  34. 

2)  Ibid.  13,  43. 


184 


aber  sie  bleiben  auch  in  dauernder  Beziehung  zu  den  auf  Erden 
wandelnden  Gläubigen.  »Wenn  man  von  allen  Heiligen,  welche  aus 
diesem  Leben  geschieden  sind,  behauptet,  dass  sie  aus  fortgesetzter 
Liebe  gegen  die,  welche  noch  auf  dieser  Welt  sind,  Sorge  für  das 
Heil  derselben  tragen  und  sie  mit  ihren  Bitten  und  ihrer  Vertretung 
bei  Gott  unterstützen ,  so  wird  das  nicht  ungereimt  sein ,«  sagt 
Origenes  1).  Und  diese  thätige  Liebe  der  Vollendeten  zu  den  Hinter¬ 
bliebenen  begründet  er  durch  den  organischen  Zusammenhang 
der  Erlösten  hier  und  dort.  Er  überträgt  das  Bild,  welches  der 
Apostel  Paulus  im  eisten  Korintherbrief  für  das  Verhältniss  Christi 
zu  der  Kirche  gebraucht,  das  Bild  eines  Körpers,  dessen  Haupt 
Christus  ist,  dessen  Glieder  die  Gläubigen  bilden  2),  auf  alle  Anhänger 
Christi  im  Diesseits  und  Jenseits  und  sagt:  »es  ist  ein  Leib,  der 
die  Rechtfertigung  erwartet,  einer,  der  auferstehen  soll  beim  Ge¬ 
richte3).«  Der  Tod  bildet  keine  Schranke,  der  Zusammenhang  der 
Glieder  des  Organismus  unter  sich  und  mit  dem  Haupte  ist  dadurch 
nicht  unterbrochen,  die  Funktionen  laufen  trotz  der  Trennung  un¬ 
gehindert  herüber  und  hinüber.  Es  konnte  darum  die  Vorstellung, 
dass  die  Gläubigen,  »welche  noch  auf  dieser  Welt  sind«,  in  conse- 
quenter  Gegenseitigkeit  auch  »Bitten«  hinüberschicken  und  zwar 
Bitten  um  »Vertretung  bei  Gott«  ,  ebenfalls  »nicht  ungereimt  sein«. 
Doch  es  bedarf  dieser  Schlussfolgerung  nicht;  wir  haben  historische 
Beweise,  dass  das  Andenken  an  die  Helden  der  Religion  in  obigem 
Sinn,  d.  h.  dass  die  Heiligen  Verehrung  schon  im  zweiten  Jahrhundert 
bestand  und  dass  die  Märtyrer  die  ersten  waren,  denen  ein  be¬ 
stimmter  Cultus  zu  Theil  wurde.  Man  erbaute  sich  nicht  bloss 
an  ihrem  Beispiel  und  pries  sie  in  R.eden  und  Gesängen ,  sondern 
man  sammelte  auch  ihre  Ueberreste,  hielt  den  Gottesdienst  an  ihrem 
Grabe,  worüber  man  Altäre,  später  Kirchen  errichtete,  feierte  ihren 
Geburtstag  für  den  Himmel  d.  h.  den  Jahrestag  ihres  Martyriums, 
und  rief  sie  an  um  ihre  Fürbitte.  Das  sind  bekannte  Dinge,  wie 
nicht  minder ,  dass  diese  Verehrung  sich  ebenfalls  schon  in  früher 
Zeit  auf  andere  gottselige  Entschlafene,  Bekenner,  Jungfrauen, 
Bischöfe,  namentlich  auf  die  Apostel  erstreckte. 

Wie  aber  verhält  es  sich  nun  mit  Maria? 


*)  Comm.  in  Cant.  cant.  L.  III,  p.  75;  vgl.  Exhort,  ad  mart.  c.  30;  hom.  16, 
in  Josue  c.  5;  c.  Cels.  5,  c.  34;  liorn.  4  in  Lev.  c.  4. 

2)  I.  Cor.  12,  12  ff. 

3)  In  Levit.  hom.  7,  n.  2;  cfr.  de  orat.  c.  11,  12. 


185 


Offenbar  gebührt  ihr  unter  den  Personen,  welche  Verdienste  uni 
die  neue  Religion  haben,  eine  hohe  Stelle  als  Mutter  des  Religions¬ 
stifters.  Als  solche  genoss  sie  ohne  Zweifel  schon  zu  ihren  Leb¬ 
zeiten  bei  den  Anhängern  ihres  Sohnes  diejenige  Hochachtung  und 
Liebe,  welche  ihr  Sohn  selbst  gegen  sie  an  den  Tag  legte.  Dass 
sie  nach  ihrem  Tode  nicht  vergessen  wurde,  haben  unsere  bisherigen 
Untersuchungen  gezeigt.  Ja,  diese  Untersuchungen  geben  eigentlich 
schon  einen  Abriss  des  Werdens  und  Wachsens  ihrer  Verehrung, 
wenn  man  sich  gegenwärtig  hält,  dass  die  allmäligen  Entfaltungen 
ihres  Wesens  nicht  nach  und  nach  ins  Bewusstsein  getretene  nähere 
Bestimmungen  eines  abstrakten  Begriffs  sind,  sondern  vervollstän¬ 
digende  Retouchen  eines  und  desselben  Porträts,  das  der  Gläubige 
von  Anfang  an  im  Herzen  aufgehangen  hatte  und  das  er  als  An¬ 
denken  an  das  drüben  wohnende  Original  in  Ehren  hielt.  Dieses 
wachsende  in  Ehren  Halten  wird  insbesondere  ersichtlich,  wenn 
man  sein  Augenmerk  auf  Form  und  Ton  richtet,  in  welchen  die 
altchristlichen  Schriftsteller  das,  was  sie  über  Maria  zu  sagen  haben, 
vortragen.  Ausserdem  aber  haben  wir  noch  verschiedene  andere 
Zeugnisse  beizubringen,  welche  Licht  auf  die  Sache  werfen.  Doch 
es  ist  von  vorn  anzufangen. 

1)  Der  älteste  Schriftsteller,  der  den  Namen  Mariens  nennt,  der 
Evangelist  Matthäus,  welcher  wahrscheinlich  nicht  lange  nach  ihrem 
Tode  schrieb,  stellt  sie  zwar  schon  als  lebendiges  Wunder  dar,  aber 
er  referirt  ihre  Begnadigung  als  blosse  Thatsache,  ohne  irgend 
welche  glorificirende  Bemerkung  daran  zu  knüpfen.  Sein  Nach¬ 
folger  Lukas,  der  vielleicht  etliche  Lustren  später  schrieb,  steht  be¬ 
reits  auf  dem  Standpunkt  verklärender  Ferne.  Er  schöpft,  wie  er 
selbst  sagt,  aus  mehreren  (wohl  schriftlichen  und  mündlichen) 
Quellen,  gibt  jedenfalls  die  Anschauungen  seiner  Zeit,  zunächst  der 
Kreise,  denen  er  angehört,  wieder  und  ist  das  erste  Organ  des 
verherrlichenden  Gedenkens.  Er  hat  für  Maria  die  Epitheta 
»Gnadenvolle«,  »Gebenedeite  unter  den  Weibern«.  Elisabeth  ordnet 
sich  ihr  unter ,  findet  sich  durch  den  Besuch  der  Gebenedeiten 
geehrt  und  preist  sie  selig.  Maria  selbst  prophezeit,  dass  sie  von 
allen  Geschlechtern  werde  selig  gepriesen  werden,  und  diese  Pro¬ 
phezeiung  beginnt  schon  bei  ihren  Lebzeiten  in  Erfüllung  zu 
gehen,  indem  das  Weib  aus  dem  Volke  zu  Jesus  spricht:  Selig 
ist  der  Leib,  der  dich  getragen  hat,  und  die  Brüste,  die  du  ge¬ 
sogen  hast. 


186 


In  dieser  Weise  also  gedachte  man  der  heiligen  Jungfrau  ein 
paar  Decennien  nach  ihrem  Tode,  d.  h.  es  bestand  schon  in  dieser 
Zeit  eine  Verehrung  im  allgemeinen  Sinne,  eine  verherrlichende  Er¬ 
innerung  an  die  abgeschiedene  und  drüben  die  Seligkeit  geniessende 
Mutter  des  Herrn. 

Beschränken  wir  nun  auch  diese  Verehrung  zunächst  auf  die 
Kreise  des  Lukasevangeliums,  auf  die  Kreise  seiner  Entstehung,  so¬ 
wie  seiner  Wirkung,  so  haben  wir  dieselbe  auf  die  ganze  Christen¬ 
heit  auszudehnen,  sobald  der  Evangelienkanon  als  geschlossen  gelten 
kann;  d.  h.  von  der  Mitte  des  zweiten  Jahrhunderts  ab  gedachte 
der  Christ  der  Mutter  des  Erlösers  mit  den  Worten  des  Lukas. 
Dass  dieses  der  Fall  war,  dass  dieses  glorificirende  Andenken  an 
Maria  fortbestand  und  wie  es  fortbestand,  geht  aus  den  früheren 
Kapiteln  hervor.  Es  geht  ferner  daraus  hervor,  dass  jede  Reaktion 
dagegen  es  nur  zu  neuer  und  hellerer  Flamme  anfachte.  Es  liesse 
sich  nun  dieses  durch  eine  Rekapitulation  darthun  und  zwar  nach 
zwei  Seiten ,  nach  Inhalt  und  Form.  In  Betreff  des  ersteren  wäre 
daran  zu  erinnnern,  dass  Maria  als  lebendiges  Wunder  in  körper¬ 
lichem  und  geistigem  Sinne  sich  immer  tiefer  und  detaillirter  dem 
Gedächtniss  eingeprägt  habe,  in  Betreff  der  letzteren  wäre  darauf 
hinzuweisen,  dass  der  Ton  der  aufgeführten  Zeugnisse  sich  immer 
ehrfürchtiger  und  wärmer  gestaltet,  es  wäre  das  immer  häufigere 
Vorkommen  der  schmückenden  Beiwörter  aufzuzählen,  wie:  die  heilige, 
reine,  keuscheste,  makellose,  unbefleckte,  vor  Gott  und  Menschen 
grosse,  vorherbestimmte,  aus  den  Myriaden  Israels  erlesene,  die  selige, 
die  erhabene  u.  s.  w. ;  doch  ist  dieses  überflüssig.  Wir  begnügen 
uns  daher,  nur  noch  einige  wenige  bezeichnende  Stellen  aus  den 
Werken  der  altchristlichen  Schriftsteller  beizubringen,  welche  direkt 
mit  dem  höheren  persönlichen  Rang,  den  Maria  im  Gedächtnisse 
der  Christen  einnahm,  sich  beschäftigen. 

Eine  ganz  kurze  Hindeutung  finden  wir  schon  in  der  frühesten 
Zeit  in  den  »Testamenten  der  zwölf  Patriarchen«,  einem  Apo¬ 
kryph  ,  das  aus  dem  ersten  Jahrzehnt  des  zweiten  Jahrhunderts 
stammt1).  Es  heisst  dort  nemlich:  »Und  ich  sah  (im  Traume),  dass 
in  Juda  eine  Jungfrau  geboren  ward,  angethan  mit  einem  Kleide 
von  Byssus,  und  aus  ihr  ging  hervor  das  unbefleckte  Lamm  2)«  .... 


1)  Nitzsch,  Grundr.  der  Dogmengesch.  S.  lll. 

2)  C.  XI,  Test.  Jos.  19. 


187 


Eingehender  handelt  hievon  Origenes,  indem  er  Maria  mit 
Elisabeth  vergleicht.  »Die  besseren,  sagt  er,  kommen  zu  den  ge¬ 
ringeren,  um  ihnen  durch  ihre  Ankunft  zu  nützen.  So  kam  der 
Heiland  zu  Johannes,  um  die  Taufe  desselben  zu  heiligen,  und  sobald 
Maria  die  Verkündigung  des  Engels  vernommen  hatte,  dass  sie  den 
Heiland  empfangen  habe  und  dass  Elisabeth,  ihre  Verwandte, 
schwanger  sei,  stand  sie  auf,  ging  eilig  ins  Gebirge  und  trat  ins 
Haus  der  Elisabeth  1).«  Noch  ausdrücklicher  lässt  er  durch  Elisa¬ 
beth  selbst,  die  Stelle  des  Lukas  paraphrasirend ,  Marias  höhere 
Würde  anerkennen.  »Elisabeth  ....  sprach  zur  Jungfrau:  , Gesegnete 
du  unter  den  Weibern!  Denn  einer  solchen  Gnade  war  nie  eine 
theilhaftig  und  kann  keine  theilhaftig  sein;  denn  einzig  ist  die  gött¬ 
liche  Empfängniss,  einzig  die  göttliche  Geburt,  einzig  diejenige,  welche 
den  Gottmenschen  gebiert.  Warum  also  grüssest  du  mich  zuerst? 
Bin  ich  es,  die  den  Heiland  gebiert?  Ich  musste  zu  dir  kommen, 
denn  du  bist  über  alle  Weiber  gesegnet ,  du  bist  die  Mutter  meines 
Herrn,  du  bist  meine  Herrin,  die  du  die  Erlösung  der  Verdammten 
trägst.1  Sie  stimmt  mit  ihrem  Sohne  überein,  denn  Johannes  nannte 
sich  unwürdig,  vor  Christus  zu  stehen,  jene  erklärt  sich  der  Gegen¬ 
wart  der  Jungfrau  unwürdig  2).«  Origenes  findet  also  hier  das  Ver¬ 
hältnis  Mariens  zu  Elisabeth  analog  dem  Verhältnis  Christi  zu 
Johannes  dem  Täufer.  Die  Sache  darf  natürlich  nicht  im  strengsten 
Sinne  genommen  werden,  als  hätte  er  gemeint:  so  hoch  Christus 
über  Johannes  stehe,  ebenso  hoch  stehe  Maria  über  Elisabeth.  Aber 
dass  in  diesen  Aussprüchen  der  heiligen  Jungfrau  mit  grosser  Ehr¬ 
furcht  gedacht  wird,  ist  offenbar.  Und  zwar  nicht  von  Origenes  allein. 
Man  muss  sich  nemlich  gegenwärtig  halten,  dass  diese  Bemerkungen, 
wie  überhaupt  sehr  Vieles,  was  wir  ihm  entnommen  haben,  nament¬ 
lich  auch  das,  was  er  über  den  Charakter  Mariens  gesagt  hat,  nicht 
aus  einem  gelehrten  Werke  stammen,  sondern  aus  Homilien,  münd¬ 
lichen  Vorträgen  für  das  christliche  Volk,  oder  auch  für  solche, 
welche  Christen  werden  wollten,  —  Vorträgen,  die  also  zur  Be¬ 
lehrung  und  Erbauung  dienten,  die  in  seinen  spätem  Jahren  durch 
Schnellschreiber  nachgeschrieben  wurden 3) ,  und  die  bei  der  ge¬ 
waltigen  Wirkung  des  Origenes  beinahe  als  Stimme  seiner  Zeit  be- 


b  Hom.  in  Luc.  VIII;  Bd.  III,  p.  939. 

2)  Ibid.  p.  979,  980. 

3)  Euseb.  hist,  eccles.  VI,  36. 


% 


188 


trachtet  werden  dürfen,  was  z.  B.  für  Tertullians  gelehrte  Streitschriften 
nicht  zutrifft. 

Dieser  Stimme  aus  der  ersten  Hälfte  des  dritten  Jahrhunderts 
reihen  wir  die  höchst  bezeichnende  Betrachtung  an,  welche  der 
h.  Athanasius  an  den  vielgenannten  Abschnitt  des  Evangelisten 
Lukas  knüpft:  »Wenn  die  Eltern  der  heiligen  Märtyrer,  sagt  er,  hoch 
angesehen  sind  wegen  der  Tapferkeit  ihrer  Söhne,  wenn  sich  Sara 
freut,  dass  sie  den  Isaak  geboren,  und  wenn  diejenigen  glückselig 
sind,  welche  Samen  in  Sion  und  Verwandte  in  Jerusalem  haben, 
wie  der  Prophet  sagt;  —  wie  hoch  kann  sich  die  heilige  und  gott¬ 
ähnliche  x)  Jungfrau  Maria  rühmen,  dass  sie  Mutter  des  Wortes  ward 
nach  der  Herkunft  seines  Fleisches  und  so  sich  nennen  lässt!  Denn 
diese  göttliche  Geburt  hat  die  Engelschaar  gepriesen  und  ein  Weib 
erhob  seine  Stimme  und  sprach:  selig  der  Leib  u.  s.  w. ,  und  die 
Gebärerin  des  Herrn,  die  immerwährende  Jungfrau  Maria,  welche 
wusste,  was  in  ihr  ward,  sprach:  von  nun  an  werden  mich  alle 
Geschlechter  glücklich  preisen *  2).« 

Durch  solche  Vergleichungen  oder  Zusammenstellungen  mit 
andern  Persönlichkeiten,  hauptsächlich  aus  der  heiligen  Geschichte, 
wird  von  noch  mehreren  Schriftstellern  des  vierten  'Jahrhunderts 
die  höhere  Stellung  Mariens  im  Andenken  der  Christen  dargethan. 

Ephräm  der  Syrer  z.  B.  sagt:  es  hätte  sich  unter  der  Frauen¬ 
welt  das  Gerücht  verbreitet  gehabt  ,  dass  einmal  eine  als  Jungfrau 
gebären  werde,  und  es  hätten  die  vornehmen,  die  schönen,  kurz  alle 
gehofft,  dieses  Vorzugs  theilhaftig  zu  werden,  »der  Herr  aber,  der 
dafür  gepriesen  sei,  hatte  eine  arme  Mutter  erwählt«.  Er  gedenkt 
sodann  der  Sara,  Bachei,  Bebekka,  Elisabeth  und  sagt,  im  Vergleich 
mit  diesen  sei  Maria  glückselig,  wahrhaftig  glückselig  (wegen  des  an 
ihr  geschehenen  Wunders),  und  ruft  aus:  »wrann  hat  jemals  eine 
Mutter  existirt,  die  Marien  ähnlich  war?«  3) 

Chrysostomus  hat  einen  ähnlichen  Gedanken.  »Wie  viele 
Weiber,  sagt  er,  priesen  jene  heilige  Jungfrau  glückselig  und  ihren 
Mutterleib,  und  hätten  gewünscht,  solche  Mütter  zu  werden!«  4)  In 
höchst  eigentümlicher  Weise  zieht  ebenderselbe  aus  einer  Begeben¬ 
heit  im  Leben  der  heil.  Jungfrau,  ihrer  Bückkehr  aus  Aegypten, 

*)  UeoeiSyk. 

2)  Fragm.  comment.  in  Luc.  Gallandi  T.  V,  p.  187.  Ed.  Maurin.  T.  I,  p.  1270. 

3)  De  nat.  sermo  VI;  Tom.  II,  Syr.  et  lat.  p.  420. 

4J  Horn,  in  Matth.  44,  al.  45,  n.  2;  Edit.  Montf.  Tom.  VII,  p.  469. 


189 


einen  Titel  ihrer  Verherrlichung.  Er  meint,  das  jüdische  Volk  habe 
sich  etwas  Besonderes  darauf  zu  gute  gethan,  dass  es  aus  Aegypten 
gekommen  sei,  und  darum  sei  die  Rückkehr  Mariens  mit  dem  Kinde 
aus  Aegypten  nichts  Zufälliges  gewesen,  »sondern  auch  dieses  macht 
die  Jungfrau  herrlich  und  ausgezeichnet,  denn  was  das  ganze  Volk 
als  Verherrlichung  ansah,  das  durfte  auch  ihr  nicht  vorenthalten 
bleiben,  ....  sie  musste  auch  diesen  Vorzug  haben«  x).  An  einem 
andern  Orte  sagt  er,  Gott  selbst  »habe  sie  von  Anfang  an  geehrt, 
indem  er  in  ihr  die  Gesetze  der  Natur  veränderte« *  2),  und  wie  hoch 
ihr  Sohn  sie  geehrt  habe ,  gehe  daraus  hervor ,  dass  er  auf  ihre 
Bitte,  wenn  er  dieselbe  auch  ungelegen  gefunden  habe,  doch  das 
Wunder  zu  Kana  gewirkt  habe 3),  und  dann  besonders  daraus,  dass 
er  seinen  Jünger  Johannes  durch  die  Anempfehlung  der  Mutter  so 
sehr  habe  ehren  wollen.  »Siehe  dein  Sohn!  Ha!  welche  Ehre! 
Mit  wie  grosser  Ehre  hat  er  den  Schüler  geehrt!«  4)  —  Aus  diesen 
Aeusserungen  kann  man,  beiläufig  bemerkt,  ersehen,  dass  den 
nüchtern-praktischen  Ghrysostomus  seine  oben  dargelegte  realistische 
Auffassung  der  innern  Entwickelung  Mariens  nicht  hinderte,  der 
Vollendeten  ein  verherrlichendes  Gedächtniss  zu  bewahren. 

Von  Ambrosius  hier  etwas  anzuführen,  ist  eigentlich  nach  dem 
Frühem  vollkommen  überflüssig ;  wir  beschränken  uns  daher  auf 
zwei  Stellen.  Bei  einer  Zusammenstellung  mit  Zacharias  sagt  er 
von  Maria:  »Sie  verdient  zu  hören:  selig  bist  du,  die  du  geglaubt 
hast.  Ja  wahrhaft  selig  ist  sie,  die  vorzüglicher  ist,  als  der  Priester; 
da  dieser  nein  sagte,  verbesserte  sie  den  Irrthum5).«  An  einem 
andern  Orte  stellt  er  sie  über  alle  Menschen.  »Man  möchte  ein¬ 
werfen,  sagt  er,  wie  kannst  du  nur  Maria  als  Beispiel  aufstellen, 
als  ob  jemand  gefunden  werden  könnte ,  der  die  Mutter  des  Herrn 
nachahmen  könnte  6)?« 

Epiphanius  vergleicht  sie  mit  »der  heiligen  Thekla«  und  be¬ 
merkt:  sie  sei  »mehr  in  Ehren  gehalten  als  diese«  wegen  des  an 
ihr  geschehenen  Wunders  7). 


9  Hom.  VIII,  Tom.  VII,  p.  125. 

2)  De  fut.  vitae  delic.  Tom.  III,  p.  341. 

3)  Hom.  in  Matth.  44,  al.  45,  n.  2. 

4)  Hom.  85,  Tom.  VIII,  p.  506. 

5)  Expos,  ev.  sec.  Luc.  I.  II,  n.  17. 

6)  De  virg.  1.  II,  e.  III,  21. 

7)  Haer.  79,  5. 


190 


Hieronymus  setzt  Zacharias  und  Elisabeth  »tief  unter  die 
Heiligkeit  der  seligen  Maria«,  wie  wir  oben  (S.  164)  gesehen  haben, 
und  an  einem  andern  Orte  sagt  er:  »ich  schweige  von  Anna  und 
Elisabeth  und  den  andern  heiligen  Frauen,  deren  Sternfünkchen  das 
helle  Licht  Mariens  verdunkelt *).« 

Wir  brauchen  die  Sache  nicht  weiter  zu  verfolgen;  wir  haben 
ohnehin  noch  ein  paar  Fragmente  von  Predigten  mitzutheilen,  die 
weiter  gehen  als  das  Aufgeführte.  Es  ist  ja  hiedurch  wohl  zur 
Genüge  dargethan ,  namentlich  wenn  man  das  in  den  früheren 
Kapiteln  Abgehandelte  hereinzieht,  dass  die  Persönlichkeit  Mariens 
nach  ihrem  Tode  von  den  ersten  Zeiten  an  in  hervorragender 
Weise  im  Gedächtniss  der  Christen  nicht  bloss  haften  blieb,  sondern 
stetig  eine  höhere  Stufe  bewundernden  und  verehrenden  Andenkens 
erstieg. 

Es  ist  nun  von  den  intimeren  Faktoren  der  Verehrung  zu 
reden.  Bei  der  Betrachtung  derselben  befolgen  wir  kein  strenges 
System,  wir  suchen  nicht  einmal  die  allgemein  menschlichen  und 
die  specifisch  christlichen  Bestandtheile  scharf  auseinanderzuhalten. 
Es  Hesse  sich  dieses  auch  nicht  wohl  durchführen ,  denn  beide 
Arten  spielen  bei  unserem  Gegenstände ,  wie  wir  schon  gesehen 
haben,  in  einander;  auch  die  allgemein  menschlichen  Faktoren  haben 
eine  christliche  Färbung. 

2)  Zuerst  weisen  wir  auf  einen  ferneren  Punkt  hin,  welcher  in 
den  früheren  Abschnitten  enthalten  ist,  wir  meinen  die  Thatsache, 
dass  Maria  als  nachahmungswürdiges  Beispiel  aufgestellt  worden 
ist;  denn  wenn  ein  Verstorbener  wegen  seiner  Vorzüge  den  Ueber- 
lebenden  als  Muster  vor  Augen  gestellt  wird,  beweist  das  schon 
eine  innigere  Verehrung.  Jedoch  wir  haben  nicht  mehr  näher  da¬ 
rauf  einzugehen.  Dass  und  wie  es  geschehen,  wie  Maria  insbesondere 
den  Jungfrauen  als  Spiegel  vorgehalten,  wie  und  von  welcher  Zeit 
an  sie  als  Anfängerin  der  Jungfräulichkeit  gepriesen  worden,  ist  zur 
Genüge  abgehandelt.  Wir  haben  darum  nur  beizufügen,  dass  diess 
mit  noch  manchen  Stellen  aus  den  Kirchenvätern  belegt  werden 
könnte,  die  wir  aber  unterdrücken,  weil  die  Sache  durch  das  Obige 
klar  gelegt  ist. 

3)  Der  Unsterblichkeitsglaube,  sagten  wir  ferner,  verleiht  der  Ver¬ 
ehrung  der  Verstorbenen  bei  den  alten  Christen  einen  specifischen 


')  Prol.  zu  Explan,  in  Sophon.  Tom.  III,  p.  1642. 


191 


Charakter.  Man  weiss  sich  in  fortdauerndem  organischen  Zusam¬ 
menhang  und  der  praktische  Verkehr  besteht  im  Gebet,  wie  er  schon 
auf  Erden  bestand.  Er  unterscheidet  sich  aber  von  letzterem  wieder 
in  einem  wesentlichen  Punkte,  indem  die  auf  Erden  lebenden  Christen 
gegenseitig  für  einander  beten,  die  Vollendeten  und  im  Himmel 
Befindlichen  aber  des  Gebetes  der  Hinterbliebenen  nicht  mehr  für 
sich  bedürfen.  Darum  vertreten  die  Seligen  ihre  irdischen  Brüder 
bei  Gott,  letztere  aber  bitten  jene  um  diesen  Beistand.  Wir  haben 
gesehen,  dass  in  der  ersten  Hälfte  des  dritten  Jahrhunderts  hievon 
als  von  einem  allgemeinen  Verhältnisse  die  Rede  ist,  und  müssen 
daher  auch  Maria  daran  theilnehmen  lassen.  Aber  diess  genügt 
nicht,  es  sind  positive  Zeugnisse  aufzusuchen,  ob  und  wie  dieses 
allgemeine  Verhältniss  auch  speciell  auf  Maria  seine  Anwendung  findet. 

Die  älteste  Hinweisung  hierauf  sieht  man  häufig  in  der  oben 
(S.  173)  mitgetheilten  Stelle  des  Irenäus,  wo  er  sie  »Beisteherin  der 
Eva«  nennt.  Massuet,  der  treffliche  ältere  Herausgeber  des  Irenäus, 
macht  den  Ausdruck  zum  Gegenstand  einer  eingehenden  Unter¬ 
suchung.  Das  ursprünglich  griechisch  geschriebene  Buch  des  Irenäus 
existirt  zum  grössten  Theil  nur  noch  in  einer  beinahe  gleichzeitigen, 
sklavisch  treuen  lateinischen  Uebersetzung.  Diese  Uebersetzung  hat 
hier  den  Ausdruck  »advocata  Evae«.  Es  könnte  nun  die  Frage 
entstehen,  welches  griechische  Wort  zu  Grunde  liegt?  Etwa  jiapa'xX/jrog, 
was  nicht  bloss  »Fürsprecherin«,  sondern  auch  »Trösterin«  bedeuten 
kann,  oder  ovvrjopog,  was  dem  advocata  ganz  entspricht,  und  was 
auch  später  Ephräm  der  Syrer  in  der  syrisirten  Form  sengiro  für 
Maria  braucht?  x)  Massuet  hält  die  Untersuchung,  wie  das  griechische 
Original  gelautet  habe,  für  überflüssig.  Er  zieht  die  Parallelstellen 
des  Werkes  herbei,  die  dasselbe  Wort  —  advocatus  —  enthalten, 
um  aus  dem  Zusammenhang  die  Bedeutung  herauszubringen,  welche 
der  Uebersetzer  damit  verband.  Diese  Bedeutung  ist  an  den  übrigen 
Stellen  augenscheinlich  =  defensor  oder  etwas  Synonymem.  Da 
nun  der  gewissenhafte  Uebersetzer  immer  dasselbe  griechische  Wort 
mit  demselben  lateinischen  wiedergegeben  haben  wird,  so  hat  das 
»advocata«  unserer  Stelle  ebenfalls  den  Sinn  von  defensor  oder  so 
etwas,  d.  h.  Beistand,  Fürsprecherin.  Folglich  nennt  Irenäus  Maria 
Fürsprecherin,  Fürbitterin.  —  Was  uns  betrifft,  so  sehen  wir  in  der 


*)  Sermo  de  nat.  Chr.  IV,  p.  416;  XIII,  p.  435.  S.  Augusti,  Denkwürdig¬ 
keiten,  Bd.  III,  S.  16. 


192 


Stelle  keinen  zwingenden  Beweis,  dass  Irenaus  Maria  gerade  speciell 
als  Fürbitterin  der  Eva,  oder  weil  Eva  hier  die  Repräsentantin  der 
ganzen  unerlösten  Menschheit  ist,  als  Fürbitterin  für  die  Menschheit 
habe  bezeichnen  wollen;  wir  glauben,  dass  damit  zunächst  nichts 
anderes  gemeint  ist,  als  mit  den  übrigen  verwandten  Aussprüchen, 
dass  nemlich  Maria  in  ihrer  Eigenschaft  als  Mutter  des  Erlösers 
der  Menschheit  eben  Bestellerin  der  Eva,  d.  h.  der  Menschheit  ge¬ 
nannt  wird,  und  dass  ihr  dadurch  ihr  Theil  am  Erlösungswerke 
gesichert  ist.  Doch  bleibt  der  Ausdruck  des  Uebersetzers  an  sich 
sehr  merkwürdig,  da  er  zum  liturgischen  Ehrentitel  geworden  ist, 
der  bis  heute  in  Anwendung  steht.  »Advocata  nostra«  heisst  Maria 
in  den  kirchlichen  Gebeten  und  Gesängen.  Indessen  wollen  wir 
nicht  gesagt  haben,  dass  darum  Irenäus  der  heiligen  Jungfrau  nach 
ihrem  Tode  die  fortdauernde  Bethätigung  ihrer  Liebe  zu  den  Menschen 
vorenthalten  haben  müsse,  um  so  weniger,  als  ein  anderes  ungefähr 
gleichzeitiges  Produkt  der  altchristlichen  Literatur  sie  in  dieser 
Thätigkeit  erblickt. 

In  dem  zweiten  und  wiederholt  in  dem  achten  Buche  der 
»Sibyllinischen  Orakel«  nemlich,  welche  beiden  Bücher  nach 
Friedlieb  aus  dem  Ende  des  zweiten  Jahrhunderts  stammen1),  findet 
sich  folgender  Passus:  Gott  werde  beim  Gerichte  sein  Angesicht  von 
den  Sündern  abwenden ,  »denn  sieben  Zeitalter  der  Busse  hat  er 
gegeben  den  irrenden  Menschen  durch  die  Hand  der  heiligen  (reinen, 
ayvTjg)  Jungfrau«.  Unter  der  »Hand«  ist  wohl  auch  hier  die  flehende 
oder  schirmende  Hand  zu  verstehen,  wie  diess  so  häufig  bei  Homer 
vorkommt.  Wollte  man  übrigens  diese  Stelle  in  ihrer  ganzen  Prägnanz, 
da  Maria  hier  eigentlich  als  Intercedentin  zwischen  der  göttlichen 
Gerechtigkeit  und  der  strafwürdigen  Menschheit  auftritt,  für  den 
Ausdruck  des  allgemeinen  Zeitbewusstseins  halten,  so  würde  man  zu 
weit  gehen.  Sie  bleibt  wichtig  genug  auch  als  Efflorescenz  eines 
visionär  gestimmten  Sinnes. 

Das  nächste  Zeugniss  für  die  Auffassung  der  Position ,  welche 
Maria  im  Himmel  einnimmt,  stammt  etwa  aus  dem  Jahr  240.  Es  ist 
die  Vision  Gregors  des  Wunderthäters.  Gregor  wurde  um  diese 
Zeit  zum  Bischof  von  Neucäsarea  erwählt.  Um  sich  auf  sein  Amt 
vorzubereiten,  zog  er  sich  in  die  Einsamkeit  zurück  und  soll  dort 
die  Erscheinung  gehabt  haben,  die  sein  Biograph,  Gregor  von  Nyssa, 


9  Orac.  sib.  ed.  Friedlieb,  Lips.  1852.  L.  II,  312  u.  313;  VIII,  357. 


193 


mit  folgenden  Worten  erzählt:  »Während  er  einmal  nächtlicher 
Weile  über  die  Worte  des  Glaubens  nachdachte  und  allerlei  Er¬ 
wägungen  pflog  .  .  .  . ,  erschien  ihm  in  wachendem  Zustande  eine 
Gestalt  in  menschlicher  Bildung,  als  ein  Greis  anzusehen,  in  priester- 
lieber  Haltung  und  Kleidung,  mit  dem  Ausdruck  hehrer  Tugend  in 
dem  huldvollen  Antlitz  und  in  der  ganzen  Art  seiner  Erscheinung. 
Erschreckt  durch  das  Gesicht  musste  Gregor  vom  Bette  aufstehen 
und  fragen,  wer  er  sei  und  warum  er  komme.  Da  aber  jener  die 
Bestürzung  seiner  Seele  mit  milder  Stimme  hob  und  sprach :  er  sei 
ihm  auf  göttliche  Anordnung  erschienen  um  seiner  Zweifel  willen, 
damit  ihm  enthüllt  werde  die  Wahrheit  des  gottseligen  Glaubens, 
so  hätte  er  wieder  Muth  bekommen  und  ihn  angeschaut  mit  einer 
gewissen  freudigen  Bestürzung.  Da  hierauf  jener  die  Hand  aus¬ 
streckte  und  gleichsam  auf  etwas  von  der  Seite  Erschienenes  hin¬ 
zeigte,  so  hätte  er  den  eigenen  Blick  nach  der  Richtung  seiner 
Hand  gewendet  und  der  ersten  Erscheinung  gegenüber  eine  andere 
Gestalt  gesehen  in  weiblicher  Bildung  von  übermenschlicher  Würde. 
Aufs  Neue  erschreckt,  habe  er  den  Blick  gesenkt,  geblendet  von  der 
Erscheinung  und  ausser  Stande,  sie  anzuschauen.  Denn  das  Wunder¬ 
bare  des  Gesichtes  bestand  besonders  darin,  dass  trotz  der  tiefen 
Nacht  von  den  Gestalten  ein  Licht  ausstrahlte,  als  ob  sie  ein 
leuchtender  Glanz  umhülle.  Da  er  nun  nicht  im  Stande  war,  die 
Erscheinung  mit  den  Augen  zu  ertragen,  hörte  er,  wie  die  Gestalten 
in  Wechselrede  x)  den  Gegenstand  seiner  Untersuchung  abhandelten, 
wodurch  er  nicht  nur  über  das  wahre  Verständniss  des  Glaubens 
belehrt  wurde,  sondern  auch  die  Namen  der  Gestalten  kennen  lernte, 
indem  eine  die  andere  bei  ihrem  Eigennamen  aufrief.  Denn  er  soll 
von  der  weiblichen  Erscheinung  die  Aufforderung  an  den  Evangelisten 
Johannes  vernommen  haben,  dem  jungen  Manne  (Gregor)  das  Ge- 
heimniss  des  Glaubens  zu  offenbaren;  jener  aber  habe  geantwortet, 
gerne  sei  er  auch  hierin  der  Mutter  des  Herrn  zu  Willen,  da  es  ihr 
angenehm  sei  2).«  Johannes  habe  ihm  nun  das  Glaubensbekenntniss 
mitgetheilt,  das  Gregor  nach  dem  Verschwinden  der  Gesichte  so¬ 
gleich  niederschrieb.  Das  Autograph  dieses  berühmten  Glaubensbe¬ 
kenntnisses  war  zur  Zeit  des  Gregor  von  Nyssa  noch  in  Neucäsarea 


!)  Nach  der  Leseart  der  Pariser  Ausgabe:  itpo?  a XX-qXou<;. 
2)  Greg.  Nyss.  V.  Greg.  Thaum.  c.  8  u.  9. 

Lehn  er.  Die  Marienverehrung. 


13 


194 


vorhanden 1).  Seine  und  seines  Bruders  Basilius  Grossmutter 
Macrina  war  selbst  von  dem  Wunderthäter  darnach  unterrichtet 
worden  und  hatte  es  ihren  Enkeln  nach  Cappadocien  gebracht 2). 
Diese  Macrina,  eine  ebenso  vornehme,  reiche  und  hochgebildete, 
als  christlich  fromme  Dame,  war  für  unsern  Biographen  ohne 
Zweifel  auch  die  nächste  Quelle  der  mitgetheilten  himmlischen  Er¬ 
scheinung.  Es  ist  daher  an  dem  hohen  Alter  dieser  Geschichte 
wohl  kaum  zu  zweifeln.  Vielleicht  finden  wir  sogar  bei  dem  verehrten 
Lehrer  des  Gregorius,  bei  Origenes,  eine  Spur  davon.  Wir  erinnern 
an  dasjenige,  was  Origenes  oben  (S.  151)  über  das  Verhältniss 
Mariens  zum  Johannesevangelium  sagt,  dass  nemlich  dessen  Sinn 
Niemand  fassen  könne,  wer  nicht  ....  von  Jesus  Maria  auch  zur 
Mutter  erhalten  habe.  Gregor  hörte  den  Origenes  zu  Cäsarea  mehrere 
Jahre  lang  zwischen  230  und  240.  Origenes  stand  mit  ihm  im  Brief¬ 
wechsel,  denn  es  existirt  noch  ein  Brief  desselben  an  Gregor  aus  der¬ 
selben  Zeit.  Konnte  er  nicht  von  der  Vision,  die,  wie  gesagt,  um  das 
Jahr  240  stattgefunden  haben  soll,  gehört  und  infolge  hievon  jene 
Wendung  in  seinem  Commentar  zum  Johannesevangelium ,  den  er 
höchst  wahrscheinlich  erst  nachher  zu  Athen  vollendete  3),  gebraucht 
haben?  Die  Sache  gewinnt  um  so  mehr  Scheinbarkeit,  wenn  man 
sich  erinnert,  dass  Origenes  auch  sonst  viel  auf  Visionen  hielt.  So 
sagt  er  einmal  in  seinem  Buch  gegen  Celsus  (verfasst  im  Jahre  247!): 
»viele  seien  beinahe  wider  ihren  Willen  zum  Christenthum  gezogen 
worden,  nach  Visionen  im  Schlaf  oder  Wachen4).«  Diese  Hin¬ 
deutung  auf  einen  möglichen  Zusammenhang  zwischen  der  erzählten 
Vision  und  der  Stelle  aus  Origenes  soll  jedoch  nur  als  beiläufige 
Bemerkung  gelten. 

Wenn  man  nun  die  Erzählung  etwas  näher  betrachtet,  so  er¬ 
scheint  Maria  darin  1.  als  Himmelsbewohnerin  im  Allgemeinen,  als 
Heilige;  2.  als  solche,  welche  in  ihrem  himmlischen  Wohnsitz  von 
den  Bedürfnissen  der  Erdenbewohner  nicht  bloss  Kenntniss  hat, 
sondern  auch  sich  ihrer  annimmt;  3.  vikarirt  sie  gewissermassen  für 
ihren  Sohn,  denn  es  ist  ihr  darum  zu  thun,  dass  der  rechte  Glaube 
verbreitet  werde;  4.  zeigt  sie  sich  in  erhabenerer  Erscheinung,  als 


9  Ibid. 

2)  Basil.  ep.  204,  n.  6.  Edit.  Maurin;  De  spir.  s.  c.  29,  n.  74. 

s)  Euseb.  e.  h.  VI,  32. 

9  C.  Cels.  I;  T.  I,  p.  35. 


195 


ihr  ebenfalls  dem  Himmel  angehörender  Adoptivsohn,  in  übermensch¬ 
licher  Würde,  und  der  Lieblingsjünger  beugt  sich  mit  Verehrung 
ihrem  Willen.  Sie  ist  also  hier  nicht  bloss  Beisteherin,  advocata, 
im  Allgemeinen ,  sie  ist  Mittlerin ,  Gehilfin  ihres  Sohnes  an  seinem 
Werke  auch  vom  Himmel  aus,  wie  sie  es  auf  Erden  war,  ja  sie 
zeigt  bereits  die  erste  Spur  von  ihrer  spätem  Würde  als  Königin 
der  Apostel  und  steht  darum  schon  auf  der  ersten  Stufe  zum  Throne 
der  künftigen  Himmelskönigin.  Von  der  Vision  mag  man  denken, 
was  man  will,  man  mag  sie  als  äusseres  oder  inneres  Erlebniss  des 
Gregorius  nehmen,  als  Traum,  oder  gar  als  seine  oder  seiner  Freunde 
Erfindung,  um  seinem  Glaubensbekenntniss  ein  höheres  Ansehen  zu 
verschaffen;  das  ändert  an  dem  für  uns  interessanten  Resultate 
nichts.  Ja,  wenn  man  darin  ein  erdichtetes  Mittel  der  Propaganda 
sieht,  so  verallgemeinert  diess  nur  die  eben  gekennzeichnete  An¬ 
schauung  von  Maria,  denn  es  setzt  voraus,  dass  man  von  der  Wir¬ 
kung  des  Mittels  in  weiteren  Kreisen  überzeugt  war. 

Schliesslich  ist  über  die  Vision  als  solche  noch  ein  Wort  zu 
sagen.  Muttergotteserscheinungen  —  welche  Rolle  spielen  sie  nicht 
in  der  Legende  des  Mittelalters,  welche  hohe  Stelle  nehmen  sie  nicht 
in  der  Geschichte  mystischer  Frömmigkeit  ein,  und  wie  sind  sie  für 
Dichter  und  Künstler  ein  hundertmal  benützter  Stoff  geworden! 
Obige  Geschichte  ist  darum  auch  desswegen  höchst  merkwürdig, 
weil  sie  uns  den  ältesten  Fall  einer  Mariophanie  überliefert.  Diese 
Mariophanie  scheint  auch  für  lange  Zeit  die  einzige  zu  bleiben.  Die 
nächste,  von  welcher  wenigstens  wir  wissen,  ist  diejenige,  welche 
Sulpicius  Severus  im  Jahre  405  in  seinen  Dialogen  erzählt.  Er  lässt 
dort  den  heiligen  Martin  von  Tours  berichten,  dass  Agnes,  Thekla 
und  Maria  öfters  bei  ihm  gewesen  seien.  Martin  habe  auch  Züge  und 
Gestalt  der  Erscheinungen  beschrieben  x).  Soviel  über  Gregors  Vision. 

Wir  müssen  nun  noch  einmal  einen  Blick  auf  die  Stelle  des 
Origenes  zurück  werfen,  die,  wie  gesagt,  ungefähr  aus  derselben  Zeit 
stammt.  Wenn  sie  auch  nicht  mit  der  eben  erzählten  Geschichte 
zusammenhängt,  so  hat  sie  doch  einen  verwandten  Inhalt.  Auch 
ihr  liegt  die  Vorstellung  zu  Grunde,  dass  Maria  als  Himmelsbewohnerin 
für  die  Menschen  fortdauernd  mütterlich  besorgt  sei,  hauptsächlich 
in  Sachen  des  Glaubens. 

So  wäre  denn  die  eine  Seite  des  Verkehrs  zwischen  Maria  im 


9  Sulpic.  Severi  Dialog.  II,  c.  13.  Gallandi  T.  VIII,  pag.  414. 


196 


Himmel  und  den  Menschen  auf  Erden ,  die  Aktion  von  oben  nach 
unten,  erwiesen.  Es  handelt  sich  jetzt  darum,  nach  Zeugnissen  für 
die  andere  Seite,  für  die  Aktion  von  unten  nach  oben,  mit  andern 
Worten  nach  einem  Gebet  zu  Maria  sich  umzusehen. 

Das  älteste  uns  bekannte  findet  sich  bei  Gregor  von  Nazianz 
(f  um  389)  in  seiner  Lobrede  auf  den  Martyr  Cyprian  erwähnt *). 
Als  Cyprian  noch  Heide  war,  entbrannte  er  in  Liebe  gegen  die 
schöne  Christin  Justina  und  bediente  sich  eines  Dämons  als  Kuppler. 
Justina  nahm  vor  dem  Versucher  ihre  Zuflucht  zu  Gott,  welcher 
Susanna  und  Thekla  bewahrt  habe,  und  zur  Allmacht  Christi,  »und 
flehte  die  Jungfrau  Maria  an,  dass  sie  ihr,  der  in  Gefahr  schweben¬ 
den  Jungfrau,  zu  Hilfe  kommen  möchte«. 

Gregor  confundirt  in  dieser  Rede  zwei  -  verschiedene  Cypriane 
mit  einander,  den  berühmten  Bischof  von  Carthago  und  einen  Orien¬ 
talen,  der  unter  Diocletian  zugleich  mit  der  heiligen  Justina,  durch 
die  er  bekehrt  worden,  und  deren  Martyrium  die  Kaiserin  Eudokia  be¬ 
sang,  den  Martyrtod  erlitten  haben  soll.  Er  verlegt  also  jenes  Gebet 
in  die  erste  Hälfte  des  dritten  Jahrhunderts,  da  der  grosse  Cyprian  schon 
um  das  Jahr  245  Christ  wurde.  Dem  Ende  dieses  Jahrhunderts  oder  den 
ersten  Jahren  des  vierten  kann  das  Gebet  angehören,  da  die  diocletia- 
nische  Verfolgung,  welcher  die  beiden  zum  Opfer  gefallen  sein  sollen,  im 
Jahr  303  begann.  Ist  aber  die  Notiz  bei  Gregor  nicht  streng  historisch 
zu  nehmen ,  sondern  nur  als  ein  Motiv  für  die  rhetorische  Aus¬ 
malung  der  Gefahr  und  der  dagegen  ergriffenen  Rettungsmittel  zu 
betrachten,  so  ist  doch  soviel  klar,  dass  ihm  selbst  ein  solches  Gebet 
als  ganz  in  der  Ordnung  , vorkommt.  Ja,  es  muss  ihm  sowie  seinen 
Zuhörern  ein  Gebet  zur  heiligen  Jungfrau  schon  so  geläufig  gewesen 
sein,  dass  er  es  ganz  unbefangen  in  die  Vergangenheit  verlegen 
konnte;  denn  er  will  offenbar  mit  der  Notiz  nichts  Neues  Vorbringen, 
sondern  etwas  so  Selbstverständliches,  wie  die  Zuflucht  zu  Gott, 
insbesondere  für  den  speciellen  Fall  gefährdeter  Jungfräulichkeit.  Es  ist 
hiemit  also  wenigstens  für  die  zweite  Hälfte  des  vierten  Jahrhunderts 
auch  die  andere  Seite  des  fortdauernden  Verkehrs  zwischen  Maria 
und  den  Gläubigen,  das  Beten  zu  Maria,  urkundlich  dargethan. 

Für  ihre  Position  im  Himmel  gibt  der  Zeitgenosse  des  Gregor 
von  Nazianz,  der  h.  Ambrosius,  einen  weiteren  Beitrag.  Er  schliesst 
seine  oben  (S.  161  ff.)  mitgetheilte  Charakteristik  Mariens  mit  folgen- 


*)  Or.  24;  ed.  Clemencet  (ehemals  or.  18;  ed.  Bill). 


197 


den  Worten:  »0  wie  vielen  Jungfrauen  wird  Maria  entgegengehen, 
wie  viele  wird  sie  umarmen  und  zum  Herrn  ziehen  mit  den  Worten: 
diese  hat  das  Brautgemach,  diese  hat  das  Bett  meines  Sohnes  in 
unbefleckter  Keuschheit  bewahrt  ....  Welch  ein  Fest,  welche 
Freude  der  Beifall  klatschenden  Engel  wird  es  sein ,  wenn  diejenige 
im  Himmel  zu  wohnen  für  würdig  erfunden  wird,  welche  auf  Erden 
ein  himmlisches  Leben  gelebt  hat!  Dann  wird  auch  Maria  die  Hand¬ 
pauke  ergreifen  und  die  jungfräulichen  Chöre  aufrufen,  die  dem  Herrn 
singen,  weil  sie  durch  das  Meer  der  Welt  ohne  weltliche  Sturm- 
fluthen  hindurchgegangen  1)«  .  .  .  .  Ambrosius  bringt  hienach  die 
Funktionen  Marias  im  Himmel  ebenfalls  in  besondere  Beziehung  zum 
Jungfrauenstande.  Sie  begrüsst  die  im  Himmel  anlangenden  jung¬ 
fräulichen  Seelen  und  führt  sie  ihrem  Sohne  vor,  und  sie  ruft  die 
jungfräulichen  Chöre  zum  Preisgesange  auf.  Wie  wir  daher  in  der 
Vision  des  Wunderthäters  die  erste  Spur  ihres  späteren  Titels 
»Königin  der  Apostel«  fanden,  so  sehen  wir  hier  eine  neue  Krone 
winken,  die  Krone  der  »Königin  der  Jungfrauen«. 

Es  begreift  sich  übrigens  von  selbst,  dass  das  Urbild  der  Jung¬ 
fräulichkeit  auf  Erden  auch  im  Himmel  vorzugsweise  als  solches  in 
Thätigkeit  ist,  darum  sagt  ein  weiterer  Zeitgenosse,  Cyrill  von  Jeru¬ 
salem:  »Engel  auf  Erden  sind  die  der  Keuschheit  Beflissenen.  Die 
Jungfrauen  haben  mit  Maria,  der  Jungfrau,  ihrTheil2).« 

Auch  Epiphanius  meint,  dass  »ihre  Krone  bei  den  Jungfrauen« 
sei,  doch  schwankt  er,  ob  er  sie  nicht  auch  mit  der  Martyrkrone 
geschmückt  sich  vorstellen  soll,  da  das  »Schwert  Simeons«  ihr  viel¬ 
leicht  einen  gewaltsamen  Tod  prophezeit  haben  könnte.  Am  meisten 
aber  scheint  er  sich  der  Ansicht  zuzuneigen,  dass  sie  gar  nicht  ge¬ 
storben,  sondern  durch  ein  Wunder  der  Erde  entrückt  sei,  und  weist 
ihr  hiedurch  offenbar  eine  eigene,  ausgezeichnete  Stellung  im  Himmel 
an  3).  Wir  haben  seine  eigenen  Worte  im  nächsten  Kapitel  in  anderem 
Zusammenhänge  wiederzugeben. 

Für  die  Vorstellung  von  Maria  als  Fürbitterin  für  die  ganze 
Menschheit  haben  wir  aus  dem  Ende  des  vierten  und  dem  Anfang 
des  fünften  Jahrhunderts  mehrere  Belege.  Da  sie  sich  aber  haupt¬ 
sächlich  in  Produkten  der  Poesie  vorfinden,  und  daher  im  nächsten 


9  De  virg.  I.  II,  c.  11,  n.  16  u.  17. 

2)  Gatech.  XII,  34. 

3)  Haer.  78,  11  u.  24. 


198 


Kapitel  wörtlich  Vorkommen,  ist  die  Sache  hier  bloss  zu  erwähnen. 
In  einem  dieser  Produkte,  dem  Büchlein  vom  »Hingang  Mariens« 
erscheint  sie  nicht  bloss  nach  ihrem  Tode  in  dieser  Rolle,  sondern 
schon  vor  demselben,  wie  wir  sehen  werden.  Wir  glauben,  dass 
die  letztere  Vorstellung  nur  ein  Widerschein  der  ersteren  ist. 
Die  nemliche  Funktion,  in  welcher  man  Maria  im  Himmel  sah, 
wurde  auch  auf  ihr  Erdenleben  übertragen.  Sie  war  dieselbe  hüben 
wie  drüben.  Und  darum  sehen  wir  sie  auch  bei  Gaudentius  von 
Brescia  in  dieser  Funktion  schon  auf  der  Hochzeit  zu  Cana.  Unter 
dem  fehlenden  Wein,  um  welchen  Maria  dort  bittet,  ist  nemlich 
(s.  oben  S.  164)  der  heilige  Geist  zu  verstehen,  den  Maria,  wenn 
auch  verfrüht,  für  die  Menschen  erfleht.  Merkwürdig  ist,  was  dann 
Gaudentius  noch  weiter  hieran  knüpft.  »Die  Mutter  des  Herrn,  sagt 
er,  ist  hiebei  aber  auch  figürlich  zu  fassen,  als  das  ganze  Volk  der 
heiligen  Patriarchen  und  Propheten  und  aller  Gerechten,  von  denen 
der  Herr  nach  dem  Evangelium  den  Ursprung  seines  Fleisches  her¬ 
leitet  (Matth.  I,  1)  ...  .  Diese  Mutter  des  Herrn  also,  die  Generation 
der  Patriarchen  und  Propheten,  trat  ein  für  uns  Heiden  beim  ewigen 
Sohne  Gottes  und  ihrem  Sohne  nach  dem  Fleische,  dass  er  uns 
Darbenden  die  Fröhlichkeit  des  himmlischen  Weines  gebe  1 ).«  Weiter 
unten  wiederholt  er  den  Gedanken:  ausser  Maria,  der  eigentlichen 
Mutter,  habe  hier  das  Volk  der  heiligen  Patriarchen  und  Propheten, 
das  ja  wegen  der  Abstammung  Christi  auch  als  seine  Mutter  er¬ 
kannt  werde,  »für  unsere  Nöthen  ein  Legatenamt  verwaltet«  2). 
Diese  Wendung,  in  welcher  Maria  als  Repräsentantin  der  Patriarchen 
und  Propheten  erscheint,  lässt  offenbar  wieder  zwei  ihrer  späteren 
Ehrentitel  vorausahnen,  die  Titel:  »Königin  der  Patriarchen«  und 
»Königin  der  Propheten«. 

In  das  folgende  Kapitel  haben  wir  schliesslich  auch  einige  Gebete 
—  und  darunter  welche  von  liturgischem  Charakter  —  verwiesen, 
weil  sie  in  der  Ursprache  metrisch  verfasst  sind.  Als  Gebete  und 
in  Prosa  übersetzt,  wie  sie  sind,  könnten  sie  ebensogut  hier  stehen. 
Doch  es  mag  die  vorläufige  Bestätigung  ihres  Vorhandenseins  im  An¬ 
fang  des  fünften  Jahrhunderts  genügen.  — 

Ueber  Stellung  und  Funktionen  Mariens  im  Himmel  und  die 
gegenseitigen  Beziehungen  zwischen  ihr  und  den  Menschen  auf  Erden 


9  Sermo  9. 
2)  Ibid. 


199 


dürften  die  vorstehenden  Zeugnisse,  wenn  sie  auch  nicht  sehr  zahl¬ 
reich  sind,  ein  ziemlich  deutliches  Bild  gegeben  haben.  Dieses  Bild 
wird  aber  noch  schärfer  ans  Licht  treten,  wenn  wir  betrachten,  wie 
Epiphanius  ein  etwa  im  letzten  Drittel  des  vierten  Jahrhunderts  auf¬ 
getauchtes  Zerrbild  jener  Beziehungen ,  das  übrigens  nur  von  be¬ 
schränkter  lokaler  Bedeutung  gewesen  sein  kann,  behandelt.  Wir 
meinen  die  »Kollyridianerinnen«.  Den  Namen  bildete  offenbar 
Epiphanius  selbst  von  dem  Worte  xoXXvpig  =  Brödchen,  Kuchen,  weil 
die  von  ihm  gebrandmarkten  Frauen  der  h.  Jungfrau  solche  Kuchen 
darbrachten.  Doch  hören  wir  den  Kirchenvater  selbst.  Zunächst 
sagt  er  am  Schlüsse  seiner  Schrift  gegen  die  Antidikomarianiten : 
wie  also  Einige  »diese  heilige  und  selige  immerwährende  Jungfrau 
zu  schmähen  gewagt  haben,  ....  so  haben  wir  wiederum  mit  Ver¬ 
wunderung  das  Gegentheil  gehört.  Denn  wir  haben  vernommen, 
dass  wieder  Andere  sich  eine  thörichte  Vorstellung  von  eben  der¬ 
selben  heiligen  immerwährenden  Jungfrau  machen  und  an  Gottes 
Statt  sie  einzuführen  sich  bemüht  haben  und  bemühen  und  von 
einer  Art  Wahnsinn  und  Aberwitz  hingerissen  sind.  Denn  man  er¬ 
zählt,  dass  gewisse  Frauen  von  den  Gegenden  Thraciens  diese  nichtige 
Lehre  nach  Arabien  gebracht  haben,  dass  sie  auf  den  Namen  der 
immer  Jungfräulichen  einen  Kuchen  darbringen  und  an  einem  be¬ 
stimmten  Ort  Zusammenkommen  und  auf  den  Namen  der  heiligen 
Jungfrau,  das  Maass  überschreitend,  eine  frevelhafte  und  gottes¬ 
lästerliche  Handlung  unternehmen  und  auf  ihren  Namen  durch 
Frauenhand  Opfer  darbringen  *).«  In  einem  eigens  gegen  diese 
Verirrung  gerichteten  Artikel  ergänzt  er  die  obigen  Angaben,  indem 
er  berichtet,  der  Irrwahn  hätte  sich  aus  Thracien  und  dem  oberen 
Scythien  nach  Arabien  verbreitet,  und  fährt  dann  fort:  »einige  Frauen 
schmücken  einen  Wagen  oder  viereckigen  Stuhl,  indem  sie  eine  feine 
Leinwand  darüber  ausbreiten  und  stellen  an  einem  bestimmten  (fest¬ 
lichen  ?)  Tage  des  Jahres  (an  etlichen  Tagen)  Brod  darauf  aus  und 
bringen  es  auf  den  Namen  der  Maria  dar;  alle  aber  geniessen  von 
dem  Brode *  2 * *).«  Epiphanius  weiss  dann  später  zwar  nicht  genau, 

9  Haer.  78,  23. 

2)  Haer.  79, 1.  xivei;  yap  -pvaix ec,  xoopixöv  xiva  xoafj-oöoai,  y jxoi  Shppov  zezpäjcuvov' 

auXcoaaaat  lit5  aüxöv  ottovYjv,  ev  Yjpipa  xivl  cpavspqj  xoö  szooq,  Iv  Yjpipai«;  xialv  apxov 

itpoxdHaai  ....  Den  „xoupixöv“  erklärt  der  Thesaurus  des  Stephanus  für  ein 

hölzernes  Gefäss  oder  Geräth.  Das  „sv  4]pipat<;  xialv“  ist  wohl  Glossem.  Oder 
sollte  „sv  YjjiEpa  xivt  yuvepä  xoö  l'xotx;“  Glossem  sein? 


200 


ob  »diese  müssigen  Weiber  Maria  selbst  anbeten  und  derselben  das 
Brödchen  opfern,  oder  ob  sie  diese  vorbenannte  faule  Opfergabe 
für1)  dieselbe  darzubringen  unternehmen2)«,  jedenfalls  aber  ver¬ 
gleicht  er  die  Verirrung  mit  den  heidnischen  Todtenopfern  und  er¬ 
innert  an  die  von  Jeremias  (VII,  18)  gegeisselten  Götzendienerinnen, 
»die  der  Königin  des  Himmels  Kuchen  backen«.  Er  verurtheilt  so¬ 
dann  die  Thorheit  als  Götzendienst  und  Teufels  werk  mit  den  stärksten 
Ausdrücken. 

Man  hat  verschiedene  Vermuthungen  über  Ursprung  und  Wesen 
der  Sekte  geäussert,  man  meint,  die  Frauen  seien  neubekehrte 
Heidinnen  gewesen  und  hätten  vielleicht  den  Dienst  der  »grossen 
Göttin  der  Syrer«  oder  einer  ähnlichen  weiblichen  Gottheit  auf 
Maria  übertragen,  oder  sie  seien  ursprünglich  Christinnen  gewesen 
und  hätten  mit  einer  abergläubischen  Karrikatur  der  Liebesmahle 
oder  des  heiligen  Abendmahls  zu  Ehren  Mariens  gegen  die  Anti- 
dikomarianiten,  die  ja  auch  in  Arabien  zur  selben  Zeit  sich  bemerk- 
lich  machten,  opponirt.  Doch  da  wir  nichts  weiter  über  sie  wissen, 
als  was  Epiphanius  mittheilt,  so  mag  die  Sache  auf  sich  beruhen. 
Für  uns  ist  hauptsächlich  von  Interesse,  wie  Epiphanius  die  Gelegen¬ 
heit  wahrnimmt,  das  christliche  Maass  der  Marienverehrung  zu 
kennzeichnen.  Ausser  den  oben  ihm  entnommenen  Aussprüchen 
mögen  noch  folgende  hiezu  dienen: 

»Ueber  Gebühr  soll  man  die  Heiligen  nicht  ehren,  sondern  ehren 
soll  man  ihren  Herrn  ....  denn  nicht  Gott  ist  Maria,  noch  hat  sie 
vom  Himmel  ihren  Leib ,  sondern  aus  Empfängniss ,  durch  Mann 
und  Weib3).«  »Heilig  fürwahr  war  Mariens  Leib,  aber  nicht  Gott; 
Jungfrau  fürwahr  war  die  Jungfrau  und  hochgeehrt,  aber  nicht  zur 
Anbetung  uns  gegeben ,  sondern  anbetend  den  aus  ihr  im  Fleische 
Geborenen4)  .  .  .  .«  »Sie  ist  das  auserwählte  Werkzeug,  aber  ein 
Weib  und  nicht  von  verschiedener  Natur,  ihrem  Geist  und  ihrer 
Gesinnung  nach  aber  in  grössten  Ehren  gehalten,  wie  die  Körper 
der  Heiligen  (und  über  dieselben,  wie  z.  B.  über  Thekla,  s.  oben)5).« 
»In  Ehren  sei  Maria,  aber  angebetet  werde  der  Vater  und  der  Sohn 


!)  ÜTlSp  a£>T7]?. 

2)  Haer.  79,  9. 

3)  Haer.  78,  24 

4)  Haer.  79,  4. 

5)  Haer.  79,  5. 


201 


und  der  heilige  Geist,  Marien  bete  Niemand  an.«  »Und  wenn  auch 
Maria  die  beste  ist,  und  heilig  und  hochgeehrt,  so  ist  sie  doch  nicht 
anzubeten  x).«  »Maria  sei  in  Ehren,  der  Herr  sei  angebetet*  2).« 

Man  sieht,  Epiphanius,  wie  hoch  er  sonst  Maria  preisen  mag, 
steht  auf  demselben  Boden,  wie  die  anderen  Gewährsmänner  und 
weist  nur  jede  Uebertreibung  des  andächtigen  Verkehrs  der  Menschen 
mit  der  Verklärten  als  heidnischen  Frevel  ab.  Er  hat  aber  hierin 
auch  noch  andere  Genossen.  Ambrosius  z.  B.  sagt  ebenfalls:  (die 
Anbetung)  »ist  nicht  auf  die  Jungfrau  Maria  zu  beziehen.  Maria 
war  der  Tempel  Gottes,  nicht  der  Gott  des  Tempels,  und  darum  ist 
derjenige  allein  anzubeten,  welcher  in  dem  Tempel  wirkte;«3)  und 
Cyrill,  der  Alexandriner,  den  wir  bald  auch  als  Panegyriker  kennen 
lernen  werden,  antwortet  auf  die  Bemerkung  des  Nestorius: 

»nur  mache  man  die  Jungfrau  nicht  zur  Göttin«  Folgendes:  »wir 
haben,  indem  wir  sie  Gottesgebärerin  nennen ,  durchaus  Niemand 
vergöttlicht,  der  unter  den  Geschöpfen  zählt,  ....  wir  wissen,  dass 
die  selige  Jungfrau  Mensch  war,  wie  wir4).«  Auch  noch  ein  Aus¬ 
spruch  des  Bischofs  Theodoret  von  Cyrus  kann  hier  angezogen 
werden,  wenn  er  auch  vielleicht  über  die  von  uns  behandelte  Zeit 
hinausfällt,  denn  Theodoret  starb  erst  im  Jahr  458.  Er  sagt  nem- 
lich:  »(Maria)  wird  wegen  jenes  (Christi)  von  den  Gläubigen  ge¬ 
priesen  ;  denn  nicht  der  aus  ihr  (Geborene)  ist  ihretwegen  verehrungs¬ 
würdig,  sondern  sie  wird  wegen  des  aus  ihr  (Geborenen)  mit  den 
grössten  Namen  geschmückt5).« 

Diese  Limitationen  ändern  augenscheinlich  an  der  Sache  nichts, 
sondern  sie  stellen  das  Verhältniss  nur  schärfer  Umrissen  dar.  Die 
Stellung  Mariens  im  Himmel  und  ihre  Beziehungen  zu  den  Menschen 
bleiben  unangefochten;  sie  sind  im  Ganzen  dieselben,  wie  bei  den 
übrigen  Heiligen ,  wenn  auch  der  jungfräulichen  Mutter  des  Herrn 
ein  gewisser  Vorrang  zukömmt.  Und  hiefür  ist  schon  die  blosse 
Existenz  der  Sekte  bezeichnend.  Wenn  wir  nemlich  diese  nur  an 
und  für  sich  betrachten  wollten,  so  wäre  doch  nicht  anzunehmen, 
dass  die  Thorheit  der  Kollyridianerinnen  eine  vollständig  freie  Er- 


’)  Haer.  79,  7. 

2)  Haer.  79,  9. 

3)  De  spir.  sancto  lib.  III,  c.  11,  n.  80. 

4j  Adv.  Nestor.  1.  I,  c.  9. 

5)  Epist.  ad  monach.  Gail.  Tom.  IX,  p.  411. 


202 


findung  der  Frauen  wäre.  Geborene  Heidinnen  oder  Christinnen, 
fanden  sie  offenbar  etwas  Bestehendes  vor,  das  sie  verzerrten.  Und 
schliesslich  hatten  die  Kirchenväter,  namentlich  der  hierauf  sehr  auf¬ 
merksame  Epiphanius,  bei  keinem  anderen  Heiligen  eine  ähnliche 
»Uebertreibung«  zu  rügen,  als  bei  Maria.  Diess  ist  wohl  zweifellos 
ein  weiterer  Fingerzeig  auf  die  intensivere  Andacht  zu  ihr,  als  zu 
den  übrigen  Heiligen,  worauf  endlich  noch  ein  Ausspruch  des  uns 
schon  bekannten  Severian  von  Gabala  hinzudeuten  scheint,  wenn 
er  sagt:  »Maria  hört  sich  täglich  von  allen  »selig«  preisen 
Was  aber,  könnte  man  sagen,  hat  sie  davon,  wenn  sie  es  nicht 
hört?  Ja  wohl  hört  sie  es,  weil  sie  am  Ort  des  Lichtes  ist,  im  Lande 
der  Lebendigen,  die  Mutter  des  Heiles,  die  Quelle  des  Lichtes  .  .  .  . 
So  also  wird  sie  von  der  ganzen  Welt  selig  gepriesen  Q.« 

4)  Einen  allgemein  menschlichen  Faktor  der  Verehrung  eines  Ver¬ 
storbenen  sehen  wir  hinwiederum  darin,  dass  man  demselben  be¬ 
stimmte  Gedenktage  hält.  Gewöhnlich  wird  hiefür  der  Geburts¬ 
oder  Todestag  gewählt,  oder  auch  beide.  Die  alten  Christen  ent¬ 
schieden  sich  für  den  Tag  des  Todes,  als  den  Geburtstag  für  den 
Himmel.  Diess  war  zunächst  bei  den  Märtyrern  der  Fall,  wie  wir 
schon  bemerkt  haben.  Doch  lässt  sich  sogar  das  älteste  Jahresfest 
des  Herrn  selber,  der  ja  auch  ein  Martyr,  und  zwar  der  erste 
und  oberste  aller  Märtyrer  war,  aus  diesem  Gesichtspunkt  betrachten. 
Das  Osterfest  als  Auferstehungsfest  ist  ja  auch  der  Geburtstag  des 
men  sch  gewordenen  Gottessohns  für  den  Himmel.  Der  Gebrauch, 
die  Todestage  zu  feiern,  war  so  allgemein,  dass  Augustinus  nur 
zwei  Ausnahmen  kennt.  »Bloss  zwei  (wirkliche)  Geburtstage ,  sagt 
er,  feiert  die  Kirche ,  den  Geburtstag  des  Johannes  (des  Täufers) 
und  den  Geburtstag  Christi* 2).« 

Bei  Maria  hatte  die  Sache  einen  andern  Verlauf.  Ihren  Todes¬ 
tag  zu  feiern,  auch  wenn  man  ihn  hätte  feiern  wollen,  war  un¬ 
möglich,  denn  man  kannte  ihn  nicht.  »Ihr  Ende  kennt  Niemand« 
sagt  Epiphanius,  wie  wir  später  sehen  werden.  Es  musste  darum 
erst  eine  bestimmte  Vorstellung  über  ihren  Austritt  aus  dem  Leben 
nicht  bloss  sich  gebildet  haben  ,  sondern  schon  in  den  allgemeinen 
Glauben  übergegangen  sein,  ehe  man  daran  denken  konnte,  diesen 


*)  De  rnundi  creat.  orat.  VI.  In  der  Ausgabe  des  Chrysostomus  von  Mont- 
faucon,  T.  VI,  p.  509. 

2)  Sermo  287. 


203 


Tag  mit  einer  Feierlichkeit  zu  begehen.  Und  diess  trat  zu  einer 
Zeit  ein,  welche  schon  ausserhalb  der  Periode  fällt,  die  wir  behandeln. 
Ebenso  war  es  mit  ihrem  Geburtstage,  obwohl  sich  über  ihren  Ein¬ 
tritt  in  das  Leben  viel  früher  eine  Meinung  zu  bilden  anfmg,  als 
über  ihren  Tod ;  was  wir  Alles  im  nächsten  Kapitel  erfahren 
werden.  Wir  glauben  in  diesen  Umständen  einen  Hauptgrund  er¬ 
blicken  zu  dürfen,  dass  wir  erst  verhältnissmässig  spät  von  einem 
Marienfest  vernehmen.  Ging  es  ja  doch  mit  einigen  Festen  Christi 
aus  ähnlichen  Gründen  in  ähnlicher  Weise.  Das  Weihnachtsfest 
z.  B.  wurde  in  der  orientalischen  Kirche  erst  im  letzten  Drittel  des 
vierten  Jahrhunderts  als  eigenes,  selbständiges  Fest  eingeführt,  weil 
erst  zu  dieser  Zeit  auch  hier  der  25.  December  als  Geburtstag 
Christi  festgestellt  wurde. 

Wie  aber  war  es  denn  nun  mit  Maria? 

Der  ganze  Gang  unserer  Untersuchungen  hat  überall  den  innigen 
Zusammenhang  der  Mutter  mit  dem  Sohne  gezeigt.  Die  Entfaltung 
ihres  Wesens  hielt  mit  der  Entfaltung  des  Wesens  Christi  gleichen 
Schritt.  Ihr  Titel  Gottesgebärerin,  die  Ueberzeugung  von  ihrer 
immerwährenden  Jungfräulichkeit,  von  ihrer  Sündenlosigkeit  flössen 
aus  der  Vertheidigung  der  Göttlichkeit  Christi.  Ihre  Verehrung 
überhaupt  verdankt  sie  der  Verehrung  ihres  Sohnes.  So  lange  es 
daher  bei  ihr  an  dem  Substrat  für  einen  Gedenktag  in  der  ge¬ 
wohnten  Art  (Geburts-  oder  Todestag)  gebrach ,  wurde  sie  an  den¬ 
jenigen  Tagen,  die  zum  Gedächtniss  besonders  wichtiger  Ereignisse 
oder  Begebenheiten  im  Leben  des  Herrn,  an  denen  sie  mitbe- 
theiligt  war,  nach  und  nach  eingeführt  wurden,  mitgefeiert.  Solche 
Tage  sind  das  Fest  der  Empfängniss  oder  Verkündigung ,  der  Ge¬ 
burt,  der  Epiphanie,  der  Darstellung  im  Tempel. 

Das  älteste  von  diesen  Festen  ist  wahrscheinlich  das  Epiphanien¬ 
fest,  an  welchem  man  aber  in  den  verschiedenen  alten  Kirchen  ver¬ 
schiedene  Ereignisse  des  Lebens  Christi  zusammen  feierte.  Unter  Epi¬ 
phanie  verstand  man  die  Offenbarung  Christi  im  Allgemeinen.  Hiemit 
meinte  man  1.  seine  Offenbarung  im  Fleische  (Geburt) ,  2.  seine 
erste  Offenbarung  vor  der  Heidenwelt  (Anbetung  der  Magier), 
3.  seine  erste  Offenbarung  als  Gottes  Sohn  durch  des  Vaters  Mund 
(bei  der  Taufe),  4.  seine  Offenbarung  als  Wunderthäter  (bei  der  Hochzeit 
zu  Cana  oder  auch  bei  der  Speisung  der  Fünftausend).  In  einem 
Theil  der  orientalischen  Kirche  feierte  man  namentlich  Geburt  und 
Taufe  zusammen  bis  in  die  Zeiten  des  Chrysostomus.  In  der 


204 


abendländischen  Kirche  concentrirte  sich  die  Feier  hauptsächlich  auf 
die  Anbetung  der  Magier.  Diess  begann  in  sehr  früher  Zeit,  wohl 
schon  im  dritten  Jahrhundert  x). 

Das  Geburtsfest  des  Herrn,  das  Weihnachtsfest,  wurde  zuerst 
in  der  abendländischen  Kirche  als  eigenes ,  vom  Epiphanienfest  ge¬ 
trenntes  Fest  gefeiert ;  in  Rom  jedenfalls  lange  vor  Ghrysostomus’ 
Zeit,  welcher  in  einer  zu  Antiochien  im  Jahr  386  gehaltenen  Homilie 
sagt,  dass  man  in  jener  Stadt  »von  Alters  her  (aveodsv)  und  nach  einer 
alten  Tradition«  dieses  Fest  am  25.  December  begangen  habe,  und 
dass  es  von  dort  vor  kaum  zehn  Jahren  nach  dem  Orient  gekommen  sei*  2). 

Die  Empfängniss  Christi  oder  die  Verkündigung  finden  wir  für 
den  Monat  März  berechnet  ebenfalls  bei  Chrysostomus  in  der  nem- 
lichen  Homilie  und  zwar  unter  der  Bezeichnung  »Empfängniss 
Mariä«,  während  Augustin  schon  den  bestimmten  Tag,  den  25.  März, 
als  alte  Tradition  angibt.  »Wie  die  Autorität  der  Kirche,  sagt  er, 
es  als  von  den  Vorfahren  überliefert  empfing  und  festhält ,  glaubt 
man,  dass  Christus  am  25.  März  empfangen  worden  sei3).«  Ob 
aber  der  Tag  im  vierten  Jahrhundert  schon  festlich  begangen  wurde, 
geht  hieraus  nicht  hervor. 

Von  dem  Fest  der  Darstellung  im  Tempel ,  welches  von  der 
Begegnung  mit  Simeon  auch  den  Namen  »Fest  der  Begegnung«, 
im  Abendland  dann  mit  hauptsächlichster  Beziehung  auf  Maria 
»Reinigung  Mariä«,  oder  »Mariä  Lichtmess«  erhielt,  ist  vor  dem 
sechsten  Jahrhundert  keine  Rede ;  darum  haben  wir  nichts  weiter 
damit  zu  schaffen. 

Diess  also  sind  die  Feste,  durch  welche  das  Andenken  an 
solche  Begebenheiten  im  Leben  Christi  gefeiert  wird,  an  welchen 
Maria  mitbetheiligt  war;  darum  konnte  sich  ihre  Feier  ganz  natur- 
gemäss  auch  auf  Maria  erstrecken.  Wie  dieses  geschah,  haben 
wir  nun  nachzu weisen ,  indem  wir  einige  Fragmente  von  Fest¬ 
predigten  mittheilen,  die  am  Weihnachtsfest  oder  auch  am  Epi¬ 
phanienfest  im  weiteren  Sinn  gehalten  worden  sind. 


b  S.  hierüber  ausser  Augusti’s  Denkwürdigkeiten:  Zappert,  Epiphania,  in 
den  Sitzungsberichten  der  Wiener  Akademie,  Philosoph,  histor.  Klasse  XXI.  Bd. 
III.  Heft;  dann  Martigny,  dictionn.  des  ant.  ehret,  »fetes  immobiles«;  Smith  and 
Cheetham,  dict.  of  Christ,  ant.  »christmas«,  »epiphany«,  »Mary«;  und  immer 
noch  Benedict  XIV.,  de  festis. 

2)  Chrys.  hom.  in  nat.  Ghr.  Tom.  II,  p.  354,  ed.  Montf. 

3)  De  trin.  1.  IV.  c.  5. 


205 


Zuvor  jedoch  können  wir  nicht  unterlassen  ,  mit  einem  Wort 
auf  die  Produkte  der  Poesie  und  Kunst  hinzuweisen,  welche  Gegen¬ 
stand  der  folgenden  Kapitel  sein  werden ,  und  in  welchen  bei  allen 
Darstellungen  der  Geburt  und  Epiphanie  Maria  ihre  natürliche  Stelle 
findet.  Die  Kunst  führt  Maria  mit  Vorliebe  in  Epiphanienbildern 
vor  und  zwar  schon  im  dritten  Jahrhundert.  Wenn  wir  nun  auch 
diese  Bilder  nicht  als  in  die  Kunst  übersetzte  Kirchenfeste  betrachten 

wollen,  so  dürfte  doch  ihr  häufiges  Vorkommen  die  Vermuthung 

♦ 

unterstützen,  dass  das  Epiphanienfest  im  Abendland,  und  speciell  in 
Rom,  schon  in  dieser  frühen  Zeit  vornehmlich  als  Fest  der  Magier 
und  daher  mit  gebührender  Betheiligung  Mariens  gefeiert  wurde. 

Die  Festpredigten  sind  ihrem  Inhalt  nach  vielfach  verwandt 
mit  den  Homilien  auch  älterer  Kirchenväter  über  die  Evangelienab¬ 
schnitte,  worin  Maria  vorkommt.  Sie  stellen  sie  ebenfalls  insbesondere 
als  lebendiges  WMnder  dar ;  nur  nehmen  sie  begreiflich  formell 
einen  höheren  Schwung,  indem  sie  nicht  so  fast  lehren,  als  preisen 
wollen.  Von  den  betreffenden  Reden  des  Basilius,  des  Gregor  von 
Nazianz  u.  s.  w.  haben  wir  in  den  früheren  Kapiteln  Veranlassung 
gehabt,  kleine  Auszüge  zu  geben  (s.  S.  103).  Auch  den  h.  Augustin 
hörten  wir  mehrmals  am  Weihnachtsfest  sprechen.  Wir  wollen 
nur  an  die  Stelle  oben  S.  139  erinnern.  Statt  zu  sagen :  feiern 
wir  den  Tag,  an  welchem  uns  Christus  geboren  ist,  gebraucht  er 
die  Wendung:  feiern  wir  den  Tag,  an  welchem  Maria  den  Heiland 
geboren  hat,  die  Verehelichte  den  Schöpfer  der  Ehe,  die  Jungfrau 
den  Fürsten  der  Jungfrauen  u.  s.  w.  Aus  einer  andern  Weihnachts¬ 
rede  von  ihm  theilen  wir  noch  folgenden  charakteristischen  Passus 
mit,  der  dieselbe  Wendung  enthält: 

»Ihr  heiligen  Jungfrauen,  die  ihr  aus  der  unverletzten  Jungfräu¬ 
lichkeit  derselben  (Mariä)  hervorgegangen  seid,  die  ihr  die  irdische 
Ehe  verachtend  auch  im  Fleische  Jungfrauen  zu  sein  erwählt  habt, 
feiert  denn  nun  mit  Freuden  am  heutigen  Tage  festlich 
die  Geburt  der  Jungfrau.  Denn  jener  ist  aus  dem  Weibe  ge¬ 
boren,  der  nicht  vom  Manne  im  Weibe  gezeugt  ist.  Er,  der  euch 
gebracht  hat,  was  ihr  lieben  sollt,  hat  der  Mutter  nicht  genommen, 
was  ihr  liebet.  Er,  der  in  euch  heilet,  was  ihr  von  Eva  geerbt 
habt,  kann  nicht  verletzen  wollen,  was  ihr  in  Maria  geliebt  habt. 

»Jene  also,  deren  Spuren  ihr  nachfolget,  hat  nicht  mit  dem 
Manne  gelebt,  um  zu  empfangen,  und  als  sie  gebar,  ist  sie  Jungfrau 
verblieben.  Ahmet  ihr  nach,  so  weit  ihr  könnt,  nicht  durch  Frucht- 


206 


barkeit,  weil  ihr  das  nicht  könnet  unbeschadet  der  Jungfräulichkeit. 
Sie  allein  konnte  beides,  da  sie  den  Allmächtigen  gebar,  durch  den 
sie  es  konnte  1).« 

Zu  den  ältesten  aber,  die  wir  für  unsern  Zweck  verwenden 
können,  gehören  die  Reden  des  h.  Ephräm,  die  er  am  Weihnachts¬ 
feste  gehalten  hat.  Es  sind  diess  freilich  eigentlich  keine  Reden, 
sondern  vielmehr  Hymnen,  weil  sie  metrisch  geschrieben  sind,  und 
darum  geben  wir  auch  das  Meiste  von  ihm  in  dem  nächsten  Kapitel. 
Ein  Specimen  jedoch,  das  noch  am  ehesten  sich  wie  eine  Predigt 
liest,  und  worin  er  sich  auch  zweimal  an  seine  Zuhörer  wendet, 
wollen  wir  hier  mittheilen,  weil  sich  eben  darin  die  Betheiligung 
Mariens  an  einem  Feste  des  Herrn  besonders  anschaulich  darstellt. 
Wir  bedienen  uns  der  Uebersetzung  Zingerle’s  (s.  unten),  der  dem 
Hymnus  die  Ueberschrift  gibt: 

Lobrede  auf  die  Menschwerdung  und  die  Jungfrau  Maria. 

»Höchst  erstaunlich  ist  es  für  den  Menschen,  meine  Geliebten, 
die  Wunder  zu  betrachten,  wie  Gott  herabkam  und  in  einem  Mutter¬ 
leibe  seine  Wohnung  nahm;  wie  ferner  das  höchste  Wesen  einen 
menschlichen  Leib  anzog  und  neun  Monate  lang  im  Mutterschoosse 
ohne  Widerwillen  wohnte;  wie  aber  auch  der  Schooss  von  Fleisch 
im  Stande  war,  das  Feuer  zu  tragen,  und  wie  die  Flamme  im 
weichen  Mutterleibe  wohnte,  ohne  dass  er  von  Feuer  verzehrt  wurde. 
Wie  einst  der  Dornbusch  auf  dem  Berge  Horeb  Gott  selbst  in  der 
Flamme  trug,  ebenso  trug  Maria  Christum  in  ihrem  jungfräulichen 
Schoosse.  Gott  kam  vollkommen  durch  das  Ohr  in  den  Mutterleib 
und  trat  als  Gottmensch  auf  reine  Weise  aus  demselben  in  die  Welt 
hervor.  Die  Jungfrau  empfing  Gott,  die  Unfruchtbare  (Elisabeth) 
ward  mit  dem  Jungfräulichen  (Johannes)  schwanger,  und  der  Sohn 
der  Unfruchtbarkeit  hüpfte  (im  Mutterleibe)  vor  der  Leibesfrucht  bei 
der  Heimsuchung  der  Jungfräulichkeit. 

»Ein  ganz  neues  Wunder  wirkte  also  Gott  unter  den  Erdbe¬ 
wohnern,  dass  er  selbst  ohne  ehelichen  Umgang  geboren  ward,  sein 
Herold  (Johannes)  aber  gegen  den  gewöhnlichen  Lauf  der  Natur. 
Die  Himmel  misst  er  mit  seiner  Spanne  2)  und  liegt  spannenlang  in 
der  Krippe;  das  Meer  fasst  er  mit  seiner  Handhöhle3),  und  seine 


J)  Aug.  Sermo  191  in  nat.  Dom.  T.  V,  p„  894;  Vgl,  auch  S.  140. 

2)  Jes.  XI,  12. 

3)  Ibid. 


207 


Geburt  fand  in  einer  Höhle  statt.  Die  Himmel  sind  seiner  Herrlich¬ 
keit  voll,  und  die  Krippe  ist  voll  seines  Glanzes.  Moses  wünschte  x) 
seine  Herrlichkeit  zu  schauen,  vermochte  aber  nicht,  sie  so  zu  sehen, 
wie  sie  ist.  So  mag  er  denn  heute  kommen;  denn  sie  liegt  in 
Windeln  eingehüllt  in  der  Krippe.  Einst  wagte  es  kein  Mensch  zu 
hoffen,  Gott  sehen  zu  können  und  am  Leben  zu  bleiben* 2).  Heute 
lebten  alle,  die  ihn  sahen,  vom  zweiten  Tode  (der  Verdammniss)  zu 
neuem  Leben  auf. 

»Moses  bildete,  da  er  das  Feuer  im  Dornbusch  sah,  das  Ge- 
heimniss  (der  Geburt  Christi)  vor;  die  Weisen  (Magier)  erfüllten  das 
geheimnissvolle  Vorbild,  weil  sie  das  Licht  in  Windeln  erblickten. 
Gott  rief  mit  seiner  Stimme  im  Dornbusch  dem  Moses  zu ,  er 
solle  seine  Schuhe  ausziehen ;  der  Stern  aber  berief  schweigend  die 
Magier,  an  den  heiligen  Ort  zu  kommen.  Moses  konnte  Gott  nicht 
schauen,  wie  er  ist;  allein  die  Magier  traten  ein  und  sahen  Gott 
als  Mensch.  Eine  Höhle  ist  der  andern  ähnlich  (die  Höhle  des 
Moses3)  und  die  Höhle  bei  Bethlehem)  und  Moses  war  das  Vorbild 
der  Magier.  Wenn  aber  ein  Zuhörer  einwendet,  wo  denn  eine  Ver¬ 
gleichung  des  Moses,  des  Hauptes  der  Propheten,  mit  den  Magiern, 
den  Fürsten  Persiens,  stattfinde,  so  mag  er  sich  von  Gott  selbst, 
dem  weisesten  Beurtheiler,  beruhigen  lassen:  denn  hätte  er  sie  nicht 
schon  vor  aller  Zeit  auserwählt ,  seine  Herolde  zu  sein ,  so  hätte  er 
von  ihren  dann  unheiligen  Händen  keine  Geschenke  angenommen. 
Moses  stellte  geheimnissvolle  Vorbilder  dar ,  und  unser  Herr  erfüllte 
sie.  So  glänzte  z.  B.  sein  Antlitz,  weil  Gott  mit  ihm  redete,  und 
ein  Schleier  verhüllte  sein  Angesicht,  weil  ihn  sonst  das  Volk  nicht 
anschauen  konnte.  Ebenso  hat  auch  unser  Herr  im  Mutterleibe 
mit  dem  Schleier  des  Fleisches  sich  bedeckt  und  erschien  aus  ihm 
hervorkommend;  dann  sahen  ihn  die  Weisen  und  brachten  ihre 
Geschenke  dar. 

»Gross  ist  das  Wunder,  das  auf  unserer  Erde  geschah,  dass 
nemlich  der  Herr  des  Alls  sich  zu  ihr  herabliess.  Gott  ward  Mensch, 
der  Alte 4)  wurde  ein  Kind.  Der  Herr  machte  sich  den  Knechten 
gleich,  und  der  Sohn  des  Königs  ward  wie  ein  Verächtlicher.  Das 


>)  II.  Mos.  33,  18. 

2)  II.  Mos.  33,  20. 

3)  II.  Mos.  33,  22. 

<)  Daniel  VII,  9. 


208 


allerhöchste  Wesen  erniedrigte  sich  und  liess  sich  zu  unserer  Natur 
herab.  Was  seiner  Natur  fremd  war ,  nahm  er  für  uns  alle  auf 
sich.  Wer  soll  nicht  auf  diess  Wunder  aufmerksam  horchen,  dass 
Gott  sich  herabliess,  geboren  zu  werden?  Wer  soll  nicht  erstaunen, 
wenn  er  betrachtet,  dass  der  Herr  der  Wächter  (Engel)  geboren 
ward?  Ohne  Grübelei  glaube  diess  und  sei  überzeugt,  dass  es  in 
Wahrheit  so  ist. 

»Richtet  nun,  o  Geliebte,  eure  betrachtenden  Blicke  auf  Maria! 
Als  Gabriel  zu  ihr  eingetreten  war,  sprach  sie  forschend  zu  ihm: 
Wie  wird  diess  geschehen  ?  Und  es  erwiderte  ihr  der  Diener  des 
h.  Geistes:  Für  Gott  ist  dieses  leicht;  denn  ihm  ist  Alles  möglich. 
Indem  sie  fest  glaubte,  was  sie  hörte,  antwortete  sie  darauf:  Ich 
bin  eine  Magd  des  Herrn.  Alsbald  senkte  sich  dann  das  Wort, 
weil  dessen  kundig,  hernieder,  schwebte  herab,  wie  es  ihm  gefiel, 
trat  in  sie  ein  und  nahm  in  ihr  seine  Wohnung,  ohne  dass  sie  auf 
sinnliche  Weise  diess  merkte.  Sie  empfing  ihn ,  ohne  etwas  zu 
leiden,  und  er  ward  in  ihrem  Leibe  ein  Kind,  während  zugleich 
die  Erde  seiner  voll  war.  Er  neigte  sein  Ebenbild  herab,  um  das 
veraltete  Bild  Adams  zu  erneuen.  Hörst  du  also  von  der  Geburt 
Gottes  reden,  so  verharre  im  Schweigen !  Was  Gabriel  gesprochen, 
bleibe  deinem  Geiste  eingeprägt!  Denn  es  gibt  nichts,  was  jener 
hochgelobten  Majestät,  die  sich  unseretwegen  herabliess  und  unter 
uns  aus  uns  geboren  ward,  zu  schwer  wäre. 

»Heute  ward  uns  also  Maria  zum  Himmel,  der  Gott  trug,  denn 
in  sie  liess  sich  die  allerhöchste  Gottheit  herab  und  wohnte  in  ihr. 
In  ihr  ward  sie  klein,  um  uns  gross  zu  machen,  da  sie  ihrer  Natur 
nach  nicht  klein  ist.  In  ihr  webte  sie  uns  ein  Kleid  (des  Heiles), 
damit  uns  dadurch  Erlösung  zu  Theil  würde.  In  (an)  ihr  wurden 
die  Aussprüche  der  Propheten  und  Gerechten  erfüllt;  aus  ihr  ging 
uns  das  Licht  auf  und  verscheuchte  die  Finsterniss  des  Heidenthums. 
Viele  Namen  trägt  Maria,  und  es  frommt  mir,  sie  damit  anzurufen. 
Sie  ist  die  Burg,  worin  der  gewaltige  König  der  Könige  wohnte; 
allein  er  kam  nicht  so,  wie  er  in  sie  eingetreten  ist,  aus  ihr  hervor, 
sondern  er  hatte  von  ihr  sich  mit  Fleisch  bekleidet  und  ging  so 
heraus.  Sie  ist  auch  ein  neuer  Himmel,  weil  in  ihr  der  König  der 
Könige  wohnte.  In  ihr  ging  er  auf  und  trat  dann  in  die  Welt 
hervor,  ihr  ähnlich  gestaltet  und  bekleidet.  Eine  Rebe  ist  sie,  die 
eine  Traube  als  Frucht  auf  übernatürliche  Weise  hervorbrachte, 
und  weil  ihre  (der  Traube)  Natur  ihr  nicht  gleich  war,  so  nahm 


209 


sie  ihre  Farbe  (Menschennatur)  an  und  ging  aus  ihr  hervor.  Sie 
ist  die  Quelle,  aus  der  lebendiges  Wasser  für  die  Dürstenden  her¬ 
vorströmte,  und  die  von  ihrem  Getränke  kosteten ,  geben  hundert¬ 
fältige  Früchte. 

»Dieser  Tag  (der  Geburt  Christi)  gleicht  daher  dem  ersten 
Schöpfungstage  ganz  und  gar  nicht.  An  diesem  wurden  die  Ge¬ 
schöpfe  gebildet;  an  jenem  ward  die  Erde  erneuert  und  gesegnet 

um  Adams  willen ,  dessentwegen  sie  einst  verflucht  worden  war. 

Eva  und  Adam  brachten  durch  Sünden  den  Tod  in  die  Welt;  ihr 
(der  Welt)  Herr  aber  gibt  uns  durch  sie  (die  Welt,  d.  h.  durch 

seine  Ankunft  in  derselben)  aus  Maria  neues  Leben.  Der  Böse  ent¬ 

leerte  sein  Gift  durch  die  Schlange  in  Evas  Ohr;  der  Gute  aber  neigte 
seine  Erbarmung  herab  und  ging  durch  das  Ohr  Mariens  hinein. 
Durch  das  nemliche  Thor,  durch  welches  der  Tod  eindrang ,  trat 
auch  das  Leben  ein,  das  den  Tod  tödtete.  Ihn,  den  die  Cherubim 
tragen,  trugen  Marias  Arme.  Gott,  den  das  All  nicht  umfasst,  den 
war  Maria  zu  tragen  im  Stande.  Der  König,  vor  dem  die  Wächter 
(Engel),  diese  feurigen  Geisterwesen  erzittern ,  liegt  am  Busen  der 
Jungfrau,  und  sie  umfängt  ihn  liebkosend  als  ein  Knäblein.  Die 
Himmel  sind  der  Thron  seiner  Herrlichkeit  und  er  sitzt  auf  Marias 
Knieen.  Die  Erde  ist  seiner  Füsse  Schemel,  und  er  trippelt  auf  ihr 
als  Knäblein  herum.  Seine  hohle  Hand  misst  den  Staub  x) ,  und 
er  geht  als  Knabe  darauf  herum *  2).« 

In  ähnlicher  Weise  wird  Maria  auch  von  andern  Kirchenvätern 
in  ihren  Weihnachtsreden  verherrlicht.  Wir  wollen  nur  noch  einige 
Auszüge  aus  einem  sonst  weniger  hervorragenden  Schriftsteller,  dem 
Bischof  Theodot  von  Ancyra  mittheilen,  von  welchem  drei  solcher 
Reden,  die  er  früher  in  seiner  Bischofsstadt  gehalten  hatte,  auf  dem 
Ephesiner  Concil  vorgelesen  wurden. 

»Herrlich  und  wunderbar  ist  der  Gegenstand  des  heutigen 
Festes;  herrlich,  weil  er  den  Menschen  die  allgemeine  Erlösung 
brachte;  wunderbar,  weil  er  das  Naturgesetz  überwand.  Denn  die 
Natur  kennt  diejenige,  welche  geboren  hat,  nicht  mehr  als  Jungfrau, 
die  Gnade  aber  zeigte  sie  als  Gebärerin  und  bewahrte  sie  als  Jung¬ 
frau.  Sie  machte  sie  zur  Mutter  und  verletzte  nicht  die  Jungfrau- 


9  Jes.  XI,  12. 

2)  Ephram.  Tom.  III,  syr.  et  lat.  p.  604  ff.  Zingerle,  Ephr.  Bd.  II,  p.  51  ff. 
in  der  Thalhofer’schen  Kirchenväterübersetzung,  Kempten. 

Lehn  er,  Die  Marienverehrung. 


14 


210 


schaft;  denn  die  Gnade  behütete  die  Keuschheit.  0  unbesätes  Land, 
das  du  heilbringende  Frucht  hervorbrachtest;  o  Jungfrau,  die  du 
selbst  den  Garten  Eden  übertrafest !  Denn  jener  brachte  ein  Geschlecht 
gepflanzter  Gewächse  hervor,  indem  die  Gewächse  aus  jungfräu¬ 
lichem  Lande  aufsprossten.  Diese  Jungfrau  aber  ist  vorzüglicher 
als  jenes  Land,  denn  sie  brachte  keine  Obstbäume  hervor,  sondern 
die  Ruthe  Jesse’s,  welche  die  Frucht  der  Erlösung  für  die  Menschen 
trug.  Jenes  Land  war  jungfräulich,  und  diese  war  Jungfrau.  Aber 
dort  liess  Gott  Bäume  sprossen,  dieser  Jungfrau  Spross  aber  ward 
der  Schöpfer  selber  nach  dem  Fleische.  Jenes  Land  empfing  keinen 
Wurzelsprössling  vor  den  Bäumen ,  diese  Jungfrau  verlor  durch  die 
Geburt  nicht  die  Jungfrauschaft.  Die  Jungfrau  ist  vornehmer,  als 
das  Paradies.  Jenes  war  der  Acker  Gottes,  diese  brachte  nach  dem 
Fleische  Gott  selbst  hervor  ....  Siehst  du,  wie  wunderbar  das  Ge- 
heimniss  ist,  welches  das  Naturgesetz  verachtet!  Siehst  du  das  über¬ 
natürliche  Ereigniss,  das  durch  Gottes  Kraft  allein  sich  zugetragen 
hat!  ....  Weil  der  Geborene  das  Wort  Gottes  ist,  ist  offenbar, 
warum  er  die  Jungfrauschaft  nicht  aufhob.  Diejenige,  welche  blosses 
Fleisch  gebiert,  verliert  die  Jungfrauschaft,  aber  da  das  Wort  Gottes 
im  Fleische  geboren  ward,  bewahrt  es  die  Jungfrauschaft,  indem  es 
sich  als  Wort  Gottes  zeigt *)«  .  .  .  . 

»(Moses)  sah  aus  dem  Dornbusch  Feuer  flammen,  das  den 
Dornbusch  nicht  verzehrte.  Warum  glaubst  du  nun  nicht  an  den 
aus  der  Jungfrau  Geborenen ,  der  die  Jungfrauschaft  nicht  ver¬ 
letzte?  ....  Was  ist  einfacher,  sage  mir,  ein  Dornbusch  oder  eine 
jungfräuliche  Gebärmutter,  rein  von  sündlichen  Leidenschaften? 
Siehst  du  nicht,  dass  das  Alte  (Alttestamentliche)  eine  Vorübung 
des  Neuen  und  jetzt  Geschehenen  ist?  Denn  die  Geheimnisse  (des 
Christenthums)  werden  vorgebildet  durch  das  Alte  (im  alten  Testament 
Erzählte).  Desswegen  flammt  der  Dornbusch  auf,  und  es  erscheint 
Feuer,  und  die  Kraft  des  Feuers  hat  keine  Wirkung  ....  Siehst  du 
nun  nicht  in  dem  Dornbusch  die  Jungfrau  ? 

»Es  ist  demnach  heute  Gott  durch  die  Jungfrau  erschienen  und 
die  Jungfrau  blieb  Jungfrau  und  wurde  Mutter.  Denn  der  Freund 
der  Unverdorbenheit  wirkt  kein  Verderben,  der  Schöpfer  der  Unver¬ 
dorbenheit  verdarb  nichts.  Da  nun  aber  Photinus  den  Geborenen 
einen  blossen  Menschen  nennt,  da  er  leugnet,  dass  er  Gottes  Frucht 


’)  Theod.  hom.  in  diem  nat.  Christi;  Gallandi,  Tom.  IX,  p.  440. 


211 


sei,  und  den  aus  der  Gebärmutter  Hervorgekommenen  als  Menschen 
hinstellt,  abgesondert  von  Gott,  so  sage  er  mir  nun,  wie  ein  mensch¬ 
liches  Wesen,  das  durch  eine  jungfräuliche  Gebärmutter  geboren  ist, 
die  Jungfräulichkeit  der  Gebärmutter  unverletzt  aufrecht  erhielt? 
Denn  keines  Menschen  Mutter  ist  Jungfrau  geblieben  *)«  ....  (Den 
Schluss :  —  Beweis  aus  der  immerwährenden  Jungfräulichkeit  der 
Mutter  für  die  Göttlichkeit  des  Sohnes  —  haben  wir  oben  S.  142 
mitgetheilt.) 

Unter  dem  Namen  des  Theodot  ist  auch  eine  Predigt  überliefert 
mit  der  Ueberschrift  »Rede  auf  die  Gottesgebärerin  und  den  Symeon«, 
welche,  wenn  sie  ächt  ist,  hiemit  auf  das  spätere  »Fest  der  Be¬ 
gegnung«  bereits  hinzeigt  und  den  Beweis  liefert,  dass  auch  hie¬ 
bei  der  h.  Jungfrau  in  ausgezeichneter  Weise  gedacht  wird.  Wir 
theilen  mit  allem  Vorbehalt  Einiges  daraus  mit: 

....  »Geboren  hat  die  Jungfrau,  die  Prophetin  nach  Jesaias*  2), 
den  Emmanuel,  ohne  Mann,  ....  geboren  hat  die  Prophetin,  ohne  die 
Art  und  Weise  der  Empfängniss  zu  kennen.  Neu  ist  das  Wunder 
und  unerklärlich.  Durch  das  Gehör  empfing  Maria ,  die  Prophetin, 
den  lebendigen  Gott  .... 

»Desswegen  lasst  uns,  wie  es  sich  gebührt,  und  als  wohldenkende 
Gottesknechte  sowohl  Gott  dem  Logos,  als  auch  der  Mutter  das  Ge¬ 
schenk  des  Logos  nach  Vermögen  verdanken  ....  Schreiten  wir 
also  nach  heiligem  Brauche  zum  Preisgesang,  schreiten  wir  dazu  mit 
Freuden  und  mit  guten  Worten,  rühmend  und  preisend  das  Ge- 
heimniss,  welches  über  Vernunft  und  Wort  geht.  Beginnen  wir  mit 
dem  göttlichen  Brautgeschenk  des  Himmelsbürgers  Gabriel  und 
sprechen  wir:  sei  gegrüsst,  voll  der  Gnaden,  der  Herr  ist  mit  dir. 
Wiederholen  wir  mit  ihm:  sei  gegrüsst,  du  unsere  ersehnte  Freude; 
sei  gegrüsst,  du  Jubel  der  Kirche;  sei  gegrüsst,  du  lieblich  tönender 
Name;  sei  gegrüsst,  von  Gott  glänzendes,  freudiges  Angesicht;  sei 
gegrüsst,  du  allverehrtes  Denkmal;  sei  gegrüsst,  du  heilbringendes 
und  geistiges  Vliess;  sei  gegrüsst,  lichtgekleidete  Mutter,  Heiligthum 
des  Lichtes;  sei  gegrüsst,  ganz  Unbefleckte,  Mutter  der  Heiligkeit;  sei 
gegrüsst,  durchsichtigste  Quelle  des  belebenden  Regens;  sei  gegrüsst, 
neue  Mutter  und  Bildnerwerkstatt  der  Neugeburt;  sei  gegrüsst, 
unerklärliche  Mutter  der  Unbegreiflichkeit;  sei  gegrüsst,  neuer  Ab- 


')  Theodot.  hom.  in  nat.  Chr. ;  Gailandi,  T.  IX,  p.  450  ff. 

2)  Is.  VIII,  3. 


212 


schnitt  der  neuen  Schrift  nach  Jesaias  x),  deren  treue  Zeugen  Engel 
und  Menschen  sind;  sei  gegrüsst,  Alabastergefäss  des  geweihten 
Balsams;  sei  gegrüsst,  schöne  Wechslerin  des  jungfräulichen  Denars; 
sei  gegrüsst,  einziges  Bildwerk,  das  den  Bildner  umschliesst ;  sei  ge¬ 
grüsst,  kleinstes  Gefäss,  die  du  den  Allunfasslichen  umfasstest*  2). 

»Wer  wird  die  Abkunft  desjenigen  auseinandersetzen,  der  älter 
ist  als  alle  Zeugung?  Was  sollen  wir  bewundern?  Die  göttliche  und 
unaussprechliche  Frucht,  oder  die  unerklärliche  Niederkunft?  Nicht 
mit  der  Rede  wird  umschrieben,  was  über  die  Rede  geht,  nicht  mit 
dem  Verstände  wird  erfasst,  was  über  den  Verstand  geht.  Denn 
wenn  auch  ein  Maler  die  Mutter  der  Heilsveranstaltung  malt  3) ,  so 
erklärt  doch  keine  Rede  die  Art  und  Weise  der  Schwangerschaft. 
Sollen  wir  der  Leibesfrucht  einen  Anfang  setzen?  Aber  sie  besteht 
nicht  ohne  den  Anfangslosen.  Sollen  wir  den  Geborenen  Kind 
nennen?  Aber  den  Alten  der  Tage  hat  er  zum  Urgrund  und  Ur¬ 
heber  ....  Solcherlei  Güter  führt  uns  immer  die  göttliche  Mutter- 
Jungfrau  vor  in  ihrem  heiligen  Glanze,  denn  bei  ihr  ist  die  Quelle 
des  Lebens4),  und  die  Brüste  der  geistigen  und  unverfälschten 
Milch  5)  .  .  .  . 

»Wenn  nun  Einer  den  Namen  eines  Christen  führt,  und  über 
den  selbstverständlichen,  wirksamsten  und  entscheidenden  Namen 
der  Gottesgebärerin,  der  gottbesessenen  Jungfrau  unwillig  und  be¬ 
stürzt  ist,  —  der  gefällt  sich  eitel  und  fälschlich  in  dem  Prädikate 
der  Heiligkeit,  da  er  den  Dogmen  widerspricht  ....  Er,  der  einst 
die  Jungfrau  (Eva)  ohne  Fehl  erschaffen  hat,  derselbe  hat  auch  zum 
zweiten  Male  diese  (Maria)  untadelig  gebildet;  er,  der  das  Aeussere 
mit  Anmuth  gemacht,  er  hat  auch  das  Innere  heilig  ausgeschmückt 
zum  Aufenthalt  der  Seele  6).« 


b  Is.  VIII,  l. 

2)  Im  Griechischen:  ytipr^a  ycopYjaocaa  tov  zolq  rcäaiv  öcyaipmov. 

3)  ypafs:  ‘(paytöz  kann  auch  heissen  »ein  Schreiber  beschreibt«  =  sucht 
zu  beschreiben;  aber  das  gäbe  doch  keinen  so  guten  Gegensatz  gegen  die  »Rede« 
im  Nachsatz  und  im  Vorausgehenden. 

4)  Ps.  XXXV,  1. 

5)  I.  Petr.  II,  2.  Diesen  Absatz  gaben  wir  nach  dem  besseren  Text  bei  Pitra, 
Spicil.  Solesm.  T.  I,  p.  349. 

6)  Gallandi  T.  IX,  p.  460  ff.  und  Pitra  a.  a.  0.  Andere  Reden  des  Theodot, 
welche  Gallandi  in  der  lat.  Uebersetzung  des  Combefis  abdrucken  liess,  berück¬ 
sichtigen  wir  nicht. 


213 


In  dieser  Weise  also  fiel  bei  der  Feier  gewisser  Feste  des  Herrn 
auch  der  Mutter  ihr  Theil  zu.  Dass  dieser  Theil  kein  unbedeutender 
war,  ist  nicht  zu  verkennen.  Wie  wir  nun  die  Erfahrung  gemacht 
haben,  dass  bei  den  dogmatischen  Feststellungen  über  das  Wesen 
Christi  schliesslich  die  Wendung  eintrat,  als  ob  es  sich  nicht  mehr 
so  fast  um  den  Sohn  handelte,  als  um  die  Mutter  (allerdings  immer 
dem  Sohne  zu  liebe),  so  dass  die  Mutter  in  den  Vordergrund  trat; 
so  kann  es  nur  naturgemäss  erscheinen,  wenn  die  bei  den  Festen 
des  Sohnes  in  solcher  Weise  mitgefeierte  Mutter  schliesslich  ihre 
eigenen  Feste  erhielt.  Wir  wissen  denn  auch,  dass  im  Jahr  429  zu 
Konstantinopel  ein  Marienfest  begangen  wurde.  Das  sagt  uns  Proklus, 
indem  er  seine  vielgenannte  Predigt  mit  dem  Worte  beginnt:  »ein 
Jungfrauenfest«  (navrjyvpLg  napß-evix?}),  und  durch  den  Inhalt  der  Rede 
darthut,  dass  eben  die  heilige  Jungfrau  gemeint  sei. 

Man  hat  nun  sofort  die  Frage  auf  den  Lippen,  was  das  eigent¬ 
lich  für  ein  Festtag  gewesen  sein  möchte,  d.  h.  welches  Ereigniss 
aus  dem  Leben  Mariens  dadurch  festlich  begangen  worden  sei.  Doch 
das  lässt  sich  nicht  ausmachen.  Geburts-  oder  Todestag  war  es 
nicht,  denn  es  ist  bekannt,  dass  diese  erst  später  eingeführt  wurden; 
ebensowenig  kann  an  eine  Uebertragung  des  Weihnachts-  oder 
Epiphanienfestes  gedacht  werden,  denn  diese  blieben  immer  ungetheilt 
dem  Herrn  geweiht.  Das  Fest  der  Darstellung  im  Tempel,  im 
Abendland  Reinigungsfest  oder  Lichtmess ,  kann  gar  nicht  in  Be¬ 
tracht  kommen,  denn  abgesehen  von  der  Zeit  fand  ja  die  Feier  im 
Orient  statt,  wo  jenes  Fest  als  Herrenfest  aufkam  und  blieb.  Sollte 
nun  der  von  Proklus  gefeierte  Tag  nicht  das  Empfängniss-  oder 
Verkündigungsfest  gewesen  sein? 

Von  allen  Erlebnissen  Mariens,  die  sie  mit  ihrem  Sohne  theilte, 
oder  mit  denen  sie  um  seinetwillen  beglückt  wurde,  ist  es  vorzugs¬ 
weise  die  Verkündigung,  wobei  sie  die  erste  Rolle  spielt.  Denn 
wenn  auch  »das  Wort  im  Anfang  war«,  so  begann  es  eben  erst  in 
jenem  Augenblicke  »Fleisch  zu  werden«,  als  Maria  ihre  Zustimmung 
aussprach.  Der  Verkündigungstag  kann  also  eigentlich  noch  nicht 
als  Tag  des  Herrn  betrachtet  werden,  wenn  auch  die  Vermuthung 
besteht,  dass  er  ursprünglich  als  solcher  gefeiert  worden  sei,  als 
»Fest  der  Empfängniss  Christi«.  Jedenfalls  hat  aber  die  Ansicht, 
dass  dieser  Tag  gleich  vom  Beginne  seiner  Feier  an  als  Marienfest 
gegolten  habe,  nicht  minder  viel  für  sich;  heisst  ja  doch  auch 
Ghrysostomus  das  von  ihm  für  den  März  berechnete  Ereigniss  »Em- 


214 


pfängniss  Mariä«,  nicht  »Empfängniss  Christi«.  Die  Festrede  des 
Proklus  selbst  enthält  nicht  nur  nichts,  was  gegen  die  Annahme 
einer  Verkündigungspredigt  spräche,  sondern  ihr  Inhalt  passte  ganz 
trefflich  für  diesen  Tag,  wie  man  aus  den  unten  gegebenen  Aus¬ 
zügen  sofort  erkennen  wird.  Die  Wahrscheinlichkeit  wächst,  wenn 
wir  betrachten,  wie  der  Redner  im  Anfang  des  fünften  Absatzes, 
den  wir  unten  nicht  geben,  weil  er  nichts  weiter  von  Maria  enthält, 
beim  Beweise  der  Gottmenschlichkeit  Christi  auch  plötzlich  auf  den 
Namen  des  Gabriel  kommt.  Er  sagt:  »achte  wenigstens,  o  Mensch, 
den  Namen  des  Erzengels.  Denn  derjenige,  welcher  Marien 
jene  frohe  Botschaft  brachte,  hiess  Gabriel.  Was  aber  ver¬ 
stehst  du  unter  Gabriel?  Oeffne  die  Ohren  und  lerne:  (der  Name 
bedeutet)  Gott  und  Mensch1).  Weil  derjenige,  welchen  er  ver¬ 
kündigte,  Gott  und  Mensch  war,  anticipirt  er,  um  dadurch  leichter 
von  der  Heilsveranstaltung  zu  überzeugen,  in  der  Bedeutung  seines 
Namens  das  Wunder.«  Im  weitern  Verlaufe  ist  dann  ausführlich 
von  der  Noth wendigkeit  der  Menschwerdung  die  Rede  und  es 
werden  prophetische  Stellen  aufgeführt,  welche  die  Sehnsucht  nach 
dem  Kommen  des  Erlösers  ausdriicken  u.  s.  w.,  kurz  wir  wüssten 
kein  Marienfest  zu  nennen ,  auf  welches  die  Predigt  so  zuträfe,  wie 
eben  auf  das  Verkündigungsfest.  Jedoch  wir  wissen,  wie  gesagt, 
nichts  Gewisses  und  können  auch  das  Fest  von  Proklus  an  bis  zur 
Zeit  seiner  allgemeinen  Feier  nicht  sicher  Schritt  für  Schritt  ver¬ 
folgen,  darum  muss  die  Frage  offen  gelassen  werden.  Dass  aber 
das  Verkündigungsfest  wohl  das  früheste  Marienfest  war,  dafür 
dürfte  auch  der  Umstand  sprechen ,  dass  von  allen  unterschobenen 
Marienfestreden  eben  einige  Verkündigungsreden  an  den  ältesten 
Namen  geheftet  wurden,  an  den  Namen  Gregors  des  Wunderthäters. 
Vielleicht  war  der  »bestimmte  Tag«,  den  die  Ivollyridianerinnen  mit 
götzendienerischem  Unfug  entweihten,  eben  dieses,  möglicher  Weise 
in  ihrer  Heimat  schon  bestehende  Fest,  wenn  auch  Epiphanius  nichts 
davon  ahnen  lässt.  Ja ,  schon  der  alte  Victorinus  von  Pettau 
(f  303)  lässt  erkennen,  dass  man  ein  Interesse  daran  fand,  den 
Verkündigungstag  bedeutsam  zu  fixiren,  wenn  er  in  seinem  »Traktat 
über  die  Weltschöpfung«  sagt:  »an  demselben  Tage  habe  der  Engel 
Gabriel  der  Jungfrau  Maria  die  frohe  Botschaft  gebracht,  an  welchem 
der  Drache  die  Eva  verführt  habe,  an  demselben  Tage  habe  der 


0  Gezwungen.  Der  Name  bedeutet:  Mann  Gottes. 


215 


h.  Geist  die  Jungfrau  Maria  überschattet,  an  welchem  er  das  Licht 
gemacht  habe  x).«  Doch  wir  wollen  uns  nicht  weiter  in  Hypothesen 
ergehen,  und  geben  jetzt  einige  Auszüge  aus  der  Rede  des  Proklus, 
um  zu  hören,  wie  er  sein  Fest  beging. 

»Ein  Jungfrauen-Fest  ruft  heute,  ihr  Brüder,  unsere  Zunge  zu 
andächtiger  Rede  auf,  ein  Fest,  das  den  Versammelten  Nutzen 
schaffen  soll,  und  zwar  mit  vollem  Recht.  Denn  dieses  Fest  hat 
zum  Gegenstand  die  Keuschheit,  den  Preis  der  Frauenwelt,  den  Ruhm 
des  ganzen  weiblichen  Geschlechtes  von  wegen  ihr,  die  zu  gleicher 
Zeit  Mutter  und  Jungfrau  ist.  Lieblich  und  wunderbar  ist  diese 
Festversammlung.  Denn  siehe!  Erde  und  Meer  bringen  Geschenke 
dar  der  Jungfrau,  dieses,  indem  es  seinen  Rücken  den  Lastschiffen 
ruhig  unterbreitet,  jene,  indem  sie  die  Fusstapfen  der  Wanderer 
sicher  geleitet.  Es  juble  die  Natur,  es  jauchze  das  Menschengeschlecht, 
dass  auch  die  Frauen  geehrt  werden;  es  frohlocke  die  Menschheit, 
dass  auch  die  Jungfrauen  verherrlicht  werden.  Denn  wo  die  Sünde 
überschwänglich  ward,  ist  die  Gnade  noch  überschwänglicher  ge¬ 
worden *  2).  Heute  hat  uns  hier  zusammengerufen  die  heilige  Jung¬ 
frau  und  Gottesgebärerin  Maria,  das  unbefleckte  Kleinod  der  Jung¬ 
fräulichkeit,  das  geistige  Paradies  des  zweiten  Adam,  die  Werkstätte 
der  Vereinigung  der  Naturen,  der  Festplatz  des  Erlösungsvertrags, 
das  Brautgemach,  in  welchem  das  Wort  sich  mit  dem  Fleisch  ver¬ 
mählte,  der  beseelte  Dornstrauch  der  Natur,  welchen  das  Feuer  der 
göttlichen  Geburt  nicht  verbrannte ,  die  in  Wahrheit  leichte  Wolke, 
welche  den  über  den  Cherubim  Thronenden  sammt  dem  Körper 
trug,  das  von  himmlischem  Regen  ganz  gereinigte  Vliess,  aus 
welchem  der  Hirte  das  Schaf  kleidete.  Maria  ist  die  Magd  und 
Mutter,  die  Jungfrau  und  der  Himmel,  die  einzige  Brücke  Gottes 
zu  den  Menschen,  der  furchtbare  Webstuhl  der  Heilsveranstaltung, 
auf  welchem  auf  unsagbare  Weise  das  Kleid  der  Vereinigung  ge¬ 
woben  wurde,  dessen  Weber  der  heilige  Geist,  die  Spinnerin  die 
aus  der  Höhe  überschattende  Kraft,  die  Wolle  das  alte  Vliess  des 
Adam,  der  Einschlag  das  unbefleckte  Fleisch  aus  der  Jungfrau,  die 
Weberlade  die  unermessliche  Gnade  des  Boten  (Gabriel),  der  Künstler 
das  durch  das  Gehör  eindringende  Wort.  Wer  hat  gesehen,  wer 
hat  gehört,  dass  Gott  den  Mutterleib  unumgrenzt  bewohnt  hat,  und 


b  Tract.  de  fabr.  mundi,  c.  VI. 

2)  Rom.  V,  20. 


216 


dass  denjenigen,  welchen  der  Himmel  nicht  fasste,  der  Mutterleib 
nicht  beengte? 

»Christus  wurde  geboren  aus  dem  Weibe  nicht  als  blosser 
Gott,  aber  auch  nicht  als  blosser  Mensch,  und  zum  Thore  des  Heiles 
machte  der  Geborene  die  ehemalige  Thüre  der  Sünde.  Denn  wo  die 
Schlange  durch  den  Ungehorsam  das  Gift  eingoss,  dort  baute  das 
Wort,  durch  den  Gehorsam  eindringend,  sich  den  lebendigen  Tempel; 
wo  Kain,  der  Erstling  der  Sünde,  hervortauchte ,  dort  sprosst 
Christus,  der  Erlöser  des  Geschlechts,  ohne  Samen  hervor.  Der 
Menschenfreund  scheute  nicht  die  Geburt  aus  dem  Weibe.  Denn 
Leben  war  die  Absicht.  Nicht  befleckt  wurde  er  durch  die  Be¬ 
wohnung  des  Mutterleibs,  welchen  er  selbst  unversehrt  gebildet  hatte. 
Denn  wenn  die  Mutter  nicht  Jungfrau  blieb,  so  war  der  Geborene 
ein  blosser  Mensch  und  die  Geburt  nicht  wunderbar;  wenn  sie  aber 
auch  nach  der  Geburt  Jungfrau  blieb,  wie  ist  der  Geborene  nicht 
auch  Gott  und  das  Geheimniss  unaussprechlich?  Jener  wurde  auf 
unaussprechliche  Weise  geboren,  welcher  auch  durch  verschlossene 
Thiiren  ungehindert  einging,  bei  welchem  die  Verbindung  der  (gött¬ 
lichen  und  menschlichen)  Naturen  erblickend  Thomas  ausrief:  mein 
Herr  und  mein  Gott! 

»Nimm  keinen  Anstoss  an  der  Geburt,  o  Mensch!  denn  diese  ist 
uns  der  Ausgangspunkt  des  Heiles  geworden.  Wenn  er  nicht  vom 
Weibe  geboren  ist,  so  ist  er  nicht  gestorben ;  wenn  er  nicht  gestorben 
ist,  so  hat  er  auch  nicht  durch  seinen  Tod  dem  die  Macht  ge¬ 
nommen,  der  des  Todes  Gewalt  hat ,  das  ist  dem  Teufel ]).  Es  ist 
kein  Schimpf  für  den  Baumeister,  das  Haus  zu  bewohnen,  welches 
er  selber  gebaut  hat;  es  beschmutzt  der  Thon  den  Töpfer  nicht,  der 
das  Gefäss  erneuert,  welches  er  gebildet  hatte;  so  beschmutzt  auch 
den  unbefleckten  Gott  nicht  das  Hervorgehen  aus  jungfräulichem 
Leibe.  Wie  er  nicht  befleckt  wurde  bei  ihrer  Bildung,  so  wurde  er 
nicht  beschmutzt  beim  Hervorgehen  aus  ihr.  0  Leib,  in  welchem 
unser  Freibrief  aufgesetzt  worden  ist,  o  Leib,  in  welchem  die  Waffe 
gegen  den  Teufel  geschmiedet  worden  ist,  o  Feld,  in  welchem  der 
Ackerbauer  der  Natur  die  Aehre  ohne  Saat  sprossen  liess,  o  Tempel, 
in  welchem  Gott  selber  Priester  geworden  ist  ...  . 

»0  Geheimniss!  ....  Der  Emmanuel  hat  zwar  die  Pforten  der 
Natur  aufgethan,  als  Mensch,  das  Schloss  der  Jungfrauschaft  hat  er 


x)  Hebr.  II,  14. 


217 


nicht  verletzt  und  nicht  zerrissen  als  Gott:  Er  ist  so  aus  dem 
Mutterleibe  ausgetreten,  wie  er  durch  das  Ohr  eingetreten  ist,  er 
ist  so  geboren,  wie  empfangen.  Eingetreten  ohne  Leidenschaft,  aus¬ 
getreten  ohne  Verderben,  wie  der  Prophet  Ezechiel  spricht:  (kommt 
die  Stelle  von  dem  Thor  des  Heiligthums  44,  1,  2).  Siehe,  hier  wird 
die  heilige  Maria  offenbar  als  Gottesgebärerin  erklärt  *)  .  .  .  .« 

Durch  das  Fest,  welches  die  vorstehende  Rede  feiert,  und  welches 
also  unter  allen  Umständen  im  ersten  Drittel  des  fünften  Jahrhunderts 
bestand,  ist  dargethan,  dass  auch  derjenige  allgemein  menschliche 
Faktor  der  Verehrung  eines  Verstorbenen,  welchen  wir  in  der  Ein¬ 
setzung  von  Gedenktagen  erblickten,  bei  der  altchristlichen  Marien¬ 
verehrung  ins  Leben  trat,  allerdings  auch  er,  wie  sich  von  selbst 
versteht,  in  specifisch  religiösem  Gewände.  Dieser  Faktor,  der  zum 
wesentlichsten  für  die  spätere  Geschichte  der  Marienverehrung  wurde, 
hat  sich  verhältnissmässig  spät  gezeigt.  Wie  diess  gekommen,  haben 
wir  erfahren.  Für  seine  reichere  Entfaltung  bedurfte  es  eines  öffent¬ 
lichen  Aktes,  an  welchem  die  gesammte  Christenheit  in  ihren  Ver¬ 
tretern  theilnahm,  und  dieser  Akt  ist  das  Concil  von  Ephesus.  Die 
Wirkungen  dieses  Aktes  liegen  jenseits  des  Zieles,  das  wir  uns  gesteckt 
haben.  Aber  die  Begebenheit  auf  dem  Concile  selbst,  die  eine  Per¬ 
spektive  auf  den  für  Einführung  neuer  Feste  günstigen  Boden  er¬ 
öffnet,  wollen  wir  kurz  erwähnen.  Während  der  ersten  Sitzung,  die 
mit  der  Verurtheilung  des  Nestorius  und  also  mit  der  officiellen  Ein¬ 
führung  des  Titels  »Gottesgebärerin«  schloss,  wartete  die  Bevölkerung 
von  Ephesus  den  ganzen  Tag  mit  Spannung  auf  die  Entscheidung. 
Als  diese  bekannt  wurde,  entstand  ein  allgemeiner  Jubel.  Man 
beleuchtete  die  Stadt  und  geleitete  die  Bischöfe,  namentlich  den 
Cyrill,  mit  Fackeln  und  Rauchfässern  nach  Hause* 2). 

Ausser  diesem  Vorfall  sind  es  die  nach  dem  Siege  gehaltenen 
Reden,  welche  dieselbe  Perspektive  eröffnen.  Beispielsweise  wollen 
wir  nur  noch  aus  zweien  solcher  Reden  des  Hauptaktors  Cyrill 
kurze  Auszüge  geben.  Wenn  auch  diese  Auszüge  im  Grunde  nichts 
anderes  enthalten,  als  panegyrische  Variationen  desselben  Themas, 
welches  die  früher  mitgetheilten  Reden  tractiren,  nemlich  das  für 
die  Erlösung  nothwendige  lebendige  Wunder,  welches  Maria  heisst, 
so  lässt  sich  doch  auch  aus  ihnen  der  Triumphton  heraushören,  der 


4  Procl.  orat.  I.  Gallandi,  T.  IX,  p.  614  ff. 

2)  Hefele,  Conciliengesch.  Bd.  II,  p.  173. 


218 


den  Gesanimtinhalt  dieser  Reden  begreiflicherweise  kennzeichnet. 
Das  erste  Fragment  gehört  der  Rede  an,  welche  Cyrill  in  Ephesus 
nach  dem  Beitritt  von  sieben  weiteren  Bischöfen  zur  Synodalpartei 
in  der  Marienkirche  hielt,  und  lautet: 

»Fröhlich  sehe  ich  die  Versammlung  der  Heiligen,  welche  alle 
bereitwillig  zusammengekommen  sind,  gerufen  von -der  heiligen  Gottes¬ 
gebärerin  Maria,  der  immerwährenden  Jungfrau  ....  Sei  daher 
gegrüsst  von  uns,  heilige,  geheimnissvolle  Dreieinigkeit,  die  du  uns 
alle  zusammengerufen  hast  in  diese  Kirche  der  Gottesgebärerin  Maria. 
Sei  gegrüsst  von  uns,  Maria,  Gottesgebärerin,  ehrwürdiges  Kleinod 
der  ganzen  Welt,  unauslöschliche  Lampe,  Krone  der  Jungfrauschaft, 
Scepter  der  Rechtgläubigkeit,  unzerstörbarer  Tempel,  Gefäss  des  Un- 
erfasslichen,  Mutter  und  Jungfrau,  durch  welche  in  den  heiligen 
Evangelien  derjenige  gebenedeit  genannt  wird,  der  da  kommt  im 
Namen  des  Herrn.  Sei  gegrüsst,  die  du  den  Unbegrenzten  begrenzest 
in  dem  heiligen  jungfräulichen  Mutterschooss,  durch  welche  die  Drei¬ 
einigkeit  verehrt  wird,  durch  welche  das  verehrte  Kreuz  gepriesen 
und  auf  der  ganzen  Welt  angebetet  wird,  durch  welche  der  Himmel 
aufjubelt,  durch  welche  die  Engel  und  Erzengel  sich  freuen,  durch 
welche  die  Dämonen  verjagt  werden,  durch  welche  der  Teufel,  der 
Versucher,  vom  Himmel  fiel,  durch  welche  die  gefallene  Kreatur  in 
den  Himmel  aufgenommen  wird,  durch  welche  die  ganze  Schöpfung, 
in  Götzendienst  befangen,  zur  Erkenntniss  der  Wahrheit  gelangt  ist, 
durch  welche  die  heilige  Taufe  den  Gläubigen  zu  Theil  wird,  durch 
welche  das  Oel  der  Freude  kommt,  durch  welche  in  der  ganzen 
Welt  die  Kirchen  errichtet  worden  sind,  durch  welche  die  Völker 
zur  Busse  geführt  werden,  und,  was  bedarf  es  noch  Vieles  zu  sagen, 
durch  welche  der  eingeborene  Sohn  Gottes  als  Licht  leuchtete  denen, 
die  in  Finsterniss  und  Todesschatten  sassen,  wegen  welcher  die 
Propheten  geweissagt  haben,  durch  welche  die  Apostel  verkün¬ 
digen  das  Heil  den  Völkern,  durch  welche  die  Todten  erweckt  werden, 
durch  welche  die  Könige  herrschen,  durch  die  heilige  Dreieinigkeit. 
Wer  von  den  Menschen  ist  im  Stande,  die  vielgepriesene  Maria  zu 
preisen?  Ein  jungfräulicher  Mutterschooss!  0  Wunder!  —  Dieses 
Wunder  setzt  mich  in  Erstaunen«  u.  s.  w. 1). 

Das  folgende,  zweite,  Bruchstück  ist  aus  einer  späteren  Rede. 
»Gegrüsst  seist  du,  Maria,  Gottesgebärerin,  Jungfrau-Mutter,  Licht- 


b  Cyr.  op.  ed.  Aubert,  Paris  1638.  T.  V,  pars  2,  p.  355. 


219 


bringende,  unbeflecktes  Gefäss.  Gegrüsst  seist  du,  Maria,  Jungfrau, 
Mutter  und  Magd;  Jungfrau  wegen  des  aus  dir,  der  Jungfrau,  Ge¬ 
borenen;  Mutter  wegen  des  auf  deinen  Armen  Getragenen,  und  mit 
deiner  Milch  Genährten;  Magd  wegen  dessen,  der  Knechtsgestalt 
angenommen  hat.  Denn  der  König  ist  eingegangen  in  deine  Stadt, 
vielmehr  in  deinen  Mutterleib,  und  ist  wieder  herausgegangen,  wie  er 
wollte,  und  dein  Thor  war  geschlossen.  Denn  du  hast  empfangen 
ohne  Samen  und  hast  gotteswürdig  geboren.  Gegrüsst  seist  du, 
Maria,  gastlicher,  vielmehr  heiliger  Tempel,  wie  der  Prophet  David 
ruft  mit  den  Worten:  heilig  ist  dein  Tempel,  wunderbar  in  Gerechtig¬ 
keit.  Gegrüsst  seist  du,  Maria,  Kleinod  der  Welt,  gegrüsst  seist  du, 
Maria,  unbefleckte  Taube,  gegrüsst  seist  du,  Maria,  unauslöschliche 
Lampe,  denn  aus  dir  ist  geboren  die  Sonne  der  Gerechtigkeit.  Ge¬ 
grüsst  seist  du,  Maria,  Gefäss  des  Unerfasslichen,  die  das  eingeborene 
Wort  Gottes  fasste,  die  die  unverwelkliche  Aehre  ohne  Pflug  und 
Samen  sprossen  liess.  Gegrüsst  seist  du,  Maria,  Gottesgebärerin, 
wegen  welcher  die  Propheten  rufen,  wegen  welcher  die  Hirten 
lobsingen,  indem  sie  mit  den  Engeln  jenen  furchtbaren  Hymnus 
sprechen:  Ehre  sei  Gott  in  der  Höhe  und  Friede  auf  Erden,  den 
Menschen  ein  Wohlgefallen.  Gegrüsst  seist  du,  Maria,  Gottesge¬ 
bärerin,  wegen  welcher  die  Engel  Reigen  tanzen,  die  Erzengel  auf¬ 
springen,  furchtbare  Hymnen  austönend.  Gegrüsst  seist  du,  Maria, 
Gottesgebärerin,  wegen  welcher  die  Magier  anbeten,  vom  leuchtenden 
Sterne  geführt.  Gegrüsst  seist  du,  Maria,  Gottesgebärerin,  wegen  welcher 
die  zwölftheilige  x)  Pracht  der  Apostel  auserwählt  worden  ist.  Ge¬ 
grüsst  seist  du,  Maria,  Gottesgebärerin,  wegen  welcher  Johannes,  als 
er  noch  im  Mutterleibe  war,  aufsprang  und  als  Leuchter  das  immer 
brennende  Licht  anbetete.  Gegrüsst  seist  du,  Maria,  Gottesgebärerin, 
durch  welche  die  unaussprechliche  Gnade  hervorging,  über  welche 
der  Apostel  laut  verkündete:  die  heiligmachende  Gnade  Gottes  ist 
allen  Menschen  erschienen*  2).  Gegrüsst  seist  du,  Maria,  Gottesgebärerin, 
durch  welche  hervorging  das  wahre  Licht,  unser  Herr  Jesus  Christus, 
der  in  den  Evangelien  spricht :  ich  bin  das  Licht  der  Welt.  Gegrüsst 
seist  du,  Maria,  Gottesgebärerin,  durch  welche  das  Licht  leuchtete 
denen,  die  in  Finsterniss  und  Todesschatten  sassen.  Denn  das  Volk, 


*)  So  ist  vielleicht  zu  vermuthen;  Auberts  Text  hat  hier  ein  wohl  ver¬ 
dorbenes  Wort. 

2)  Tit.  2,  11. 


220 


sagt  (der  Prophet)1),  welches  in  Finsterniss  sass,  sah  ein  grosses 
Licht.  Welches  Licht,  wenn  nicht  unsern  Herrn  Jesus  Christus, 
das  wahrhaftige  Licht,  das  jeden  Menschen  erleuchtet,  der  in  die 
Welt  kommt?  Gegrüsst  seist  du,  Maria,  Gottesgebärerin,  wegen 
welcher  in  den  Evangelien  verkündet  wird:  Gebenedeit  sei,  der  da 
kommt  im  Namen  des  Herrn;  wiegen  welcher  in  den  Städten,  auf 
den  Dörfern,  auf  den  Inseln  die  Kirchen  der  Rechtgläubigen  gegründet 
worden  sind.  Gegrüsst  seist  du,  Maria,  Gottesgebärerin,  durch 
welche  hervorkam  der  Sieger  des  Todes  und  der  Vernichter  der 
Hölle.  Gegrüsst  seist  du,  Maria,  Gottesgebärerin,  durch  wrelche  her¬ 
vorging  der  Bildner  des  zuerst  Gebildeten  und  der  Verbesserer  seiner 
Uebertretung  und  der  Wegweiser  ins  Himmelreich.  Gegrüsst  seist 
du,  Maria,  Gottesgebärerin,  durch  welche  erblühte  und  hervorstrahlte 
die  Herrlichkeit  der  Auferstehung.  Gegrüsst  seist  du,  Maria,  Gottes¬ 
gebärerin,  durch  welche  das  erstaunliche  Taufbad  der  Heiligkeit  im 
Jordan  erflossen  ist;  gegrüsst  seist  du,  Maria,  Gottesgebärerin,  durch 
welche  Johannes  und  der  Jordan  geheiligt  und  der  Teufel  verachtet 
wird.  Gegrüsst  seist  du,  Maria,  Gottesgebärerin,  durch  welche  jede 
gläubige  Seele  gerettet  wird2).«  — 

5)  Ein  specifisches  Moment  der  Heiligenverehrung  ist  endlich 
die  Weihung  von  Kirchen  auf  ihren  Namen.  Bei  den  Märtyrern 
pflegte  man  dieselben  womöglich  über  ihren  Gräbern  zu  errichten. 
Das  Grab  Mariens  kannte  man  nicht  und  doch  trug  die  Kathedrale 
von  Ephesus  ihren  Namen,  wie  wir  aus  der  obigen  Rede  Cyrills 
wissen  und  wie  auch  aus  der  Relation  der  Synode  an  den  Pabst 
Cölestin  hervorgeht,  wo  es  heisst:  »es  tagte  die  heilige  Synode  in 
der  grossen  Kirche  von  Ephesus,  zubenannt  Maria3).«  Indem  wir 
alle  unverbürgten  Nachrichten  über  frühere  Marienkirchen  nicht 
berücksichtigen,  haben  wir  also  zu  constatiren,  dass  es  jedenfalls 
im  Anfang  des  fünften  Jahrhunderts  eine  Kathedrale  gab,  die  ihr 
geweiht  war. 

6)  Und  nun  kommen  wir  zu  den  letzten  für  uns  in  Betracht 
kommenden  Faktoren  der  Verehrung  eines  ausgezeichneten  Verstor¬ 
benen,  nemlich  zu  der  Praxis,  seiner  Lebensgeschichte  nachzu¬ 
forschen,  durch  die  Sage  ihn  zu  verklären,  durch  Werke  der  Poesie 


b  Is.  9,  2. 

2)  Cyr.  op.  T.  V,  pars  2,  p.  380. 

3)  Unter  den  Briefen  Cölest.  bei  Gallandi,  Tom.  IX,  p.  329. 


221 


und  Kunst  ihn  zu  verewigen.  Diese  Faktoren  sind  es  vorzüglich, 
um  deren  willen  wir  bei  der  Betrachtung  der  bisher  abgehandelten 
ziemlich  bunte  Reihe  machten,  um  jene,  die  für  uns  das  haupt¬ 
sächlichste  Interesse  haben,  an  das  Ende  verschieben  und  in  eigenen 
Kapiteln  behandeln  zu  können. 

Biographische  Forschung  und  Sagenbildung  anlangend  bemerken 
wir  hier  nur,  dass  beide  schon  im  ersten  Jahrhundert  Statt  hatten, 
was  einestheils  die  Evangelien  beweisen,  anderntheils  die  in  dem 
öfters  genannten  Protevangelium  bereits  künstlerisch  geformten  Sagen 
voraussetzen. 

Die  Poesie,  welche  der  Gegenstand  des  nächsten  Kapitels  sein 
wird,  gibt  in  einigen  epischen  Produkten  vielleicht  auch  noch  einzelne 
historische  Daten,  wie  z.  B.  die  Namen  von  Marias  Eltern,  die 
Geburt  Christi  in  einer  Höhle,  den  Tod  Mariens  in  Jerusalem  u.  dgl., 
jedenfalls  aber  einen  reichen  Sagenniederschlag. 

Die  Kunst,  welche  das  letzte  Kapitel  bildet,  zeigt  sich  in  ihren 
Darstellungen  vom  vierten,  vielleicht  schon  vom  dritten  Jahrhundert 
ab  von  der  Poesie  beeinflusst,  was  ganz  naturgemäss  ist;  man 
denke  nur  an  das  hiefür  typische  Verhältniss  von  Homer  zur  griechi¬ 
schen  Kunst. 

Beide  Zweige  der  gestaltenden  Phantasie  bieten  eine  fortlaufende 
Reihe  von  Denkmalen  der  wachsenden  Marienverehrung.  Beide, 
namentlich  die  Poesie,  stehen  mit  der  religiösen  Vorstellung  von 
Maria  in  Wechselwirkung.  Sie  empfangen  ihre  Impulse  vom  reli¬ 
giösen  Zeitbewusstsein  und  wirken  wiederum  auf  dieses  zurück,  wie 
wir  oben  bei  der  ersten  Erwähnung  des  Protevangeliums  gesehen 
haben.  Die  Kunst  ist  ja  nach  Boccaccio  nur  eine  andere  Art  der 
Theologie. 


Poesie. 


Die  früheste  dichterische  Verklärung  Mariens  finden  wir  in  den 
»Neutestamentlichen  Apokryphen«.  Die  Büchlein,  welche  mit  diesem 
Namen  bezeichnet  werden,  sind  zwar  nach  den  Untersuchungen  der 
Theologen  sämmtlich  religiöse  Tendenzschriften,  aber  durch  die  Art 
und  Weise,  wie  sie  für  bestimmte  Lehrsätze  oder  Vorstellungen  Propa¬ 
ganda  machen,  participiren  sie  an  dem  Gebiete  der  Dichtung.  Es 
sind  nemlich  bald  mehr  orthodox,  bald  mehr  häretisch  gefärbte 
Legenden  und  zwar  die  ältesten  Legenden,  die  wir  besitzen.  Der 
Rang,  den  die  Legende  auf  der  Stufenleiter  poetischer  Produktion 
bei  den  Aesthetikern  einnimmt,  ist  zwar  kein  sehr  hoher,  doch  wird 
ihr  im  Bereich  der  epischen  Poesie  ein  bescheidenes  Plätzchen  ein¬ 
geräumt.  Man  kann  also  sagen,  dass,  wie  alle  Poesie,  auch  die 
Marienpoesie  mit  dem  Epos  beginnt. 

Die  Legenden,  um  die  es  sich  handelt,  nennen  sich  zum  Theil 
Evangelien.  Man  kann  ihnen  diesen  Titel  mit  dem  nöthigen  Vor¬ 
behalt,  etwa  mit  dem  Beisatz  Pseudo  ganz  wohl  lassen;  denn  erstlich 
machen  sie  den  Anspruch,  von  Aposteln  verfasst  zu  sein,  dann  han¬ 
deln  sie  von  denselben  Personen,  wie  die  kanonischen  Schriften  dieses 
Namens,  und  wollen  eigentlich  diese  nur  durch  umständlichere  Er¬ 
zählung  und  weitere  Ausführung  einiger  Partieen  ergänzen ;  schliess¬ 
lich  lehnen  sie  sich  in  der  Form  vollständig  an  die  biblischen  Bücher 
an.  Das  Letztere  begreift  sich  leicht.  Die  Verfasser  mussten,  wenn 
sie  Glauben  finden  wollten,  in  ungefähr  demselbem  Tone  sprechen, 
der  durch  die  verehrten  Glaubensurkunden  geheiligt  war.  Sie  konnten 
aber  auch  gar  nicht  anders,  denn  die  ersten  unter  ihnen,  die  ihren 
Nachfolgern  zum  Vorbild  dienten,  waren  Judenchristen  und  gehörten 


223 


daher  von  Hause  aus  derselben  Culturwelt  an,  wie  die  meisten  Ver¬ 
fasser  der  kanonischen  Bücher. 

Das  älteste  dieser  Büchlein  nun,  das  uns  zu  beschäftigen  hat,  ist  das 
»Protevangelium  Jakobi«.  Es  stammt  nach  den  Untersuchungen 
der  Gelehrten  aus  den  ersten  Decennien  des  zweiten  Jahrhunderts  l) 
und  reicht  also  noch  nahe  an  die  ächten  Evangelien  heran.  Sein 
dogmatischer  Zweck  ist  augenscheinlich,  gegenüber  den  ältesten 
Häresieen  der  Ebioniten  und  Doketen,  die  wir  oben  kennen  gelernt 
haben,  sowohl  die  wahre  Gottheit,  als  auch  die  wahre  Menschheit 
des  Erlösers  darzuthun,  und  hiefür  hat  sein  Verfasser  kein  dienlicheres 
Mittel  gefunden,  als  die  Glorifikation  der  Mutter.  Um  die  Göttlich¬ 
keit  des  Sohnes  recht  augenfällig  zu  machen,  genügt  ihm  nicht  etwa 
bloss  eine  Erweiterung  der  Verkündigungs-  und  Geburtsscene  und 
was  damit  zusammenhängt,  sondern  er  hält  für  nöthig,  bis  auf  die 
Herkunft  der  Mutter  zurückzugehen  und  sowohl  diese,  als  das  ganze 
Jugendleben  derselben  als  etwas  Ausserordentliches  und  mit  beson¬ 
derer  Begnadigung  von  Oben  Ausgerüstetes  darzustellen.  Ebenso 
lässt  er  sich  angelegen  sein,  nichts  von  dem  Erleben  und  Thun 
Mariens  zu  verschweigen,  was  die  wirkliche  Menschheit  des  Erlösers 
deutlich  machen  kann.  Doch  dieser  dogmatische  Grundgedanke  drängt 
sich  nirgends  in  der  Darstellung  vor;  diese  gibt  sich  vielmehr  einfach 
als  Biographie  Mariens,  die  eben  ihres  wunderbaren  Verlaufs  wegen 
erzählt  wird.  Für  welche  Grundzüge  des  Bildes  der  Jungfrau-Mutter 
das  Büchlein  sich  hiebei  als  älteste  Quelle  zeigt,  haben  wir  oben 
schon  ausgeführt. 

Wir  geben  im  Folgenden  eine  Uebersetzung  der  neuesten  Aus¬ 
gabe  von  Tischendorf  nicht  ohne  Rückblick  auf  die  frühere  treffliche 
Ausgabe  Thilos  und  mit  Benützung  von  Borbergs  und  Hofmanns 
Uebersetzungen 2). 

»I.  1.  In  den  Geschichten  (Geschlechtsregistern)  der  zwölf 
Stämme  Israels  war  (verzeichnet)  Joachim,  ein  sehr  reicher  Mann, 
und  er  brachte  seine  Opfergaben  doppelt  dar,  indem  er  sprach: 
mein  Ueberfluss  soll  für  das  ganze  Volk  sein,  und  mein  Sühnopfer 


])  S.  Tischendorf  in  den  Proleg.  seiner  Ausgabe  und  in  seiner  Schrift:  »Wann 
wurden  unsere  Evangelien  verfasst?«  4.  Aufl.,  Leipz.  1866,  S.  76. 

2)  Tischendorf,  Evang.  apocr.  ed.  2,  Lips.  1876.  Thilo,  Codex  apocr., 
Lips.  1832.  Borberg,  Bibliothek  der  neutestam.  Apokr.,  Stuttgart  1841.  Hof¬ 
mann,  Das  Leben  Jesu  nach  den  Apokr.,  Leipzig  1851. 


224 


soll  dem  Herrn  sein  zur  Sühnung  für  mich.  2.  Es  war  aber  ge¬ 
naht  der  grosse  Tag  des  Herrn  x)  und  es  brachten  die  Söhne 
Israels  ihre  Gaben  dar.  Und  es  stand  ihm  gegenüber  Rüben  und 
sprach:  es  ist  dir  nicht  erlaubt,  zuerst  deine  Gaben  darzubringen, 
weil  du  nicht  Samen  erweckt  hast  in  Israel.  3.  Und  es  betrübte 
sich  Joachim  sehr  und  ging  weg  zu  den  Geschlechtstafeln  der  zwölf 
Stämme  des  Volkes  und  sprach:  ich  will  betrachten  die  Geschlechts¬ 
tafeln  Israels,  ob  ich  allein  keinen  Samen  erweckt  habe  in  Israel. 
Und  er  forschte  und  fand,  dass  alle  Gerechten  Samen  erweckt  haben 
in  Israel;  und  er  gedachte  des  Patriarchen  Abraham,  dass  in  den 
letzten  Tagen  ihm  Gott  einen  Sohn  gegeben,  den  Isaak.  4.  Und 
es  betrübte  sich  Joachim  sehr  und  zeigte  sich  nicht  seinem  Weibe, 
sondern  begab  sich  in  die  Wüste  und  schlug  dort  sein  Zelt  auf,  und 
fastete  vierzig  Tage  und  vierzig  Nächte  und  sprach  bei  sich:  ich 
werde  nicht  hinabsteigen  weder  zu  Speise  noch  zu  Trank,  bis  mich 
ansehen  wird  der  Herr,  mein  Gott,  und  es  soll  das  Gebet  meine 
Speise  und  mein  Getränk  sein.  II.  1.  Sein  Weib  Anna  aber  trauerte 
zwiefache  Trauer  und  klagte  zwiefache  Klage  und  sprach:  ich  will 
beklagen  meine  Witwenschaft  und  ich  will  auch  beklagen  meine 
Kinderlosigkeit.  2.  Es  nahte  aber  der  grosse  Tag  des  Herrn* 2)  und  es 
sprach  Judith,  ihre  Sklavin:  wie  lange  erniedrigst  du  noch  deine  Seele? 
siehe,  es  hat  sich  genaht  der  grosse  Tag  des  Herrn,  und  es  ist  dir 
nicht  erlaubt  zu  trauern;  auf,  nimm  dieses  Kopfband,  welches  mir 
die  Vorsteherin  der  Arbeit  gegeben  hat;  es  ist  mir  nicht  erlaubt,  es 
anzulegen,  weil  ich  eine  Sklavin  bin,  und  es  hat  königliches  Ansehen. 
3.  Und  es  sprach  Anna:  weiche  von  mir,  diess  thue  ich  nicht,  der 
Herr  hat  mich  sehr  erniedrigt;  es  hat  dir  doch  nicht  etwa  ein  Ver¬ 
führer  diess  gegeben  und  du  bist  gekommen,  um  mich  deiner  Sünde 
theilhaftig  zu  machen?  Judith  sprach:  was  soll  ich  dir  anwünschen, 
nachdem  der  Herr  deinen  Schooss  verschlossen  hat,  so  dass  du  nicht 
Frucht  bringst  in  Israel?  4.  Und  es  betrübte  sich  Anna  sehr,  und 
legte  ihre  Trauerkleider  ab  und  wusch  ihr  Haupt,  zog  ihr  Brautkleid 
an  und  ging  um  die  neunte  Stunde  in  den  Garten,  um  zu  lustwandeln. 


b  Wahrscheinlich  meint  der  Autor  den  ersten  Tag  des  Laubhüttenfestes, 
s.  Thilo,  Codex  apocr.  S.  173;  oder  den  Versöhnungstag,  s.  Hofmann,  Das  Leben 
Jesu  nach  den  Apokryphen,  S.  10. 

2)  Wohl  der  letzte  Tag  des  Laubhüttenfestes,  s.  Thilo;  oder  der  erste, 
s.  Hofmann  S.  25. 


Und  sie  sah  einen  Lorbeerbaum,  setzte  sich  unter  denselben  und 
flehte  zum  Herrn  und  sprach:  Gott  meiner  Väter,  segne  mich  und 
erhöre  mein  Gebet,  gleichwie  du  gesegnet  hast  den  Schooss  der 
Sarah  und  ihr  einen  Sohn  gegeben  hast,  den  Isaak.  III.  1.  Und 
aufschauend  zum  Himmel  sah  sie  ein  Sperlingsnest  auf  dem  Lorbeer¬ 
baum  und  brach  in  Klagen  aus  und  sprach:  weh  mir,  wer  hat  mich 
gezeugt?  welcher  Mutterschooss  hat  mich  hervorgebracht?  dass  ich 
ein  Fluch  geboren  bin  im  Angesicht  der  Söhne  Israels  und  bescholten 
bin,  und  sie  haben  mich  hinausgespottet  aus  dem  Tempel  des 
Herrn.  2.  Weh  mir,  wem  bin  ich  zu  vergleichen?  Nicht  zu  ver¬ 
gleichen  bin  ich  den  Vögeln  des  Himmels,  denn  auch  die  Vögel 
des  Himmels  sind  fruchtbar  vor  deinem  Angesichte,  o  Herr.  Weh 
mir,  wem  bin  ich  zu  vergleichen?  Nicht  zu  vergleichen  bin  ich 
den  Thieren  der  Erde,  denn  auch  die  Thiere  der  Erde  sind 
fruchtbar  vor  deinem  Angesichte,  o  Herr!  3.  Weh  mir,  wem  bin 
ich  zu  vergleichen?  Nicht  zu  vergleichen  bin  ich  diesen  Wassern, 
denn  auch  diese  Wasser  sind  fruchtbar  vor  deinem  Angesichte, 
o  Herr!  Weh  mir,  wem  bin  ich  zu  vergleichen?  Nicht  zu  ver¬ 
gleichen  bin  ich  dieser  Erde,  denn  auch  diese  Erde  trägt  ihre 
Früchte  zu  ihrer  Zeit  und  preiset  dich,  o  Herr!  IV.  1.  Und  siehe, 
ein  Engel  des  Herrn  stand  bei  ihr  und  sprach:  Anna,  Anna,  erhört 
hat  der  Herr  deine  Bitte,  und  du  wirst  empfangen  und  gebären, 
und  gepriesen  wird  sein  dein  Samen  in  der  ganzen  Welt.  Und 
Anna  sprach:  so  wahr  der  Herr,  mein  Gott,  lebt,  wenn  ich  ge¬ 
bäre,  sei  es  ein  Knäblein  oder  ein  Mägdlein,  so  will  ich  es  dar¬ 
bringen  als  Weihgeschenk  dem  Herrn,  meinem  Gott,  und  es  soll 
sein  zu  seinem  Dienste  alle  Tage  seines  Lebens.  2.  Und  siehe, 
es  kamen  zwei  Engel  und  sprachen  zu  ihr:  siehe,  Joachim  dein 
Mann,  kommt  mit  seinen  Heerden.  Denn  ein  Engel  des  Herrn  stieg 
herab  zu  ihm  und  sprach:  Joachim,  Joachim,  erhört  hat  Gott  der 
Herr  dein  Flehen,  steige  hinab  von  hier,  denn  siehe,  dein  Weib 
Anna  wird  in  ihrem  Leibe  empfangen.  3.  Und  Joachim  stieg 
herab  und  rief  seine  Hirten  und  sprach:  bringet  mir  hieher  zehn 
fleckenlose  und  tadellose  Lämmer,  und  sie  sollen  dem  Herrn 
meinem  Gott  sein ;  und  bringet  mir  zwölf  zarte  Kälber  und  sie 
sollen  den  Priestern  sein  und  den  Aeltesten;  und  hundert  Ziegen¬ 
böcke  für  das  ganze  Volk.  4.  Und  siehe,  Joachim  kam  mit  seinen 
Heerden,  und  Anna  stand  an  der  Thiire  und  sah  Joachim  kommen 
und  sie  lief  und  hing  an  seinem  Hals  und  sprach:  nun  weiss  ich, 

Lehner,  Die  Marienverehrung.  J5 


226 


dass  Gott  der  Herr  mich  sehr  gesegnet  hat,  denn  siehe,  die 
Witwe  ist  nicht  mehr  Witwe  und  die  Kinderlose  wird  empfangen 
in  ihrem  Leibe.  Und  es  ruhete  Joachim  den  ersten  Tag  in  seinem 
Hause.  V.  1.  Tags  darauf  aber  brachte  er  seine  Gabe  dar  und 
sprach  bei  sich:  wenn  Gott  der  Herr  sich  meiner  erbarmt  hat,  so 
wird  das  Stirnblatt1)  des  Priesters  es  mir  offenbaren.  Und  Joachim 
brachte  seine  Gaben  dar  und  gab  Acht  auf  das  Stirnblatt  des 
Priesters,  als  er  zum  Altäre  des  Herrn  trat,  und  er  sah  kein 
Fehl  an  ihm.  Und  Joachim  sprach:  nun  weiss  ich,  dass  der  Herr 
sich  meiner  erbarmt  und  alle  meine  Sünden  nachgelassen  hat.  Und 
er  stieg  herab  aus  dem  Tempel  des  Herrn  gerechtfertigt  und  ging 
in  sein  Haus.  2.  Es  hatten  sich  aber  ihre  Monate  erfüllt  und  im 
neunten  Monate  gebar  Anna.  Und  sie  sprach  zur  Hebamme:  was 
habe  ich  geboren?  Diese  sprach:  ein  Mägdlein.  Und  Anna  sprach: 
Mein  Herz  ist  erhoben  an  diesem  Tage;  und  sie  legte  sich  nieder. 
Nachdem  aber  die  Tage  erfüllt  waren,  ward  Anna  rein  und  sie  gab 
dem  Kinde  die  Brust  und  nannte  seinen  Namen  Maria.  VI.  1.  Von 
Tag  zu  Tag  erstarkte  das  Mädchen;  als  es  aber  sechs  Monate  alt 
geworden  war,  stellte  es  seine  Mutter  auf  den  Boden,  um  zu  ver¬ 
suchen,  ob  es  stehe.  Und  es  wandelte  sieben  Schritte  und  kam  in 
ihren  Schooss  zurück.  Und  sie  hob  es  auf  und  sprach:  so  wahr 
der  Herr  mein  Gott  lebt,  du  sollst  nicht  mehr  wandeln  auf  dieser 
Erde,  bis  ich  dich  gebracht  habe  in  den  Tempel  des  Herrn.  Und 
sie  machte  ein  Heiligthum  in  ihrem  Schlafgemach  und  nichts  Ge¬ 
meines  und  Unreines  Hess  sie  eingehen  zu  ihm ;  und  sie  rief  die 
unbefleckten  Töchter  der  Hebräer  und  sie  warteten  es.  2.  Es 
vollendete  sich  das  erste  Jahr  des  Mädchens  und  Joachim  ver¬ 
anstaltete  ein  grosses  Festmahl  und  rief  die  Priester  und  die 
Schriftgelehrten  und  die  Aeltesten  und  das  ganze  Volk  Israel.  Und 
Joachim  reichte  das  Kind  den  Priestern  und  sie  segneten  es  und 
sprachen:  Du  Gott  unserer  Väter,  segne  dieses  Kind  und  gib  ihm 
einen  Namen,  genannt  in  allen  Geschlechtern  ewiglich.  Und  es 
sprach  das  ganze  Volk:  Es  geschehe,  es  geschehe,  Amen.  Und  er 
reichte  es  den  Oberpriestern,  und  sie  segneten  es  und  sprachen: 
Du  Gott  in  der  Höhe,  schaue  nieder  auf  dieses  Kind,  und  segne 
es  mit  dem  höchsten  Segen,  der  kein  Ende  hat.  3.  Und  die  Mutter 
nahm  es  hinweg  in  das  Heiligthum  des  Schlafgemachs  und  gab  ihm 


')  S.  Exod.  XXVIII,  36—38. 


die  Brust *).  Anna  sang  einen  Lobgesang  Gott  dem  Herrn  und  sprach : 
ich  will  singen  einen  Lobgesang  dem  Herrn,  meinem  Gott,  weil  er  nieder¬ 
gesehen  hat  auf  mich  und  hinweggenommen  hat  von  mir  den  Schimpf 
meiner  Feinde;  der  Herr  hat  mir  gegeben  eine  Frucht  seiner  Gerechtig¬ 
keit,  einzig  in  ihrer  Art,  vielfältig  vor  seinem  Angesichte.  Wer  wird 
verkünden  den  Söhnen  Rubens,  dass  Anna  säuget?  Höret,  höret, 
ihr  zwölf  Stämme  Israels,  dass  Anna  säuget.  Und  sie  brachte  es  zur 
R.uhe  in  dem  Heiligthum  des  Schlafgemachs  und  kam  heraus  und 
diente  ihnen.  Als  das  Mahl  geendigt  war,  gingen  sie  fröhlich  hin¬ 
weg  und  priesen  den  Gott  Israels.  VII.  1.  Dem  Kinde  mehrten  sich 
seine  Monate.  Es  wurde  zweijährig;  da  sprach  Joachim:  lasst  es 
uns  hinaufführen  in  den  Tempel  des  Herrn,  auf  dass  wir  erfüllen 
das  Gelübde,  das  wir  gethan  haben,  damit  nicht  etwa  der  Herr  sich 
von  uns  wende,  und  unsere  Gabe  unwillkommen  werde.  Anna  sprach: 
warten  wir  das  dritte  Jahr  ab,  damit  das  Kind  nicht  Vater  oder 
Mutter  vermisse.  Und  Joachim  sprach:  warten  wir.  2.  Und  das 
Kind  wurde  dreijährig,  und  Joachim  sprach:  Rufet  die  Töchter  der 
Hebräer,  die  unbefleckten,  und  sie  sollen  nehmen  jede  eine  Lampe 
und  diese  sollen  angezündet  sein,  damit  das  Kind  sich  nicht  rück¬ 
wärts  wende  und  sein  Herz  entfremdet  werde  dem  Tempel  des 
Herrn.  Und  sie  thaten  so,  bis  sie  hinaufkamen  in  den  Tempel  des 
Herrn.  Und  der  Priester  empfing  das  Mädchen  und  küsste  und 
segnete  es  und  sprach:  Der  Herr  macht  gross  deinen  Namen  in 
allen  Geschlechtern;  in  dir  wird  am  Ende  der  Tage  der  Herr  offen¬ 
baren  seine  Sühnung  den  Söhnen  Israels.  3.  Und  er  setzte  sie  auf 
die  dritte  Stufe  des  Altares,  und  Gott  der  Herr  goss  seine  Gnade 
auf  sie,  und  sie  tanzte  mit  ihren  Füssen,  und  es  bewillkommnete  sie 
das  ganze  Haus  Israel.  VIII.  1.  Ihre  Eltern  gingen  weg  voll  Ver¬ 
wunderung  und  lobten  Gott  den  Herrn,  weil  das  Kind  sich  nicht 
rückwärts  gewendet  hatte.  Maria  wurde  in  dem  Tempel  des  Herrn 
wie  eine  Taube  aufgezogen  und  empfing  ihre  Nahrung  aus  Engels 
Hand.  2.  Als  sie  zwölf  Jahre  alt  ward,  wurde  ein  Rath  der  Priester 
gehalten,  welche  sprachen :  siehe,  Maria  ist  zwölfjährig  geworden  im 
Tempel  des  Herrn.  Was  sollen  wir  nun  mit  ihr  thun,  damit  sie 
nicht  etwa  das  Heiligthum  des  Herrn  (durch  die  Ivatamenien)  beflecke? 
Und  sie  sprachen  zum  Oberpriester:  du  stehest  vor  dem  Altäre  des 
Herrn,  gehe  hinein  und  bete  über  sie,  und  was  dir  der  Herr  often- 


i)  Wohl  zum  letzten  Mal;  es  ist  ein  Entwöhnungsfest.  Vgl.  Genes.  21,  8. 


228 


baren  wird,  das  wollen  wir  thun.  3.  Und  der  Oberpriester  legte 
das  Zwölfschellenkleid x)  an  und  ging  ins  Allerheiligste  und  betete 
über  sie.  Und  siehe,  ein  Engel  des  Herrn  stand  bei  ihm  und  sprach: 
Zacharias,  Zacharias,  gehe  hinaus  und  versammle  die  Witwer  des 
Volks  und  sie  sollen  je  einen  Stab  bringen,  und  welchem  der  Herr 
ein  Zeichen  geben  wird,  dessen  Weib  soll  sie  sein.  Da  gingen  die 
Herolde  aus  durch  die  ganze  Umgegend  Judäas;  es  ertönte  die 
Posaune  des  Herrn,  und  alle  liefen  herzu.  IX.  1.  Joseph  warf  das 
Zimmerbeil  weg  und  kam  zu  ihrem  Stelldichein;  versammelt  gingen 
sie  zum  Oberpriester,  die  Stäbe  in  der  Hand.  Dieser  nahm  die 
Stäbe  Aller  und  ging  in  den  Tempel  und  betete.  Nachdem  er  das 
Gebet  vollendet  hatte,  nahm  er  die  Stäbe  und  kam  heraus  und  gab 
sie  ihnen.  Und  es  war  kein  Zeichen  an  denselben.  Den  letzten 
Stab  aber  empfing  Joseph,  und  siehe,  eine  Taube  kam  aus  dem 
Stab  hervor  und  flog  dem  Joseph  auf  das  Haupt.  Und  der  Priester 
sprach  zu  Joseph:  Du  bist  durch  das  Loos  erwählt,  die  Jungfrau 
des  Herrn  zur  Behütung  zu  dir  zu  nehmen.  2.  Und  Joseph  ant¬ 
wortete  und  sprach:  ich  habe  Söhne  und  bin  ein  Greis,  diese  aber 
ist  so  jung;  ich  würde  wohl  zum  Gespötte  werden  bei  den  Söhnen 
Israels.  Und  es  sprach  der  Priester  zu  Joseph:  fürchte  den  Herrn, 
deinen  Gott,  und  gedenke,  was  Gott  gethan  an  Dathan,  Abiron  und 
Korah,  wie  die  Erde  sich  spaltete,  und  sie  verschlungen  wurden  wegen 
ihrer  Widerspenstigkeit.  Und  nun  fürchte  dich,  Joseph,  es  könnte 
dieses  auch  in  deinem  Hause  geschehen.  3.  Und  Joseph  fürchtete 
sich  und  nahm  sie  zur  Behütung  zu  sich.  Und  Joseph  sprach  zu 
Maria:  siehe  ich  empfing  dich  aus  dem  Tempel  des  Herrn,  und  nun 
lasse  ich  dich  in  meinem  Hause  und  gehe  hinweg,  um  meine  Häuser  zu 
bauen,  und  ich  werde  wieder  zu  dir  kommen ;  der  Herr  behüte  dich. 
X.  1.  Es  fand  aber  ein  Rath  der  Priester  statt,  welche  sprachen: 
lasst  uns  einen  Vorhang  machen  für  den  Tempel  des  Herrn.  Und 
der  Priester  sprach :  rufet  mir  unbefleckte  Jungfrauen  aus  dem  Stamme 
Davids.  Und  die  Diener  gingen  und  suchten  und  fanden  sieben 
Jungfrauen.  Und  der  Priester  gedachte  der  Jungfrau  Maria,  dass 
sie  war  aus  dem  Stamme  Davids  und  unbefleckt  war  vor  Gott. 
Und  es  gingen  die  Diener  und  führten  sie  herbei.  Und  sie  führten 


J)  Das  unter  Anderem  auch  mit  Glöckchen  von  Gold  verzierte  amtliche 
Oberkleid.  Die  Zahl  der  Glöckchen  gibt  das  Alte  Testament  nicht  an.  Vgl. 
Exod.  XXVIII,  33,  34. 


229 


dieselben  in  den  Tempel  des  Herrn.  Und  der  Priester  sprach: 
looset  mir,  wer  spinnen  soll  das  Goldene  und  das  Amiantene  und 
den  Byssus  und  das  Seidene  und  das  Hyakinthene  und  das  Scharlach- 
rothe  und  den  ächten  Purpur.  Und  Maria  traf  der  ächte  Purpur 
und  der  Scharlach  und  sie  empfing  es  und  ging  in  ihr  Plaus.  Zu 
jener  Zeit  verstummte  Zacharias,  und  es  ward  statt  seiner  Samuel 
aufgestellt,  bis  Zacharias  wieder  redete.  XI.  1.  Und  sie  nahm  den 
Krug  und  ging  hinaus  Wasser  schöpfen;  und  siehe,  eine  Stimme 
sprach:  gegrüsst  seist  du,  voll  der  Gnaden,  der  Herr  ist  mit  dir, 
gebenedeit  bist  du  unter  den  Weibern.  Und  sie  schaute  umher 
rechts  und  links,  woher  diese  Stimme  komme.  Es  befiel  sie  ein 
Zittern,  und  sie  ging  hinweg  in  ihr  Haus  und  stellte  den  Krug  hin 
und  nahm  den  Purpur,  setzte  sich  auf  ihren  Stuhl  und  spann  ihn  *). 
2.  Und  siehe,  ein  Engel  des  Herrn  stand  vor  ihr  und  sprach:  fürchte 
dich  nicht,  Maria,  denn  du  hast  Gnade  gefunden  vor  dem  Herrn  der 
Welt  und  du  wirst  empfangen  von  seinem  Worte.  Als  sie  das 
hörte,  erwog  sie  es  hin  und  her  und  sprach:  werde  ich  empfangen 
von  dem  Herrn,  dem  lebendigen  Gott,  und  werde  ich  gebären,  wie 
jedes  Weib  gebiert?  3.  Und  der  Engel  des  Herrn  sprach:  nicht  so 
Maria,  denn  die  Kraft  des  Herrn  wird  dich  überschatten,  desswegen 
wird  auch  das  Heilige,  das  aus  dir  geboren,  Sohn  des  Höchsten 
genannt  werden.  Und  du  wirst  seinen  Namen  Jesus  nennen,  denn 
er  wird  sein  Volk  erlösen  von  seinen  Sünden.  Und  Maria  sprach: 
siehe,  ich  bin  eine  Magd  des  Herrn  vor  ihm,  mir  geschehe  nach 
deinem  Worte.  XII.  1.  Und  sie  machte  den  Purpur  und  Scharlach 
fertig  und  brachte  es  dem  Priester.  Und  es  segnete  sie  der  Priester 
und  sprach:  Maria,  Gott  der  Herr  macht  gross  deinen  Namen  und 
du  wirst  gesegnet  sein  in  allen  Geschlechtern  der  Erde.  2.  Erfreut 
ging  Maria  zu  Elisabeth,  ihrer  Verwandten.  Und  sie  klopfte  an  die 
Thiire.  Als  Elisabeth  es  hörte,  warf  sie  den  Scharlach  weg  und 
lief  zur  Thiire  und  öffnete,  und  als  sie  Maria  sah,  segnete  sie  sie 
und  sprach:  woher  mir  das,  dass  die  Mutter  meines  Herrn  zu  mir 
kommt?  denn  siehe,  das  Kind  in  mir  sprang  auf  und  segnete  dich. 
Maria  aber  dachte  nicht  an  die  Geheimnisse,  von  welchen  ihr  der 
Erzengel  Gabriel  gesprochen  hatte,  und  schaute  auf  zum  Himmel 


9  v.a\  slXxsv  a&rrjv  =  sie  zog,  zerrte  ihn  (aus  dem  Rocken?);  darunter  darf 
man  wohl  verstehen:  sie  spann  ihn,  da  die  bildende  Kunst  Maria  bei  der  Ver¬ 
kündigung  auch  spinnend  darstellt,  wie  wir  unten  erfahren  werden. 


230 


und  sprach:  wer  bin  ich,  Herr,  dass  alle  Geschlechter  der  Erde  mich 
segnen?  3.  Und  sie  verbrachte  drei  Monate  bei  Elisabeth.  Tag  für 
Tag  aber  schwoll  ihr  Leib  an,  und  sich  scheuend  ging  Maria  hinweg 
in  ihr  Haus  und  verbarg  sich  vor  den  Söhnen  Israels.  Sie  war  aber 
sechszehn  x)  Jahre  alt,  als  diese  Geheimnisse  sich  zutrugen.  XIII.  1.  Sie 
war  aber  im  sechsten  Monate,  und  siehe,  Joseph  kam  von  seinen 
Häuserbauten,  und  beim  Eintritt  in  sein  Haus  fand  er  sie  gesegneten 
Leibes.  Und  er  schlug  sein  Angesicht  und  warf  sich  zur  Erde  auf 
den  Sack* 2)  und  weinte  bitterlich  und  sprach:  mit  welcher  Stirne 
soll  ich  aufschauen  zu  dem  Herrn,  meinem  Gott?  was  soll  ich  sagen 
über  dieses  Mädchen?  denn  als  Jungfrau  empfing  ich  sie  aus  dem 
Tempel  des  Herrn,  meines  Gottes,  und  habe  sie  nicht  behütet.  Wer 
ist  es,  der  mich  überlistet  hat?  Wer  hat  diese  Schandthat  begangen 
in  meinem  Hause  und  hat  die  Jungfrau  geschändet?  Hat  sich  nicht 
an  mir  wiederholt  die  Geschichte  des  Adam?  Denn  wie  in  der  Stunde 
seiner  Herrlichkeit  die  Schlange  kam  und  Eva  allein  fand  und  betrog, 
so  ist  auch  mir  geschehen.  2.  Und  Joseph  stand  auf  von  dem 
Sack  und  rief  Maria  und  sprach  zu  ihr:  Schützling  Gottes,  warum 
hast  du  das  gethan?  hast  du  vergessen  des  Herrn,  deines  Gottes? 
warum  hast  du  deine  Seele  erniedrigt,  die  du  auferzogen  worden  im 
Allerheiligsten  und  Speise  empfangen  hast  aus  Engels  Hand?  3.  Sie 
aber  weinte  bitterlich  und  sprach :  ich  bin  rein  und  weiss  von  keinem 
Manne.  Und  Joseph  sprach  zu  ihr:  woher  ist  denn  nun  das  in 
deinem  Leibe?  Sie  aber  sprach:  so  wahr  der  Herr  mein  Gott  lebt, 
ich  weiss  es  nicht,  woher  mir  das  ist.  XIV.  1.  Und  Joseph  erschrack 
sehr  und  wandte  sich  von  ihr  und  überlegte,  was  er  mit  ihr  machen 
solle.  Und  Joseph  sprach:  wenn  ich  ihren  Fehltritt  verberge,  so 
werde  ich  als  Feind  erfunden  gegen  das  Gesetz  des  Herrn;  und  wenn 
ich  sie  anzeige  den  Söhnen  Israels,  so  fürchte  ich,  es  möchte  von 
einem  Engel  sein,  was  in  ihr  ist,  und  ich  würde  erfunden  als  einer, 
der  unschuldig  Blut  überliefert  zum  Gerichte  des  Todes.  Was  soll 
ich  also  mit  ihr  machen?  Heimlich  will  ich  mich  von  ihr  scheiden. 
Und  die  Nacht  überraschte  ihn.  2.  Und  siehe,  ein  Engel  des  Herrn 
erschien  ihm  im  Traume  und  sprach:  Fürchte  dich  nicht  wegen  dieses 
Mädchens,  denn  was  in  ihr  ist,  ist  vom  heiligen  Geiste;  sie  wird 


Nach  der  Pariser  Handschrift  des  Thilo:  fünfzehn. 

2)  Wie  bei  der  Todtenklage.  Die  orthodoxen  Juden  haben  heute  noch  diesen 
Brauch.  S.  »Grenzboten«  39.  Jahrg.  2.  Quartal,  S.  163. 


231 


einen  Sohn  gebären  und  du  wirst  seinen  Namen  Jesus  nennen ;  denn 
er  wird  sein  Volk  erlösen  von  seinen  Sünden.  Und  Joseph  stand 
vom  Schlafe  auf  und  pries  den  Gott  Israels,  der  ihm  diese  Gnade 
gab  und  behütete  sie.  XV.  1.  Es  kam  aber  Annas,  der  Schrift¬ 
gelehrte,  zu  ihm  und  sprach  zu  ihm:  was  ist’s,  dass  du  nicht  er¬ 
schienst  in  unserer  Versammlung?  Joseph  sprach  zu  ihm:  weil  ich 
müde  war  von  der  Reise  und  den  ersten  Tag  ausruhte.  Und  er 
wandte  sich  um  und  sah,  dass  Maria  schwanger  war.  2.  Und  er 
ging  eilenden  Fusses  zu  dem  Priester  und  sprach  zu  ihm:  Joseph, 
für  den  du  verantwortlich  bist,  hat  sich  schwer  gegen  das  Gesetz 
vergangen.  Der  Priester  sprach:  wie  so?  Jener  antwortete:  Die 
Jungfrau,  die  er  empfing  aus  dem  Tempel  des  Herrn,  hat  er  ge¬ 
schwächt  und  hat  ihr  Beilager  erstohlen  und  nicht  angezeigt  den 
Söhnen  Israels.  Und  der  Priester  antwortete  und  sprach:  Joseph 
hat  dieses  gethan?  Und  Annas,  der  Schriftgelehrte,  sprach:  Schicke 
Diener  hin  und  du  wirst  finden,  dass  die  Jungfrau  schwanger  ist. 
Und  die  Diener  gingen  hin  und  fanden  es,  wie  er  gesagt  hatte,  und 
führten  sie  sammt  Joseph  vor  das  Gericht.  3.  Und  der  Priester 
sprach:  Maria,  warum  hast  du  das  gethan?  und  hast  dabei  deine 
Seele  erniedrigt  und  vergessen  des  Herrn  deines  Gottes,  die  du  auf¬ 
erzogen  worden  im  Allerheiligsten  und  Speise  empfangen  hast  aus 
Engels  Hand  und  gehört  die  Lobgesänge  und  getanzt  hast  vor  seinem 
Angesichte,  warum  hast  du  das  gethan?  Sie  aber  weinte  bitterlich 
und  sprach:  so  wahr  der  Herr  mein  Gott  lebt,  ich  bin  rein  vor 
seinem  Angesichte  und  weiss  nichts  von  einem  Manne.  4.  Und  der 
Priester  sprach  zu  Joseph:  warum  hast  du  das  gethan?  Und  Joseph 
sprach:  so  wahr  der  Herr  mein  Gott  lebt,  ich  bin  rein  von  ihr. 
Und  der  Priester  sprach:  Gib  nicht  falsches  Zeugniss,  sondern  rede 
die  Wahrheit;  du  hast  das  Beilager  mit  ihr  erstohlen  und  nicht  an¬ 
gezeigt  den  Söhnen  Israels,  und  nicht  dein  Haupt  gebeugt  unter  die 
gewaltige  Hand,  damit  dein  Same  gesegnet  werde.  Und  Joseph 
schwieg.  XVI.  1.  Und  der  Priester  sprach:  gib  die  Jungfrau  ab, 
welche  du  empfingst  aus  dem  Tempel  des  Herrn.  Und  Joseph  weinte 
sehr.  Und  der  Priester  sprach:  ich  werde  euch  das  Fluchwasser1) 
des  Herrn  zu  trinken  geben,  und  er  wird  offenbaren  eure  Sünde  in 
euren  Augen.  2.  Und  der  Priester  nahm  es  und  gab  es  Joseph  zu 
trinken  und  schickte  ihn  in  das  Gebirge;  und  er  kam  ganz  unver- 


x)  Num.  V,  18. 


232 


sehrt  zurück.  Er  gab  es  auch  der  Maria  zu  trinken  und  schickte 
sie  in  das  Gebirge,  und  auch  sie  kam  ganz  unversehrt  zurück. 
Und  es  wunderte  sich  das  ganze  Volk,  dass  keine  Sünde  an  ihnen 
offenbar  wurde.  3.  Und  der  Priester  sprach:  wenn  Gott  der 
Herr  eure  Sünden  nicht  offenbar  gemacht  hat,  so  richte  auch  ich 
euch  nicht.  Und  er  sprach  sie  los.  Und  Joseph  nahm  Maria  und 
ging  in  sein  Haus  voll  Freude  und  lobpreisend  den  Gott  Israels. 
XVII.  1.  Es  erging  aber  ein  Befehl  vom  Kaiser  Augustus,  Alle 
in  Bethlehem  in  Juda  aufzuschreiben.  Und  Joseph  sprach:  ich 
werde  meine  Söhne  aufschreiben  lassen ,  was  soll  ich  aber  mit 
diesem  Mädchen  thun?  wie  soll  ich  sie  aufschreiben  lassen?  als 
mein  Weib?  ich  schäme  mich;  als  meine  Tochter?  aber  alle 
Söhne  Israels  wissen,  dass  sie  nicht  meine  Tochter  ist.  Der  Tag 
des  Herrn  selbst  wird  es  machen,  wie  der  Herr  will.  2.  Und  er 
sattelte  die  Eselin  und  setzte  sie  darauf,  sein  Sohn  leitete  sie  und 
Joseph  folgte.  Und  sie  näherten  sich  bis  auf  drei  Meilen  (zu  Beth¬ 
lehem).  Und  Joseph  wandte  sich  und  sah  sie  traurig  und  sprach 
bei  sich :  vielleicht  bedrängt  sie  das  in  ihrem  Leibe.  Und  wiederum 
wandte  sich  Joseph  und  sah  sie  lächeln.  Und  er  sprach  zu  ihr: 
Maria,  was  ist  dir,  dass  ich  dein  Angesicht  einmal  lächeln,  das 
andere  Mal  trauern  sehe?  Und  Maria  sprach  zu  Joseph:  weil  ich 
zwei.  Völker  sehe  mit  meinen  Augen,  das  eine  weinend  und  klagend, 
das  andere  sich  freuend  und  jauchzend  *)•  3.  Und  sie  hatten  die  Mitte 
des  Weges  erreicht,  da  sprach  Maria  zu  ihm:  hebe  mich  von  der 
Eselin  herab,  weil  das  in  mir  mich  drängt  hervorzukommen.  Und 
er  hob  sie  herab  von  der  Eselin  und  sprach  zu  ihr:  wohin  soll  ich 
dich  führen  und  verbergen  die  Unziemlichkeit?  denn  der  Ort  ist  wüste. 
XVIII.  1.  Und  er  fand  eine  Höhle  daselbst  und  führte  sie  hinein  und 
stellte  daneben  seine  Söhne  und  ging  aus,  eine  hebräische  Hebamme 
in  der  Gegend  Bethlehems  zu  suchen.  2.  Ich  aber,  Joseph,  ging 
umher  und  ging  nicht  umher,  ich  schaute  in  die  Luft  und  sah  die 
Luft  erstarrt,  und  schaute  auf  den  Pol  des  Himmels  und  sah  ihn 
stillestehen  und  die  Vögel  des  Himmels  unbeweglich ;  und  ich  schaute 
zur  Erde  und  sah  eine  Schüssel  stehen  und  Arbeiter  dabei  liegen, 
und  ihre  Hände  wraren  in  der  Schüssel;  und  die  Kauenden  kauten 
nicht,  und  die  Zugreifenden  hoben  nicht  auf,  und  die  zum  Munde 
Führenden  führten  nicht  zu,  sondern  die  Angesichter  Aller  schauten 


3  Aehnlich  Rebekka,  Genes.  XXV,  23. 


233 


nach  oben;  und  siehe,  Schafe  wurden  getrieben  und  sie  gingen  nicht 
vorwärts,  sondern  standen,  und  der  Hirte  hob  seine  Hand  auf,  um 
sie  zu  schlagen  mit  dem  Stabe,  und  seine  Hand  stand  empor;  und 
ich  schaute  auf  das  Strömen  des  Flusses  und  ich  sah  die  Mäuler 
der  Böcke  darauf  liegen  und  nicht  trinken,  und  Alles  war  plötzlich 
in  seiner  Bewegung  aufgehalten.  XIX.  1.  Und  siehe,  ein  Weib  kam 
vom  Berge  herab  und  sprach  zu  mir:  Mann,  wohin  gehst  du?  Und 
ich  sprach:  ich  suche  eine  hebräische  Hebamme.  Und  sie  antwortete 
und  sprach  zu  mir:  bist  du  aus  Israel?  Und  ich  sagte  zu  ihr:  ja. 
Sie  aber  sprach:  Und  wer  ist  es,  die  in  der  Höhle  zu  gebären  im 
Begriffe  steht?  Und  ich  sprach:  die  mir  Verlobte.  Und  sie  sagte 
zu  mir:  ist  sie  nicht  dein  Weib?  Und  ich  sprach  zu  ihr:  Maria  ist 
es,  die  in  dem  Tempel  des  Herrn  Auferzogene,  und  ich  habe  sie  als 
Weib  erloost;  aber  sie  ist  nicht  mein  Weib,  sondern  sie  hat  em¬ 
pfangen  vom  heiligen  Geiste.  Und  die  Hebamme  sprach  zu  ihm: 
Ist  das  wahr?  Und  Joseph  sprach  zu  ihr:  komm  und  siehe.  Und 
die  Hebamme  ging  mit  ihm.  .2.  Und  sie  standen  an  der  Stelle  der 
Höhle.  Und  siehe,  eine  lichte  Wolke  überschattete  die  Höhle.  Und 
es  sprach  die  Hebamme:  Erhöhet  ist  meine  Seele  heute,  weil  meine 
Augen  Wunder  sahen,  denn  das  Heil  Israels  ist  geboren.  Und  plötz¬ 
lich  verzog  sich  die  Wolke  von  der  Höhle,  und  es  erschien  ein  grosses 
Licht  in  der  Höhle,  so  dass  es  unsere  Augen  nicht  ertrugen.  Und 
nach  und  nach  schwand  jenes  Licht,  bis  das  Kind  sichtbar  wurde 
und  kam  und  nahm  die  Brust  von  seiner  Mutter  Maria.  Und  die 
Hebamme  schrie  auf  und  sprach:  Gross  ist  mir  der  heutige  Tag, 
dass  ich  sah  diesen  neuen  Anblick.  3.  Und  die  Hebamme  kam  aus 
der  Höhle  heraus,  und  es  begegnete  ihr  Salome.  Und  sie  sprach 
zu  ihr:  Salome,  Salome,  ein  neues  Wunder  habe  ich  dir  zu  erzählen; 
eine  Jungfrau  hat  geboren,  was  ihre  Natur  nicht  fasst.  Und  Salome 
sprach:  so  wahr  der  Herr  mein  Gott  lebt,  wenn  ich  nicht  meinen 
Finger  anlege  und  ihre  Natur  untersuche,  so  werde  ich  nicht  glauben, 
dass  eine  Jungfrau  geboren  hat.  XX.  1.  Und  die  Hebamme  kam 
herein  und  sprach  zu  Maria:  bereite  dich,  denn  kein  kleiner  Streit 
erhebt  sich  über  dich.  Und  Salome  legte  ihren  Finger  an  und  schrie 
laut  auf  und  sprach:  wehe  über  meine  Frechheit  und  über  meinen 
Unglauben,  dass  ich  den  lebendigen  Gott  versucht  habe,  und  siehe, 
meine  Hand  fällt  ab  von  mir  durch  Feuer.  2.  Und  sie  beugte  ihre 
Kniee  vor  dem  Herrn  und  sprach:  o  Gott  meiner  Väter,  gedenke 
mein,  dass  ich  Same  bin  Abrahams,  Isaaks  und  Jakobs;  mache  mich 


234 


nicht  zum  Beispiel  den  Söhnen  Israels,  sondern  gib  mich  den  Armen 
wieder,  denn  du  weisst,  Herr,  dass  ich  auf  deinen  Namen  meine 
Dienste  darbrachte  und  meinen  Lohn  von  dir  empfing.  3.  Und  siehe, 
ein  Engel  des  Herrn  stand  da  und  sprach  zu  ihr:  Salome,  Salome, 
der  Herr  hat  dich  erhört,  lege  deine  Hand  an  das  Kind  und  berühre 
es,  und  es  wird  dir  Heil  und  Freude  werden.  4.  Und  Salome  trat 
herzu  und  berührte  es  und  sprach:  ich  will  es  anbeten,  denn  ein 
grosser  König  ist  Israel  geboren.-  Und  siehe,  sogleich  ward  Salome 
geheilt  und  ging  hinaus  aus  der  Höhle  gerechtfertigt.  Und  siehe, 
eine  Stimme  sprach:  Salome,  Salome,  verkündige  nicht  die  Wunder, 
die  du  gesehen,  bis  dass  das  Kind  nach  Jerusalem  gekommen  ist. 
XXI.  1.  Und  siehe,  Joseph  war  bereit,  auszugehen  nach  Judäa.  Und 
es  entstand  ein  grosser  Lärm  in  Bethlehem  in  Judäa ;  denn  es  kamen 
Magier  und  sprachen:  wo  ist  der  neugeborene  König  der  Juden? 
Denn  wir  haben  seinen  Stern  gesehen  im  Morgenlande  lind  sind 
gekommen,  ihn  anzubeten.  2.  Und  als  Herodes  das  hörte,  erschrack 
er,  und  sandte  Diener  zu  den  Magiern;  und  er  schickte  auch  nach 
den  Hohepriestern  und  forschte  sie  aus  und  sprach:  wie  steht  ge¬ 
schrieben  über  Christus,  wo  wird  er  geboren  ?  Sie  sprachen  zu  ihm : 
in  Bethlehem  in  Judäa,  denn  so  steht  es  geschrieben.  Und  er  ent- 
liess  sie.  Und  er  forschte  die  Magier  aus  und  sprach  zu  ihnen : 
was  für  ein  Zeichen  habt  ihr  gesehen  über  den  neugeborenen  König? 
Und  die  Magier  sprachen:  wir  haben  einen  sehr  grossen  Stern  ge¬ 
sehen  unter  den  Sternen,  und  er  verdunkelte  sie,  dass  die  Sterne 
nicht  erschienen;  und  wir  haben  so  erkannt,  dass  ein  König  Israel 
geboren  ist,  und  sind  gekommen,  ihn  anzubeten.  Und  Herodes  sprach: 
gehet  hin  und  suchet,  und  wenn  ihr  ihn  gefunden,  so  verkündiget 
es  mir,  damit  auch  ich  komme  und  ihn  anbete.  3.  Und  die  Magier 
gingen  hinweg.  Und  siehe,  der  Stern,  welchen  sie  im  Morgenlande 
gesehen,  ging  vor  ihnen  her,  bis  dass  sie  in  die  Höhle  kamen,  und 
stand  über  dem  Eingang  der  Höhle.  Und  die  Magier  sahen  das 
Kind  mit  seiner  Mutter  Maria  und  zogen  Geschenke  hervor  aus  ihrem 
Reisesack:  Gold,  Weihrauch  und  Myrrhe.  4.  Und  von  dem  Engel 
verständigt,  nicht  nach  Judäa  hineinzugehen,  reiseten  sie  auf  einem 
andern  Wege  in  ihr  Land.  XXII.  1.  Als  aber  Herodes  merkte,  dass 
er  von  den  Magiern  getäuscht  worden  sei,  ward  er  zornig  und 
schickte  Mörder  aus  und  befahl  ihnen:  die  Kinder  von  zwei  Jahren 
und  darunter  tödtet!  2.  Als  Maria  hörte,  dass  die  Kinder  ermordet 
werden,  nahm  sie  das  Ivnäblein  und  wickelte  es  ein  und  legte  es  in 


die  Krippe  der  Rinder1).  3.  Elisabeth  aber,  als  sie  hörte,  dass 
Johannes  gesucht  werde,  nahm  ihn  und  ging  ins  Gebirge  und  schaute 
sich  um,  wo  sie  ihn  verberge.  Und  es  gab  da  keinen  Schlupfwinkel. 
Und  seufzend  sprach  Elisabeth  mit  lauter  Stimme:  Berg  Gottes, 
nimm  auf  die  Mutter  mit  dem  Kinde.  Denn  Elisabeth  konnte  nicht 
hinaufsteigen.  Und  plötzlich  spaltete  sich  der  Berg  und  nahm  sie 
auf.  Und  ein  Licht  schien  für  sie,  denn  ein  Engel  des  Herrn  war 
mit  ihnen,  der  sie  bewachte.  XXIII.  1.  Herodes  aber  suchte  den 
Johannes  und  schickte  Diener  zu  Zacharias  und  sprach:  wo  hast 
du  deinen  Sohn  verborgen?  Der  aber  antwortete  und  sprach  zu 
ihnen:  ich  bin  als  Diener  Gottes  da  und  verweile  im  Tempel 
des  Herrn,  ich  weiss  nicht,  wo  mein  Sohn  ist.  2.  Und  die  Diener 
gingen  weg  und  verkündigten  dem  Herodes  all  das.  Und  Herodes 
wurde  zornig  und  sprach :  sein  Sohn  gedenkt  König  zu  werden  in 
Israel.  Und  er  sandte  zu  ihm  abermals  und  sprach:  sage  die  Wahr¬ 
heit,  wo  ist  dein  Sohn?  Denn  du  weisst,  dass  dein  Blut  in  meiner 
Hand  ist.  Und  die  Diener  gingen  hin  und  meldeten  ihm  all  das. 
3.  Und  Zacharias  sprach:  ich  bin  ein  Zeuge  Gottes,  wenn  du  mein 
Blut  vergiessest;  meinen  Geist  wird  der  Herr  aufnehmen,  denn  un¬ 
schuldig  Blut  vergiessest  du  an  den  Vorthüren  des  Tempels  des  Herrn. 
Und  bei  der  Zwischenwand  wurde  Zacharias  ermordet.  Und  es 
wussten  die  Söhne  Israels  nicht,  dass  er  ermordet  war.  XXIV.  1. 
Aber  die  Priester  kamen  zur  Stunde  der  Begrüssung,  und  es  begegnete 
ihnen  nicht  nach  der  Gewohnheit  der  Segen  des  Zacharias.  Und  es 
standen  die  Priester  wartend  auf  Zacharias,  ihn  zu  begrüssen  im 
Gebete  und  zu  preisen  den  Höchsten.  2.  Als  er  aber  zögerte,  er- 
schracken  sie  alle,  einer  aber  aus  ihnen  fasste  sich  ein  Herz  und 
ging  hinein  und  sah  neben  dem  Altäre  geronnenes  Blut,  und  eine 
Stimme  sprach :  Zacharias  ist  ermordet  worden  und  sein  Blut  wird 
nicht  abgewischt  werden,  bis  sein  Rächer  gekommen  ist.  Und  als 
er  die  Rede  hörte,  erschrack  er  und  kam  heraus  und  verkündete  es 
den  Priestern.  3.  Und  sie  wagten  es  und  gingen  hinein  und  sahen, 
was  geschehen  war,  und  die  Decke  des  Tempels  krachte,  und  sie 
selber  zerrissen  ihre  Kleider  von  oben  bis  unten.  Seinen  Leichnam 
fanden  sie  nicht,  aber  sie  fanden  sein  Blut  zu  Stein  geworden.  Und 
entsetzt  kamen  sie  heraus  und  verkündeten  dem  ganzen  Volke,  dass 
Zacharias  ermordet  sei.  Alle  Stämme  des  Volkes  hörten  es,  und  sie 


3  Nach  Thilo’s  Codex  flieht  sie  mit  Kind  und  Joseph  nach  Aegypten. 


236 


trauerten  und  klagten  über  ihn  drei  Tage  und  drei  Nächte.  4.  Nach 
den  drei  Tagen  aber  beriethen  sich  die  Priester,  wen  sie  statt  seiner 
aufstellen  sollen,  und  das  Loos  fiel  auf  Symeon ;  denn  dieser  war 
vom  heiligen  Geiste  verständigt  worden,  dass  er  den  Tod  nicht  sehen 
werde,  bis  er  Christus  im  Fleische  gesehen  hätte.  XXV.  1.  Ich, 
Jakobus,  aber,  der  diese  Geschichte  in  Jerusalem  schrieb,  zog  mich, 
als  bei  dem  Tode  des  Herodes  Unruhen  entstanden,  in  die  Wüste 
zurück,  bis  die  Unruhen  in  Jerusalem  beendigt  waren,  preisend  Gott 
den  Herrn,  der  mir  die  Gabe  und  die  Weisheit  gab,  diese  Geschichte 
zu  schreiben.  2.  Die  Gnade  aber  sei  mit  denen ,  welche  unsern 
Herrn  Jesum  Christum  fürchten,  welchem  Ehre  sei  von  Ewigkeit  zu 
Ewigkeit,  Amen.« 

Das  Protevangelium  führt,  wie  wir  eben  gesehen  haben,  das 
Leben  Mariens  nur  bis  zum  Kindermord  oder  bis  zu  der  Flucht 
nach  Aegypten,  was  ganz  seinem  Hauptzweck  entspricht,  die  einer¬ 
seits  wunderbare,  andererseits  wirkliche  Geburt  Christi  den  Häresieen 
seiner  Zeit  gegenüber  recht  augenscheinlich  und  handgreiflich  darzu¬ 
stellen. 

Einen  weiteren  Abschnitt  aus  dem  Leben  Mariens  erwartet  man 
in  ein  anderes  Apokryph,  welches  dem  Protevangelium  an  Alter 
gleichkommt,  wenigstens  mitverwoben,  nemlich  in  das  Thomas¬ 
evangelium  »von  der  Kindheit  des  Herrn«.  Doch  enthält  dieses 
Apokryph  in  der  fragmentarischen  Gestalt,  in  welcher  wir  es  be¬ 
sitzen,  eigentlich  nur  eine  wilde  Aneinanderreihung  abenteuerlicher 
Wunder,  die  der  Christusknabe  nach  der  Rückkehr  aus  Aegypten 
zwischen  seinem  fünften  und  zwölften  Lebensjahre  verrichtet  habe, 
und  seine  Mutter  wird  kaum  einige  Mal  nebenher  erwähnt.  Nur 
im  19.  Kapitel  des  griechischen  Textes,  den  Tischendorf  mit  A. 
bezeichnet,  sowie  im  15.  Kapitel  des  hievon  abhängigen  lateinischen 
Thomasevangeliums  wird  ihrer  mit  mehr  als  dem  einen  oder  andern 
Wort  gedacht.  Es  fragen  nemlich  die  Schriftgelehrten  und  Pharisäer 
bei  der  Auffindung  des  zwölfjährigen  Jesus  im  Tempel  die  herzu¬ 
tretende  Mutter,  die  ihren  Sohn  wie  bei  Lukas  anredet  und  von 
ihm  auch  dieselbe  Antwort  bekommt:  »Du  bist  die  Mutter  dieses 
Kindes?  Diese  sprach:  ich  bin  es.  Da  erwiderten  sie  ihr:  selig 
bist  du  unter  den  Weibern,  weil  Gott  die  Frucht  deines  Leibes  ge¬ 
segnet  hat  u.  s.  w.« 

Das  alte  Thomasevangelium  ist  nemlich  entschieden  schon  sehr 
frühe  durch  eine  doketische  Hand  gegangen,  welche  den  natürlichen 


237  — 


Zusammenhang  zwischen  Mutter  und  Kind,  den  der  ursprüngliche 
Text  wohl  gezeigt  hatte,  möglichst  auszumerzen  suchte  1). 

Die  Lücke  zwischen  dem  Ende  des  Protevangeliums  und  dem 
Anfang  des  Thomasevangeliums,  wie  es  uns  erhalten  ist,  muss 
übrigens  auch  schon  in  sehr  alter  Zeit  durch  einige  Erzählungen 
ausgefüllt  gewesen  sein,  welche  die  Flucht  nach  Aegypten,  den  Auf¬ 
enthalt  der  heiligen  Familie  daselbst  und  die  Rückkehr  nach  Palä¬ 
stina  zum  Gegenstand  hatten.  Diess  geht  unter  Anderem  daraus 
hervor,  dass  z.  B.  der  Kirchenhistoriker  Eusebius  im  Anfang  des 
vierten  Jahrhunderts  an  zwei  Stellen  2)  und  der  h.  Athanasius  etwas 
nach  der  Mitte  desselben  in  einer  zu  Alexandrien  verfassten  Schrift 3) 
eine  Begebenheit  aus  der  Flucht  nach  Aegypten  als  geschichtlich 
darstellen.  Sie  erzählen  nemlich,  beim  Einzug  der  heiligen  Familie 
in  eine  ägyptische  Stadt  seien  die  Götzenbilder  zusammengestürzt. 
Cyrill  von  Jerusalem  (f  386)  erklärt  sogar  als  eigentlichen  Zweck 
der  ägyptischen  Reise  die  Vernichtung  der  Götzenbilder 4).  Auch 
Sozomenus,  der  Fortsetzer  des  Eusebius,  berichtet  im  Anfang  des 
fünften  Jahrhunderts  Aehnliches  als  Tradition  der  Aegypter  und  noch 
ausserdem,  dass  ein  hoher  Baum  (bei  ihm  ists  ein  Pfirsichbaum), 
als  Jesus  zu  der  Stadt  Hermopolis  gekommen  sei,  sich  zur  Erde  ge¬ 
neigt  und  ihn  angebetet  hätte  5). 

Solcherlei  Erzählungen,  die  wohl  den  Anfang  des  ursprünglichen, 
unverkürzten  »Kindheitsevangelium«  gebildet  haben  6),  finden  sich  in 
einer  dritten,  lateinisch  verfassten,  apokryphi sehen  Schrift,  in  dem 
»Buche  über  die  Herkunft  der  seligen  Maria  und  die  Kindheit  des 
Heilandes«,  welches  Tischendorf  unter  dem  Titel  »Evangelium  des 
Pseudo-Matthäus«  veröffentlicht  hat.  Dieses  Büchlein  erscheint  als 
eine  freie  Ueberarbeitung  und  Zusammenschweissung  des  Protevan¬ 
geliums  und  Thomasevangeliums,  aber  es  stammt  erst  aus  dem  Ende 
des  fünften  oder  dem  Anfang  des  sechsten  Jahrhunderts  7)  und  fällt 


b  S.  Tischendorfs  Proleg. 

2)  Dem.  ev.  1.  VI,  20  u.  IX,  2. 

3)  De  incarn.  verbi,  Tom.  I,  p.  89. 

4)  Catech.  X,  10. 

5)  Hist,  eccles.  V,  21. 

6)  Vgl.  hierüber  Tischendorfs  Proleg. 

7)  Schade,  lib.  de  infant.  Mar.  et  Chr.  salv.  Halis  Sax,  1869,  p.  3.  Den 
Stuttgarter  Codex  Schade’s  berücksichtigte  Tischendorf  in  der  2.  Ausg.  der  Ev. 
ap.  unter  der  Bezeichnung  E;  S.  p.  51  ff. 


238 


also  eigentlich  ausserhalb  des  Zeitabschnittes,  den  wir  in  Betracht 
ziehen.  Allein  es  enthält  auch  sonst  noch  einige  charakteristische 
Details,  die  älter  sind,  als  seine  Abfassungszeit,  z.  B.  die  Verehrung 
des  neugeborenen  Heilandes  durch  Ochs  und  Esel,  eine  Scene,  deren 
künstlerische  Verwendung  zu  Rom  im  Jahr  343  n.  Gh.  inschriftlich 
beglaubigt  ist,  wie  wir  unten  sehen  werden.  Wir  dürfen  daher  an¬ 
nehmen,  dass  ihm  eine  ältere  lateinische  Uebersetzung,  resp.  Be¬ 
arbeitung  und  Erweiterung  der  griechischen  Originale,  zu  Grunde 
liegt,  und  erlauben  uns  desswegen,  wenigstens  einen  Auszug  aus 
seinem  ersten  Theile  zu  geben ,  wobei  wir  besonders  die  nennens¬ 
wertesten  Abweichungen  vom  Protevangelium  betonen,  ohne  freilich 
feststellen  zu  können ,  wie  viel  oder  wie  wenig  der  zu  Grunde  lie¬ 
genden  Schrift  oder  der  letzten  Redaktion  angehört.  Diese  lateinischen 
Bearbeitungen  sind  auch  darum  von  grossem  Interesse,  weil  begreif¬ 
licher  Weise  aus  ihnen,  und  nicht  aus  den  griechischen  Originalen 
die  mittelalterlichen  »Marienleben«  u.  dg].,  wovon  wir  später  ein 
Wort  sagen,  geflossen  sind. 

Der  Inhalt  des  »Pseudomatthäus«  ist  folgender: 

I.  Joachim,  aus  dem  Stamm  Juda,  lebt  zu  Jerusalem,  theilt  seit 
seinem  fünfzehnten  Jahr  das  Seinige  in  drei  Theile,  den  einen  Theil 
verwendet  er  zu  wohlthätigen  Zwecken,  den  zweiten  zum  Gottes¬ 
dienst,  den  dritten  für  sich.  Mit  zwanzig  Jahren  heirathet  er  Anna, 
die  Tochter  des  Ysachar  aus  seinem  Stamme,  »d.  h.  aus  dem  Ge- 
schlechte  Davids«,  und  lebt  mit  ihr  zwanzig  Jahre  kinderlos.  II.  Sein 
Opfer  weist  der  »Tempelschreiber«  Rüben  zurück.  Er  geht  ins  Ge¬ 
birge  und  lässt  seine  Frau  fünf  Monate  lang  nichts  von  sich  hören. 
Diese  jammert  im  Garten  unter  dem  Sperlingsnest.  Ein  Engel  ver¬ 
kündet  ihr  glorreiche  Nachkommenschaft.  Sie  zieht  sich  erschrocken 
ins  Haus  zurück  und  betet.  Nachher  ruft  sie  ihre  Magd  (ohne 
Namen)  und  wird  von  ihr  gehöhnt.  III.  Der  Engel  erscheint  dem 
Joachim  und  sagt  ihm ,  dass  seine  Frau  »aus  seinem  Samen  eine 
Tochter  empfangen  habe« ,  deren  künftige  Herrlichkeit  er  andeutet. 
Er  fordert  ihn  auf  heimzukehren.  Joachim  entschliesst  sich  hiezu 
nach  wiederholter  Engelserscheinung.  Er  braucht  mit  Hirten  und 
Heerden  dreissig  Tage  und  wird  von  Anna  bei  der  »goldenen 
Pforte«  Jerusalems  erwartet.  IV.  Geburt  Mariä.  Nach  drei  Jahren 
wird  sie  in  den  Tempel  gebracht,  um  unter  die  Tempeljungfrauen 
aufgenommen  zu  werden.  Sie  steigt  die  fünfzehn  Stufen  allein  hin¬ 
auf.  V.  Anna  spricht  ein  Lob-  und  Dankgebet.  VI.  Maria  erregt 


239 


durch  ihr  frühreifes  Wesen  allgemeine  Bewunderung.  Sie  macht 
sich  eine  bestimmte  Tageseinteilung,  indem  sie  mit  Gebet  und  Arbeit 
(Weberei ,  opus  textrinum)  abwechselt.  Sie  empfängt  Besuche  von 
Engeln,  von  einem  derselben  ihre  tägliche  Nahrung.  Dann  folgt  eine 
Charakteristik,  die  mit  der  des  h.  Ambrosius  (S.  161)  manche  Ver¬ 
wandtschaft  zeigt.  Sie  wirkt  Heilwunder.  VII.  Abiathar  verlangt 
sie  zur  Frau  für  seinen  Sohn.  Sie  weigert  sich,  weil  sie  das  Ge¬ 
lübde  der  Keuschheit  abgelegt  habe.  VIII.  Vierzehnjährig  soll  sie 
den  Tempel  verlassen.  Es  wird  eine  allgemeine  Versammlung  be¬ 
rufen.  Der  »Oberpriester«  Abiathar  schlägt  vor,  nachdem  Maria 
Keuschheit  gelobt,  durch  ein  Gottesurtheil  zu  erforschen,  wem  sie 
zur  Behütung  übergeben  werden  solle.  Es  wird  über  die  zwölf 
Stämme  das  Loos  geworfen,  es  trifft  den  Stamm  Juda.  Aus  diesem 
wird  jeder,  »der  ohne  Frau  ist«,  herbeigerufen.  Joseph  wird  nach 
vielen  Umständlichkeiten  auserlesen,  nachdem  an  seinem  Stab  das 
Wunder  mit  der  Taube  geschehen.  Er  weigert  sich,  lässt  sich  aber 
schliesslich  bestimmen,  wie  im  Protevangelium.  Maria  wird  ihm  über¬ 
geben  und  es  werden  zu  ihrer  Gesellschaft  fünf  andere  Jungfrauen 
bestimmt.  Sie  erhalten  die  verschiedenen  Stoffe  zur  Arbeit  für  den 
Tempel  Vorhang.  Weil  Maria  der  Purpur  trifft,  wird  sie  von  ihren 
Genossinnen  Königin  der  Jungfrauen  genannt.  IX.  Maria  empfängt 
zuerst  beim  Brunnen,  dann  nach  drei  Tagen  zu  Hause,  als  sie  mit 
dem  Purpur  beschäftigt  ist,  die  Verkündigung.  X.  Joseph  kommt 
nach  neunmonatlicher  Abwesenheit  in  Kapernaum  zurück  und  jammert 
über  die  Schwangerschaft  seiner  Schutzbefohlenen.  Die  Jungfrauen 
betheuern  ihre  Unschuld  und  vermuthen,  dass  sie  durch  einen  der 
besuchenden  Engel  schwanger  geworden  sei.  Josephs  Bedenken 
werden  hiedurch  nicht  gehoben.  XI.  Er  wird  im  Traum  aufgeklärt. 
XII.  Probe  mit  dem  Fluchwasser.  Man  hat  nicht  ins  Gebirge  zu 
gehen,  sondern  den  Altar  siebenmal  zu  umschreiten.  Maria  erklärt 
vor  dem  ganzen  Volk ,  dass  sie  von  Kindheit  an  Keuschheit  gelobt 
habe,  wird  gerechtfertigt  und  gepriesen.  XIII.  Pteise  nach  Bethlehem. 
Die  Vision  mit  den  beiden  Völkern  wird  von  einem  Engel  gedeutet; 
das  weinende  Volk  ist  das  Judenvolk,  das  fröhliche  das  Heidenvolk. 
Der  Engel  gebietet  Halt  und  schickt  Maria  in  die  Höhle,  wo  sie 
gebiert.  Joseph  kommt  mit  den  zwei  Hebammen  Zelomi  und  Salome. 
Salome  ist  auch  hier  die  ungläubige.  Anbetung  der  Flirten.  Ein 
grosser  Stern  steht  vom  Abend  bis  zum  Morgen  über  der  Höhle,  er 
wird  von  den  Propheten  in  Jerusalem  für  das  Zeichen  der  Geburt 


240 


Christi  erklärt.  XIV.  »Am  dritten  Tage  aber  nach  der  Geburt  des 
Herrn  schritt  Maria  aus  der  Höhle  und  trat  in  einen  Stall  und  legte 
den  Knaben  in  die  Krippe,  und  Ochs  und  Esel  beteten  ihn  an.  Da 
ward  erfüllt,  was  gesagt  ist  durch  den  Propheten  Jesaias  x),  der  da 
spricht:  Erkannt  hat  der  Ochse  seinen  Besitzer  und  der  Esel  die 
Krippe  seines  Herrn.  Die  Thiere  selber  aber,  die  ihn  in  der  Mitte 
hatten,  beteten  unaufhörlich  ihn  an.  Da  ward  erfüllt,  was  gesagt 
ist  durch  den  Propheten  Abakuk *  2),  der  da  spricht:  Inmitten  zweier 
Thiere  wirst  du  bekannt  werden.«  XV.  Am  sechsten  Tage  gehen 
sie  nach  Bethlehem,  beschneiden  den  Knaben  am  achten,  und  nach 
der  Reinigungszeit  gehen  sie  zum  Tempel.  Symeon  und  Anna. 

XVI.  Nach  zwei  Jahren  kommen  die  Magier  über  Jerusalem,  wie  bei 
Lukas,  »treten  ins  Haus  und  finden  das  Kind  auf  dem  Schoosse 
der  Mutter  sitzend«.  Sie  überschütten  Maria  und  Joseph  mit  Ge¬ 
schenken  und  ein  jeder  gibt  auch  dem  Kinde  Goldstücke.  »Hierauf 
brachte  einer  Gold,  ein  anderer  Weihrauch,  ein  anderer  Myrrhe  dar.« 

XVII.  Kindermord,  Flucht  nach  Aegypten.  XVIII.  Joseph  nimmt 
drei  Diener,  Maria  ein  Mädchen  mit.  Die  heilige  Familie  kommt  zu 
einer  Höhle  und  will  ausruhen.  Maria  steigt  von  ihrem  Thier  und 
setzt  sich  nieder,  den  Jesusknaben  auf  dem  Schooss.  Da  kommen 
Drachen  aus  der  Höhle  und  beten  vor  Jesus  an.  Maria  fürchtet  sich, 
aber  Jesus  spricht  ihr  Muth  zu.  XIX.  Bei  der  Weiterreise  gesellen 
sich  Löwen,  Pardel,  Wölfe  zu  der  kleinen  Karawane.  Auch  vor 
diesen  hat  Maria  Angst,  aber  das  Jesuskind  schaut  sie  fröhlich  an  und 
verscheucht  ihre  Furcht.  XX.  Maria  ist  müde  und  hungrig,  darum 
lässt  sich  die  heilige  Familie  unter  einer  Palme  nieder.  Auf  den 
Wunsch  seiner  Mutter,  von  den  Früchten  zu  gemessen,  befiehlt  Jesus 
der  Palme,  sich  niederzubeugen,  so  dass  seine  Mutter  die  Früchte 
bequem  langen  kann.  Unter  den  Wurzeln  des  Baumes  lässt  er  eine 
Quelle  hervorsprudeln.  XXI.  Jesus  schickt  durch  einen  Engel  einen 
Zweig  der  Palme  in  das  Paradies.  XXII.  Jesus  verkürzt  auf  wunder¬ 
bare  Weise  den  Weg.  Sie  kommen  in  das  Gebiet  von  Hermopolis 
und  treten  in  einen  Tempel  der  Stadt  Sotinen.  XXIII.  Als  Maria 
mit  dem  Kinde  eintritt,  stürzen  alle  Götzenbilder  zur  Erde.  XXIV.  Der 
Statthalter  Affrodisius  tritt  an  Maria  heran,  betet  das  Kind  an,  das  sie 
am  Busen  trägt,  und  bekehrt  sich  mit  der  ganzen  Bevölkerung3). 


0  Is.  I,  3. 

2)  Habac.  III,  2;  nach  der  Septuag. 

3)  Pseudo-Matth,  ev.  c.  1 — 24  bei  Tischendorf,  ev.  ap.  ed.  II.  1876,  p.  54—92. 


241 


Hiemit  endet  der  erste  Tlieil  des  Pseudo-Matthäus.  Der  zweite 
Theil  erzählt  die  Wunder  des  Jesusknaben  von  seinem  vierten  Jahre 
an  nach  der  Rückkehr  aus  Aegypten  in  ebenso  wild  phantastischer 
Weise  wie  das  Kindheitsevangelium,  wenn  er  auch  mit  diesem  nicht 
übereinstimmt.  Für  uns  hat  er  hier  kein  weiteres  Interesse. 

Ein  viertes  Apokryph,  das  unsern  Stoff  behandelt,  ist  das 
arabische  »Evangelium  der  Kindheit  des  Heilandes«.  Es  fusst  eben¬ 
falls  theils  auf  dem  Protevangelium  (beginnt  aber  erst  mit  der  Ge¬ 
burt  Christi),  theils  auf  dem  Thomasevangelium,  stammt  jedoch  aus 
dem  siebenten  Jahrhundert 4).  Ein  fünftes  Apokryph,  das  lateinische 
»Evangelium  von  der  Geburt  Mariens«,  ist  noch  jünger* 2).  Diese 
beiden  Schriften  kommen  daher  für  uns  nicht  mehr  in  Betracht. 

Dagegen  haben  wir  uns  mit  der  ursprünglich  koptisch  geschrie¬ 
benen  »Geschichte  Josephs  des  Zimmermanns«  zu  befassen, 
welche,  aus  dem  vierten  Jahrhundert3 4)  stammend,  in  ihrem  ersten 
Theile  etwa  denselben  Inhalt  hat,  wie  das  Protevangelium,  und  in  ihrem 
weiteren  Verlauf  noch  einige  charakteristische  Züge  aus  dem  späteren 
Leben  Mariens  bringt.  Den  ersten  Theil,  welchen  Thilo  für  den 
Rest  eines  sehr  alten  Pseudepigraphums  hält4),  geben  wir  im  Auszuge: 

Maria  (deren  Eltern  nicht  genannt  werden)  kommt  mit  drei 
Jahren  in  den  Tempel  und  bleibt  neun  Jahre  dort.  Nun  berathen 
sich  die  Priester,  wie  ein  gerechter  Mann  ausfindig  zu  machen  sei, 
dem  sie  bis  zu  ihrer  Verheirathung  übergeben  werden  könnte,  weil 
sie  den  Tempel  verlassen  müsse.  Zwölf  Greise  aus  dem  Stamme 
Juda  werden  herbeigerufen.  Das  Loos  soll  entscheiden.  Es  trifft 
den  Witwer  Joseph,  einen  Priester  und  Zimmermann  aus  dem  Hause 
Davids,  der  von  seiner  ersten  Frau  die  oben  (S.  97)  genannten 
sechs  Kinder  hat.  Maria  folgt  ihm  in  sein  Haus  und  erzieht  den 
Jakohus  (den  Jüngern),  daher  sie  »Mutter  Jakobi«  genannt  wird. 
Joseph  geht  seinem  Handwerk  nach  und  Maria  wird  vierzehnjährig. 
Sie  empfängt  Christus.  Drei  Monate  darauf  kehrt  Joseph  heim  und 
gedenkt  die  Schwangere  heimlich  zu  entlassen.  Das  wird  durch 
Gabriels  Erscheinen,  der  mitten  im  Tage  zu  dem  Schlafenden  kommt, 
verhindert.  Reise  nach  Bethlehem  infolge  der  von  Augustus  an- 


9  Schade  a.  a.  0.  p.  5. 

2)  S.  Tischendorfs  Proleg. 

3)  S.  Tischendorf,  Ev.  ap.  ed  II,  pag.  XXXIV;  Schade  p.  6. 

4)  Cod.  apocr.  p.  XX. 

Lehn  er,  Die  Marienverehrung. 


16 


242 


geordneten  Conscription  des  ganzen  Erdkreises;  Geburt  Christi  in 
einer  Höhle  nahe  bei  dem  Grabe  der  Rachel.  Der  Satan  zeigt  die¬ 
selbe  dem  Herodes  an,  der  das  Kind  sucht.  Joseph,  im  Traume 
gewarnt,  flieht  nach  Aegypten  und  Salome  begleitet  die  heilige 
Familie.  Nach  Herodes  Tode  kehrt  diese  zurück  und  wohnt  zu 
Nazareth.  Justus  und  Simeon,  die  älteren  Söhne  Josephs,  heirathen; 
ebenso  seine  beiden  Töchter.  In  Josephs  Hause  bleiben  zurück: 
Judas,  Jakobus  und  Maria  mit  Jesus,  den  sie  und  Joseph  erziehen  1). 
Hieran  schliesst  sich  nun  die  ausführliche  Erzählung  des  Todes 
Josephs.  Als  die  Agonie  beginnt,  »stand  meine  Mutter,  die  unbe¬ 
fleckte  Jungfrau  auf  (erzählt  Christus,  dem  die  ganze  Geschichte 
Josephs  in  den  Mund  gelegt  wird),  trat  zu  mir  und  sprach:  o  mein 
geliebter  Sohn,  jetzt  stirbt  dieser  fromme  Greis  Joseph.  Und  ich 
antwortete  ihr:  o  meine  geliebteste  Mutter,  allen  Wesen,  welche  in 
dieser  Welt  geboren  werden,  ist  dieselbe  Nothwendigkeit  des  Sterbens 
auferlegt;  denn  der  Tod  hat  auf  das  ganze  Menschengeschlecht  ein 
Recht.  Auch  du,  meine  Jungfrau-Mutter,  hast  denselben  Lebens¬ 
ausgang,  wie  die  übrigen  Sterblichen  zu  erwarten.  Jedoch  dein  Tod, 
wie  auch  der  Tod  dieses  Frommen  ist  kein  Tod,  sondern  immer¬ 
währendes  Leben  in  Ewigkeit.  Ja  auch  ich  muss  sterben  in  Retreff 
des  Körpers,  den  ich  von  dir  genommen  habe.  Aber  steh  auf,  o 
meine  verehrungs würdige  Mutter,  komm  und  trete  herein  zu  dem 
gesegneten  Greise  Joseph,  damit  du  sehest,  was  seiner  vom  Körper 
aufsteigenden  Seele  begegne.  Es  ging  also  Maria,  meine  reine  Mutter, 
und  betrat  den  Ort,  wo  Joseph  war.  Und  ich  sass  zu  seinen 
Füssen  ....  und  legte  die  Hand  auf  seine  Brust ....  Als  meine 
Jungfrau-Mutter  mich  seinen  Körper  berühren  sah,  berührte  auch 
sie  seine  Füsse.  Und  da  sie  dieselben  schon  erstorben  und  der 
Wärme  beraubt  fand,  sprach  sie  zu  mir:  o  mein  geliebter  Sohn, 
seine  Füsse  fangen  schon  an  zu  erkalten  und  sind  wie  Schnee. 
Dann  rief  sie  seine  Söhne  und  Töchter  herbei  und  sprach  zu  ihnen: 
kommet  alle  und  tretet  zu  eurem  Vater,  denn  nun  ist  es  gewiss  am 
Ende.  (Alle  weinen.)  Ich  aber  und  meine  Mutter  weinten  auch 
zugleich  mit  ihnen  2)«  .... 

Diese  vereinzelte  Scene  aus  dem  späteren  Leben  Mariens  ist 
insbesondere  auch  desswegen  von  Interesse,  weil  sie  uns  die  Vor- 


b  C.  2-11. 

2)  Cap.  18-20, 


243 


Stellung  des  Verfassers  von  dem  Tode  Mariens  mittheilt.  Der  Ver¬ 
fasser  nimmt  augenscheinlich  an ,  sie  sei  eines  sanften  natürlichen 
Todes  gestorben,  ungefähr  so,  wie  der  Held  seiner  Geschichte. 

Wie  die  Kirchenschriftsteller  des  vierten  Jahrhunderts  darüber 
dachten,  ist  nicht  auszumachen.  So  sagt  Eusebius  in  seinem  Chro- 
nikon  zum  Jahre  48  n.  Ch.:  »Die  Jungfrau  Maria,  die  Mutter  Christi, 
wird  zu  ihrem  Sohne  in  den  Himmel  aufgenommen,  wie  Einige 
schreiben,  dass  ihnen  geoffenbart  worden  sei.«  Wenn  dieser  Satz 
keine  spätere  Interpolation  ist,  wofür  ihn  Viele  halten,  so  kann  er 
einfach  eine  fromme,  ehrerbietige  Wendung  sein,  statt  des  eigentlichen 
Ausdrucks :  sie  stirbt  nach  einigen  Nachrichten.  Aber  das  Wort 
»Aufnehmen«,  und  die  Berufung  auf  Offenbarungen  statt  auf  historische 
Berichte  könnte  doch  schon  auf  die  Vorstellung  eines  ausserordent¬ 
lichen,  wunderbaren  Vorgangs  hindeuten.  Epiphanius  spricht  zwei¬ 
mal  von  der  Sache.  Im  11.  Kapitel  seiner  Schrift  gegen  die  Anti- 
dikomarianiten  *)  sagt  er :  In  der  heiligen  Schrift  finde  sich  keine 
Spur  von  ihrem  Tode,  »weder  ob  sie  gestorben,  oder  nicht  gestorben, 
ob  sie  begraben  oder  nicht  begraben  sei  ...  .  Ich  wage  es  nicht 
zu  entscheiden,  sondern  mache  mir  in  der  Stille  meine  eigenen  Ge¬ 
danken.  Vielleicht  finden  wir  irgendwo  Spuren  jener  Heiligen  und 
Seligen,  ob  auch  ihr  Tod  nicht  zu  finden  ist.  Einestheils  sagt  zwar 
Symeon  von  ihr:  auch  deine  Seele  wird  ein  Schwert  durchdringen 
Anderntheils  heisst  es  in  der  Offenbarung  Johannis *  2),  dass  der  Drache 
sich  auf  das  Weib  stürzte,  welche  ein  Knäblein  geboren  hatte,  und 
es  wurden  ihr  Adlerflügel  gegeben,  und  sie  wurde  in  die  Wüste 
entrückt,  damit  sie  der  Drache  nicht  ergreife.  Vielleicht  kann  das 
an  ihr  erfüllt  sein.  Doch  erkläre  ich  das  nicht  bestimmt  und  sage 
nicht,  dass  sie  unsterblich  blieb,  aber  ich  bin  auch  nicht  sicher,  ob 
sie  gestorben  ist  3).«  Weiter  unten  im  24.  Kapitel  desselben  Buches 
heisst  es:  »Entweder  ist  die  heilige  Jungfrau  gestorben  und  begraben, 
so  ist  ihr  Schlaf  in  Ehren,  ihr  Ende  in  Beinigkeit,  ihre  Krone  bei 
den  Jungfrauen;  oder  sie  ist  getödtet  worden,  wie  geschrieben  steht: 
auch  deine  Seele  wird  ein  Schwert  durchdringen,  so  ist  bei  den 
Märtyrern  ihre  Herrlichkeit,  und  in  Glückseligkeit  ihr  heiliger  Leib, 


3  Haer.  78,  11. 

2)  Apocal.  XII,  13  ff. 

3)  Diess  ist,  beiläufig  gesagt,  die  früheste  Beziehung  des  apokalyptischen 
Weibes  auf  Maria,  die  wir  gefunden  haben. 


244 


durch  welchen  der  Welt  das  Licht  aufgegangen.  Oder  endlich  sie 
ist  geblieben  x).  Denn  Gott  ist  möglich,  Alles  zu  thun,  was  er  will. 
Kurz,  ihr  Ende  kennt  Niemand.« 

Epiphanius  scheint  hienach  immerhin  mehr  dem  Glauben  an 
irgendwelche  wunderbare  Vorgänge  sich  zuzuneigen,  obwohl  er  »ihr 
Ende  nicht  kennt«. 

Dieses  Ende  kennt  nun  ein  Büchlein,  das  in  verschiedenen  Be¬ 
arbeitungen  in  griechischer,  lateinischer  und  arabischer  Sprache  auf 
uns  gekommen  ist  und  von  Melito,  Bischof  von  Sardes,  der  im 
zweiten  Jahrhundert  lebte,  oder  vom  Apostel  Johannes  verfasst  sein 
will.  Dieses  Büchlein  ist  aber  wohl  erst  am  Ende  des  vierten  Jahr¬ 
hunderts,  also  immerhin  noch  bei  Lebzeiten  des  Epiphanius  ent¬ 
standen  und  trägt  den  Titel  »Ueber  den  Hingang  Mariens«. 
Wir  geben  im  Folgenden  die  Uebersetzung  des  von  Tischendorf  ver¬ 
öffentlichten,  den  Johannes  als  Verfasser  nennenden,  griechischen 
Textes,  der  den  übrigen  Redaktionen  zu  Grunde  liegt*  2),  ohne  übrigens, 
sowenig  als  beim  Protevangelium ,  behaupten  zu  wollen ,  dass  diess 
der  ganz  reine,  ursprüngliche  Text  ohne  jeden  späteren  Zusatz  sei. 

»1.  Die  hochheilige,  herrliche  Gottesgebärerin  und  immerwährende 
Jungfrau  Maria  kam  nach  ihrer  Gewohnheit  zum  heiligen  Grabe 
unseres  Herrn,  um  zu  räuchern,  und  beugte  ihre  heiligen  Kniee  und 
bat  demiithig  den  aus  ihr  geborenen  Christus,  unsern  Gott,  sie  auf¬ 
zulösen.  2.  Die  Juden  aber,  welche  sie  an  dem  göttlichen  Grabe 
verweilen  sahen,  kamen  zu  den  Hohepriestern  und  sprachen:  Maria 
kommt  täglich  zu  dem  Grabe.  Die  Hohepriester  riefen  die  Wächter, 
die  von  ihnen  dazu  aufgestellt  waren,  um  Niemand  an  dem  heiligen 
Grabe  beten  zu  lassen,  und  fragten  über  dieselbe,  ob  sich  das  in 
Wahrheit  so  verhalte.  Die  Wächter  antworteten,  sie  hätten  nichts 
dergleichen  gesehen,  da  Gott  es  nicht  zuliess,  dass  sie  ihre  An¬ 
wesenheit  bemerkten.  3.  Eines  Tages,  an  einem  Rüsttage,  kam  die 
heilige  Maria  wieder  nach  ihrer  Gewohnheit  zu  dem  Grabe,  und 
während  sie  betete,  geschah  es,  dass  die  Himmel  sich  öffneten  und 
der  Erzengel  Gabriel  zu  ihr  herabkam  und  sprach:  gegriisst  seist 
du,  die  du  geboren  Christus,  unsern  Gott;  dein  Gebet  drang  in  die 
Himmel  zu  dem  aus  dir  Geborenen  und  ist  angenommen,  und  fortan 


3  Vgl.  Johann.  XXI,  22,  23- 

2)  S.  Tischendorf,  Apocalypses  apocr.  Lips.  1866,  p.  XXXIV  ff.  und  95  ff. 
Max.  Enger,  Joannis  ap.  de  transitu  B.  M.  V.  über.  Elberfeld  1854.  Praef. 


245 


wirst  du  nach  deinem  Gebete  die  Welt  verlassen  und  in  den 
Himmel  zu  deinem  Sohne  eingehen  ins  wahre  und  ewige  Leben. 
4.  Als  sie  diess  von  dem  heiligen  Erzengel  hörte,  kehrte  sie  zurück 
ins  heilige  Bethlehem  und  nahm  drei  Jungfrauen  mit,  die  ihr  dienten. 
Nach  kurzer  Ruhe  richtete  sie  sich  auf  und  sprach  zu  den  Jung¬ 
frauen:  bringet  mir  ein  Rauchfass,  damit  ich  bete.  Und  sie  brachten 
das  Verlangte.  5.  Und  sie  betete  und  sprach:  mein  Herr,  Jesus 
Christus,  der  du  geruht  hast  durch  deine  äusserste  Güte  aus  mir 
geboren  zu  werden,  höre  meine  Stimme  und  sende  mir  deinen  Apostel 
Johannes,  damit,  wenn  ich  ihn  sehe,  meine  Freude  beginne,  und 
sende  mir  auch  deine  übrigen  Apostel,  sowohl  die  schon  bei  dir 
wohnen,  als  die  noch  hienieden  sind,  wo  immer  sie  auch  weilen, 
durch  deinen  heiligen  Befehl,  damit  ich  diese  erblickend  deinen  viel¬ 
gepriesenen  Namen  segne;  denn  ich  bin  getrost,  dass  du  deine 

Magd  in  Jeglichem  erhörest.  6.  Als  sie  noch  betete,  kam  ich, 

Johannes,  indem  der  heilige  Geist  mich  in  einer  Wolke  von  Ephesus 
dahinraffte  und  mich  dahin  stellte,  wo  die  Mutter  meines  Herrn 
lag.  Zu  ihr  eintretend  und  den  aus  ihr  Geborenen  preisend  sprach 
ich:  sei  gegrüsst,  Mutter  meines  Herrn,  die  du  geboren  hast 
Christus  unsern  Gott,  freue  dich,  dass  du  in  grosser  Herrlichkeit 
aus  diesem  Leben  gehest.  7.  Und  die  heilige  Gottesgebärerin  pries 
Gott,  weil  ich,  Johannes,  zu  ihr  kam,  gedenkend  der  Stimme  des 
Herrn,  welche  sprach:  siehe  deine  Mutter  und  siehe  dein  Sohn.  Und 
es  kamen  die  drei  Jungfrauen  und  beteten  an.  8.  Und  die  heilige 
Gottesgebärerin  sprach  zu  mir:  bete  und  streue  Weihrauch.  Und 
ich  betete  so:  Herr  Jesu  Christe,  der  du  Wunder  wirktest,  wirke 

auch  jetzt  Wunder  im  Angesichte  der,  die  dich  geboren,  und  deine 

Mutter  gehe  aus  diesem  Leben,  und  es  fürchten  sich,  die  dich  ge¬ 
kreuzigt  und  nicht  an  dich  geglaubt  haben.  9.  Und  nachdem  ich 
das  Gebet  geendigt,  sprach  zu  mir  die  heilige  Maria:  bring  mir  das 
Rauchfass.  Und  sie  streute  Weihrauch  und  sprach:  Preis  sei  dir, 
mein  Gott  und  mein  Herr,  dass  erfüllt  worden  an  mir,  was  du  mir 
gewährtest,  bevor  du  in  den  Himmel  auffuhrst,  dass,  wenn  ich  aus¬ 
gehe  aus  dieser  Welt,  du  kommen  werdest  und  das  Heer  deiner 
Engel  mit  Herrlichkeit  zu  mir.  10.  Und  ich,  Johannes,  sprach  zu  ihr: 
es  kommt  unser  Herr  und  Gott  Jesus  Christus  und  du  siehst  ihn, 
gleichwie  er  dir  gewährt  hat.  Und  die  heilige  Gottesgebärerin  ant¬ 
wortete  und  sprach  zu  mir:  die  Juden  haben  geschworen,  wenn  ich 
vollendet,  meinen  Leib  zu  verbrennen.  Und  ich  antwortete  und 


246 


sprach  zu  ihr:  nicht  soll  die  Vernichtung  sehen  dein  heiliger  und 
ehrwürdiger  Leib.  Sie  aber  antwortete  und  sprach  zu  mir:  bring 
das  Rauchfass,  wirf  Weihrauch  hinein  und  bete.  Und  es  erscholl 
eine  Stimme  vom  Himmel  und  sprach:  Amen.  11.  Und  ich,  Johannes, 
hörte  diese  Stimme  und  es  sprach  zu  mir  der  heilige  Geist:  Johannes, 
vernahmst  du  diese  Stimme,  welche  im  Himmel  erscholl,  nachdem 
du  das  Gebet  beendigt?  Und  ich  antwortete  und  sprach:  Ja,  ich 
hörte  sie.  Und  es  sprach  zu  mir  der  heilige  Geist:  diese  Stimme, 
die  du  gehört  hast,  zeigt  an  die  bevorstehende  Anwesenheit  deiner 
Brüder,  der  Apostel  und  der  heiligen  Mächte,  denn  heute  kommen 
sie  hieher.  12.  Ich,  Johannes,  betete  hierauf.  Und  der  heilige  Geist 
sprach  zu  den  Aposteln:  alle  zusammen  erhebet  euch  in  Wolken 
aus  den  Enden  der  Welt  und  versammelt  euch  zum  heiligen  Beth¬ 
lehem  im  Sturme  wegen  der  Mutter  unseres  Herrn  Jesu  Christi: 
Petrus  von  Rom,  Paulus  aus  Tiberia1),  Thomas  aus  dem  inneren 
Indien,  Jakobus  von  Jerusalem.  13.  Andreas,  der  Bruder  des  Petrus, 
und  Philippus,  Lukas  und  Simon,  der  Kananite,  und  Thaddäus,  die 
Entschlafenen,  wurden  vom  heiligen  Geiste  aus  den  Gräbern  geweckt. 
Zu  ihnen  sprach  der  heilige  Geist:  glaubet  nicht,  dass  die  Auf¬ 
erstehung  jetzt  ist,  sondern  dess wegen  steht  ihr  aus  euren  Gräbern 
auf,  damit  ihr  kommet  zur  Begrüssung  bei  der  wunderbaren  Ver¬ 
herrlichung  der  Mutter  unseres  Herrn  und  Heilandes  Jesu  Christi, 
denn  es  ist  der  Tag  ihrer  Auflösung  gekommen ,  ihres  Hingangs  in 
den  Himmel.  14.  Markus  aber,  der  auch  noch  lebte,  kam  ebenfalls 
von  Alexandrien  mit  den  Uebrigen  aus  allen  Landen,  wie  gesagt 
worden.  15.  Petrus  aber,  umschlossen  von  der  Wolke,  stand  mitten 
zwischen  Himmel  und  Erde,  da  der  heilige  Geist  ihn  festhielt,  bis 
die  übrigen  Apostel,  welche  ebenfalls  in  Wolken  entführt  waren, 
mit  Petrus  sich  zusammenfanden,  und  so  kamen  durch  den  heiligen 
Geist,  wie  gesagt,  alle  zu  gleicher  Zeit  an.  16.  Und  hineintretend 
zu  der  Mutter  unseres  Herrn  und  Gottes  beteten  sie  an  und  sprachen: 
fürchte  dich  nicht  und  betrübe  dich  nicht,  Gott  der  Herr,  der  aus 
dir  geboren,  wird  dich  wegnehmen  aus  dieser  Welt  mit  Herrlichkeit. 
Und  frohlockend  in  Gott,  ihrem  Heilande,  richtete  sie  sich  auf  im 
Bette  und  sprach  zu  den  Aposteln:  eben  glaubte  ich,  dass  unser 
Lehrer  und  Gott  vom  Himmel  kommt,  und  ich  ihn  sehe  und  so  aus 
diesem  Leben  scheide,  wie  ich  euch  kommen  sah.  Und  ich  will, 


x)  Nemlich  dem  römischen  Tiberia. 


247 


dass  ihr  mir  saget,  woher  ihr  wusstet,  dass  ich  scheide,  und  zu  mir 
kamt,  und  von  welchen  Gegenden  und  wie  weit  ihr  hieher  kämet, 
dass  ihr  so  schnell  vor  meinen  Augen  erscheinet.  Denn  nicht  hat 
es  mir  verborgen  der  von  mir  Geborene,  unser  Herr  Jesus  Christus, 
der  Gott  der  Welt,  denn  ich  habe  auch  jetzt  geglaubt,  dass  dieser 
es  ist,  der  Sohn  des  Höchsten.  17.  Und  Petrus  antwortete  und 
sprach  zu  den  Aposteln:  lasst  uns  alle  nacheinander  der  Mutter 
unseres  Herrn  Auskunft  ertheilen ,  wozu  der  heilige  Geist  uns  auf¬ 
gerufen  und  befohlen  hat.  18.  Und  ich,  Johannes,  antwortete  und 
sprach:  eben  als  ich  eintrat,  um  am  heiligen  Altäre  zu  Ephesus  des 
Amts  zu  walten,  sprach  der  heilige  Geist  zu  mir:  die  Zeit  der  Auf¬ 
lösung  der  Mutter  deines  Herrn  hat  sich  genahet,  fahre  nach  Beth¬ 
lehem  zu  ihrer  Begrüssung.  Und  eine  Lichtwolke  entführte  mich, 
und  an  der  Thüre  stellte  sie  mich  nieder.  19.  Es  antwortete  auch 
Petrus:  ich  weilte  in  Rom  und  hörte  um  Tagesanbruch  eine  Stimme 
durch  den  heiligen  Geist,  welche  zu  mir  sprach:  die  Mutter  deines 
Herrn  ist  dem  Augenblick  ihrer  Auflösung  nahe,  fahre  nach  Beth¬ 
lehem  zu  ihrer  Begrüssung.  Und  siehe,  eine  Lichtwolke  entführte 
mich,  und  ich  sah  auch  die  übrigen  Apostel  in  Wolken  zu  mir 
kommen  und  hörte  eine  Stimme  sagen:  gehet  alle  nach  Bethlehem. 
20.  Auch  Paulus  antwortete  und  sprach:  ich  weilte  in  einer  Stadt, 
welche  von  Rom  ziemlich  entfernt  liegt,  Tiberia  heisst  die  Gegend, 
als  ich  den  heiligen  Geist  mir  sagen  hörte:  die  Mutter  deines  Herrn 
verlässt  diese  Welt  und  macht  durch  die  Auflösung  die  Fahrt  zum 
Himmel,  auf,  gehe  ebenfalls  nach  Bethlehem  zu  ihrer  Begrüssung. 
Und  siehe ,  eine  lichte  Wolke  entführte  mich  und  brachte  mich 
hieher,  wie  euch.  21.  Es  antwortete  auch  Thomas  und  sprach: 
ich  reiste  durch  das  Land  der  Inder,  da  die  Verkündigung  (des 
Wortes)  durch  die  Gnade  Christi  Macht  gewann  und  der  Sohn  der 
Schwester  des  Königs,  mit  Namen  Labdanes,  im  Begriffe  stand  von 
mir  besiegelt  zu  werden  x)  im  Palaste,  da  sprach  plötzlich  der  heilige 
Geist  zu  mir:  auch  du,  Thomas,  gehe  nach  Bethlehem  zur  Begrüssung 
der  Mutter  deines  Herrn,  denn  sie  macht  die  Wanderung  zum 
Himmel.  Und  eine  Lichtwolke  entführte  mich  und  stellte  mich  zu 
euch.  22.  Auch  Markus  antwortete  und  sprach:  als  ich  das  Gebet  der 
dritten  Tagesstunde  verrichtete  in  der  Stadt  Alexandria,  entführte 
mich,  während  ich  betete,  der  heilige  Geist  und  führte  mich  zu  euch. 


»)  Vgl.  If.  Cor.  I,  22;  Eph.  I,  13;  IV,  30. 


248 


23.  Auch  Jakobus  antwortete  und  sprach:  ich  war  in  Jerusalem,  da 
befahl  mir  der  heilige  Geist  und  sprach:  gehe  nach  Bethlehem,  denn 
die  Mutter  deines  Herrn  geht  ihrer  Auflösung  entgegen.  Und  siehe, 
eine  Lichtwolke  entführte  mich  und  stellte  mich  zu  euch.  24.  Auch 
Matthäus  antwortete  und  sprach:  ich  pries  und  preise  den  Herrn, 
denn  als  ich  im  Schiffe  war  und  vom  Sturme  bedrängt  wurde,  da 
das  Meer  mit  Wellen  wüthete,  überschattete  mich  plötzlich  eine 
lichte  Wolke  und  vertrieb  die  Sturm  wellen  durch  Meeresstille,  mich 
aber  entführte  sie  und  stellte  mich  zu  euch.  25.  Und  es  antworteten 
die  vorher  Abgeschiedenen  in  gleicher  Weise,  und  erzählten,  wie  sie 
herbeigekommen.  Und  Bartholomäus  sprach:  ich  sass  in  der  Thebais, 
das  Wort  verkündigend,  und  siehe,  der  heilige  Geist  sprach  zu  mir: 
die  Mutter  deines  Herrn  geht  ihrer  Auflösung  entgegen,  gehe  nun 
zu  ihrer  Begrüssung  nach  Bethlehem.  Und  siehe,  eine  Lichtwolke 
entführte  mich  und  brachte  mich  zu  euch.  26.  Dieses  Alles  sagten 
die  Apostel  zu  der  heiligen  Gottesgebärerin,  woher  sie  kamen  und 
auf  welche  Weise;  und  sie  streckte  die  Hände  zum  Himmel  aus 
und  betete  und  sprach:  ich  bete  an  und  singe  und  preise  deinen 
herrlichen  Namen,  Herr,  dass  du  angesehen  hast  die  Niedrigkeit 
deiner  Magd  und  Grosses  an  mir  gethan  hast,  du  Mächtiger,  und 
siehe,  es  werden  mich  selig  preisen  alle  Geschlechter.  27.  Und 
nach  dem  Gebete  sagte  sie  zu  den  Aposteln:  streuet  Weihrauch  und 
betet.  Und  als  sie  beteten,  erscholl  Donner  vom  Himmel  und  es 
kam  ein  furchtbares  Geräusch  wie  von  Streitwagen,  und  sieh,  es  er¬ 
schien  die  Heerschaar  der  Engel  und  Mächte.  Und  eine  Stimme  wie 
eines  Menschensohnes  wurde  gehört,  und  die  Seraphim  bildeten  einen 
Kreis  um  das  Haus,  wo  die  heilige  unbefleckte  Mutter  Gottes  und 
Jungfrau  lag,  so  dass  alle  Leute  in  Bethlehem  alle  die  Wunder  sahen 
und  nach  Jerusalem  gingen  und  alle  die  geschehenen  Wunder  ver¬ 
kündigten.  28.  Es  geschah  aber,  als  die  Stimme  ertönt  war,  erschien 
plötzlich  die  Sonne  und  der  Mond  um  das  Haus ,  und  die  Kirche 
der  erstgeborenen  Heiligen  stand  bei  dem  Hause,  wo  die  Mutter  des 
Herrn  lag,  zu  ihrer  Ehre  und  ihrem  Ruhme.  Und  ich  sah  auch 
viele  Zeichen  geschehen,  Blinde  sahen,  Taube  hörten,  Lahme  gingen, 
Aussätzige  wurden  rein  und  die  von  bösen  Geistern  Besessenen 
wurden  geheilt.  Und  jeder,  der  an  Krankheit  und  Schwachheit 
darniederlag  und  von  aussen  die  Mauer  des  Hauses  berührte,  wo 
sie  lag,  und  schrie:  heilige  Maria,  die  du  Christum,  unsern  Gott, 
geboren  hast,  erbarme  dich  unser,  der  wurde  sofort  geheilt.  29.  Viele 


249 


Volkshaufen  aber  aus  allen  Landen,  welche  in  Jerusalem  des  Gebetes 
halber  weilten  und  von  den  in  Bethlehem  durch  die  Mutter  des  Herrn 
geschehenen  Zeichen  hörten ,  kamen  zu  dem  Ort  und  baten  um 
Heilung  verschiedener  Krankheiten  und  erhielten  sie.  Es  entstand 
eine  unaussprechliche  Freude  an  jenem  Tage  bei  der  Menge  der 
Geheilten  sowie  der  Zuschauer,  welche  Christus  unsern  Gott  und 
seine  Mutter  lobten;  ganz  Jerusalem  feierte  ein  Fest  in  Bethlehem 
mit  Psalmen  und  geistlichen  Liedern.  30.  Die  Priester  aber  der 
Juden  sammt  dem  Volke  derselben  entsetzten  sich  über  das  Ge¬ 
schehene,  wurden  vom  heftigsten  Eifer  ergriffen  und  hielten  mit 
thöriehter  Berechnung  einen  Rath  und  beschlossen  gegen  die  heilige 
Jungfrau  und  die  dort  weilenden  heiligen  Apostel  nach  Bethlehem 
zu  ziehen.  Als  nun  der  Haufe  der  Juden  etwa  eine  Meile  weit  gegen 
Bethlehem  aufgebrochen  war,  da  geschah  es,  dass  sie  ein  schreck¬ 
liches  Gesicht  sahen,  und  es  waren  ihre  Fiisse  gebunden  und  sofort 
kehrten  sie  um  zu  den  Volksgenossen  und  erzählten  das  ganze 
fürchterliche  Gesicht  den  Hohepriestern.  31.  Jene  aber  brausten 
noch  mehr  auf  in  ihrem  Gemüthe  und  gingen  zu  dem  Präfekten,  und 
schrieen  und  sprachen:  Das  Volk  der  Juden  geht  zu  Grunde  durch 
dieses  Weib,  verjage  sie  von  Bethlehem  und  der  Provinz  Jerusalem. 
Der  Präfekt  erstaunte  ob  der  Wunder  und  sprach  zu  ihnen:  ich 
vertreibe  sie  weder  von  Bethlehem  noch  von  einem  andern  Orte. 
Die  Juden  aber  blieben  und  schrieen  und  beschworen  ihn  beim  Leben 
des  Kaisers  Tiberius,  dass  er  auch  die  Apostel  aus  Bethlehem  ver¬ 
treiben  solle;  wenn  du  diess  nicht  thust,  so  melden  wir  es  beim 
Kaiser.  Und  so  genöthigt  schickte  er  einen  Chiliarchen  gegen  die 
Apostel  nach  Bethlehem.  32.  Der  heilige  Geist  aber  sprach  zu  den 
Aposteln  und  der  Mutter  des  Herrn:  siehe  der  Präfekt  schickte  einen 
Chiliarchen  nach  euch  auf  Betreiben  der  Juden.  Gehet  also  von 
Bethlehem  weg  und  fürchtet  euch  nicht;  denn  siehe,  ich  führe  euch 
in  einer  Wolke  nach  Jerusalem,  denn  die  Kraft  des  Vaters  und  des 
Sohnes  und  des  heiligen  Geistes  ist  mit  euch.  33.  Es  erhoben  sich 
also  die  Apostel  sofort  und  verliessen  das  Haus,  indem  sie  das  Bett 
der  Herrin  Gottesgebärerin  trugen,  und  brachen  auf  gegen  Jerusalem. 
Sofort  aber  wurden  sie,  gleichwie  der  heilige  Geist  gesagt  hatte,  von 
einer  Wolke  aufgenommen  und  fanden  sich  in  Jerusalem  im  Hause 
der  Herrin.  Und  sie  erhoben  sich  und  sangen  fünf  Tage  lang  unauf¬ 
hörlich  Lobgesänge.  34.  Als  aber  der  Chiliarch  nach  Bethlehem 
gelangte  und  dort  die  Mutter  des  Herrn  und  die  Apostel  nicht  fand, 


250 


ergriff  er  die  Bethlehemiten  und  sprach  zu  ihnen:  seid  nicht  ihr  ge¬ 
kommen  und  habt  dem  Präfekten  und  den  Priestern  all  die  ge¬ 
schehenen  Zeichen  und  Wunder  gesagt,  und  dass  die  Apostel  aus 
aller  Welt  herbeigekommen  seien?  wo  sind  sie  nun?  Wohlan,  kommt 
mit  zum  Präfekten  nach  Jerusalem.  Denn  der  Chiliarch  wusste 
nicht  um  die  Versetzung  der  Apostel  und  der  Mutter  des  Herrn  nach 
Jerusalem.  Der  Chiliarch  nahm  also  die  Bethlehemiten  mit  und  kam 
zum  Präfekten  und  sagte,  er  habe  Niemand  gefunden.  35.  Nach 
fünf  Tagen  aber  wurde  es  dem  Präfekten  und  den  Priestern  und 
der  ganzen  Stadt  bekannt,  dass  die  Mutter  des  Herrn  mit  den  Aposteln 
im  eigenen  Hause  in  Jerusalem  sei,  aus  den  dort  geschehenen  Zeichen 
und  Wundern.  Eine  Menge  Männer,  Frauen  und  Jungfrauen  hatten 
sich  versammelt  und  riefen:  heilige  Jungfrau,  die  du  Christus,  unsern 
Gott,  geboren  hast,  vergiss  nicht  des  Menschengeschlechtes !  Als  diess 
geschah,  kam  das  Volk  der  Juden  sammt  den  Priestern  noch  mehr 
in  Aufruhr,  und  sie  brachten  Holz  und  Feuer  herbei  und  wollten  das 
Haus  anzünden,  wo  die  Mutter  des  Herrn  lag  mit  den  Aposteln. 
Der  Präfekt  aber  stand  und  betrachtete  von  ferne  das  Schauspiel. 
Als  das  Volk  der  Juden  an  die  Thüre  des  Hauses  gelangte,  siehe, 
da  kam  plötzlich  durch  einen  Engel  Feuersgewalt  aus  dem  Innern 
und  verbrannte  eine  grosse  Menge  Juden.  Und  es  entstand  durch 
die  ganze  Stadt  ein  grosser  Schrecken  und  sie  priesen  Gott,  der  aus 
ihr  geboren  ist.  36.  Als  aber  der  Präfekt  das  Geschehene  sah, 
schrie  er  auf  über  das  ganze  Volk  und  sprach:  in  Wahrheit  ist 
Gottes  Sohn  der  aus  der  Jungfrau  Geborene,  die  ihr  zu  verjagen 
gedachtet,  denn  das  sind  Zeichen  des  wahrhaftigen  Gottes.  Es  erhob 
sich  aber  eine  Spaltung  unter  den  Juden,  und  viele  glaubten  an  den 
Namen  unseres  Herrn  Jesus  Christus  auf  die  gewordenen  Zeichen. 
37.  Nachdem  aber  alle  diese  Wunder  durch  die  Gottesgebärerin  und 
immerwährende  Jungfrau  Maria ,  die  Mutter  des  Herrn ,  geschehen 
waren,  als  wir  Apostel  mit  ihr  in  Jerusalem  waren,  sprach  zu  uns 
der  heilige  Geist:  ihr  wisst,  dass  am  Sonntag  die  Jungfrau  Maria  die 
Verkündigung  von  dem  Erzengel  Gabriel  erhielt,  dass  am  Sonntag 
der  Heiland  in  Bethlehem  geboren  wurde,  dass  am  Sonntag  die  Kinder 
Jerusalems  herauskamen  mit  Pahnzweigen  dem  Herrn  entgegen  und 
sprachen:  Hosianna  in  der  Höhe,  gepriesen  sei  der  da  kommt  im 
Namen  des  Herrn,  dass  am  Sonntag  er  von  den  Todten  auferstand, 
dass  am  Sonntag  er  kommen  wird  zu  richten  die  Lebendigen  und 
die  Todten  und  dass  am  Sonntag  er  kommen  wird  vom  Himmel 


251 


zu  Ruhm  und  Ehren  der  Auflösung  der  heiligen  herrlichen  Jung¬ 
frau,  die  ihn  geboren.  38.  Und  an  demselben  Sonntag  sprach  die 
Mutter  des  Herrn  zu  den  Aposteln:  streuet  Weihrauch,  denn  Christus 
kommt  mit  dem  Engelsheer.  ,  Und  siehe,  Christus  war  da,  sitzend 
auf  dem  Cherubimthrone.  Und  da  wir  alle  beteten,  erschienen  un¬ 
zählbare  Engelschaaren  und  der  Herr  auf  Cherubim  thronend  in 
grosser  Macht;  und  siehe,  ein  Lichtglanz  strahlte  auf  die  heilige 
Jungfrau  durch  die  Anwesenheit  ihres  eingeborenen  Sohnes,  und 
niederfallend  beteten  ihn  an  alle  die  Himmelsmächte.  39.  Und  der 
Herr  erhob  seine  Stimme  gegen  seine  Mutter  und  sprach:  Maria. 
Und  sie  antwortete  und  sprach:  siehe,  hier  bin  ich,  Herr.  Und  es 
sprach  zu  ihr  der  Herr:  betrübe  dich  nicht,  sondern  dein  Herz  freue 
sich  und  frohlocke,  denn  du  hast  Gnade  gefunden  zu  schauen  die 
Herrlichkeit,  die  mir  von  meinem  Vater  gegeben  ist.  Und  aufblickend 
sah  die  heilige  Mutter  Gottes  eine  Herrlichkeit  an  ihm,  welche  Menschen¬ 
mund  nicht  im  Stande  ist  auszusprechen  oder  zu  erfassen.  Der 
Herr  aber  fuhr  fort  zu  ihr  zu  reden:  siehe,  von  nun  an  wird  dein 
ehrwürdiger  Leib  versetzt  sein  in  das  Paradies,  deine  heilige  Seele 
aber  in  dem  Himmel,  in  dem  Schatzhause  meines  Vaters  in  über¬ 
schwänglichem  Glanze,  wo  Friede  und  Freude  der  heiligen  Engel 
ist  unermesslich.  40.  Die  Mutter  des  Herrn  antwortete  und  sprach 
zu  ihm:  lege  mir  deine  Rechte  auf  und  segne  mich.  Und  der  Herr 
reckte  seine  reine  Rechte  aus  und  segnete  sie.  Sie  aber  ergriff  seine 
reine  Rechte,  küsste  sie  und  sprach :  ich  bete  an  diese  Hand,  welche 
erschaffen  hat  den  Himmel  und  die  Erde,  und  ich  rufe  an  deinen 
vielgepriesenen  Namen,  Christus,  Gott,  König  der  Ewigkeit,  Ein¬ 
geborener  des  Vaters,  nimm  auf  deine  Magd,  der  du  geruht  hast,  durch 
mich,  die  Niedrige,  geboren  zu  werden,  um  zu  erlösen  das  Menschen¬ 
geschlecht  nach  deinem  unaussprechlichen  Rathschluss.  Jedem 
Menschen,  der  anruft  oder  bittet  oder  nennt  den  Namen  deiner 
Magd,  lass  zukommen  deine  Hilfe.  41.  Als  sie  dieses  sagte,  warfen 
sich  die  Apostel  ihr  zu  Füssen  und  sprachen  anbetend:  Mutter  des 
Herrn,  gib  der  Welt  deinen  Segen,  da  du  von  ihr  gehst.  Denn  du 
hast  sie  gesegnet  und  aufgerichtet  die  verlorene,  indem  du  das  Licht 
der  Welt  gebarst.  Die  Mutter  des  Herrn  betete  und  sprach  in  ihrem 
Gebet  also:  Gott,  der  du  in  deiner  grossen  Güte  aus  dem  Himmel 
sandtest  deinen  eingeborenen  Sohn,  um  zu  wohnen  in  meinem 
niedrigen  Körper,  der  du  geruht  hast  aus  mir,  der  Niedrigen,  geboren 
zu  werden,  erbarme  dich  der  Welt  und  jeder  Seele,  die  anruft  deinen 


252 


Namen.  42.  Und  sie  betete  wiederum  und  sprach :  Herr,  König  der 
Himmel,  Sohn  des  lebendigen  Gottes,  nimm  auf  jeden  Menschen, 
der  deinen  Namen  anruft,  damit  deine  Geburt  verherrlicht  werde. 
Und  wiederum  betete  sie  und  sprach:  Herr  Jesu  Christe,  der  du 
Alles  vermagst  im  Himmel  und  auf  Erden,  mit  dieser  Bitte  rufe  ich 
demuthig  deinen  Namen  an:  zu  jeder  Zeit  und  an  jedem  Orte,  wo 
man  meines  Namens  gedenkt,  heilige  jenen  Ort  und  verherrliche, 
die  dich  verherrlichen  durch  meinen  Namen,  indem  du  aufnimmst 
von  diesen  jede  Gabe,  jedes  Flehen ,  jedes  Gebet.  43.  Als  sie  so 
betete,  sprach  der  Herr  zu  der  eigenen  Mutter:  freue  dich  und  es 
juble  dein  Herz;  denn  jede  Gnadengabe  ist  dir  gegeben  von  meinem 
Vater  in  dem  Himmel  und  von  mir  und  dem  heiligen  Geiste;  jede 
Seele,  die  deinen  Namen  anruft,  wird  nicht  zu  Schanden  werden, 
sondern  wird  Erbarmen  finden  und  Trost  und  Beistand  und  An¬ 
sprache  sowohl  in  dieser  Welt  als  auch  in  der  künftigen  vor  dem 
Angesichte  meines  Vaters  in  dem  Himmel.  44.  Der  Herr  wandte 
sich  und  sprach  zu  Petrus:  die  Zeit  ist  gekommen,  den  Lobgesang 
zu  beginnen.  Als  aber  Petrus  den  Lobgesang  begann,  stimmten 
alle  himmlischen  Mächte  ein  mit  dem  Alleluja.  Und  da  leuchtete 
das  Angesicht  der  Mutter  des  Herrn  heller  als  das  Licht,  und  auf¬ 
stehend  segnete  sie  mit  eigener  Hand  jeden  der  Apostel,  und  alle 
gaben  Gott  die  Ehre  und  der  Herr  breitete  seine  reinen  Hände  aus 
und  empfing  ihre  heilige  und  unbedeckte  Seele.  45.  Bei  dem  Aus¬ 
tritt  ihrer  reinen  Seele  wurde  der  Ort  mit  Wohlgeruch  und  unbe¬ 
schreiblichem  Licht  erfüllt  und  siehe,  eine  Stimme  erscholl  vom 
Himmel  und  sprach:  selig  bist  du  unter  den  Weibern.  Und  Petrus 
und  ich,  Johannes,  und  Paulus  und  Thomas  liefen  herzu  und  umfassten 
ihre  ehrwürdigen  Füsse,  um  sie  zu  verehren;  die  zwölf  Apostel  aber 
legten  ihren  ehrwürdigen  und  heiligen  Leib  auf  eine  Bahre  und 
trugen  ihn.  46.  Und  siehe,  beim  Wegtragen  stürzte  ein  Hebräer  von 
edler  Abkunft,  Namens  Jephonias,  auf  den  Leichnam  zu  und  legte 
Hand  an  die  Bahre,  während  die  Apostel  sie  trugen,  und  siehe,  mit 
unsichtbarer  Macht  hieb  ein  Engel  des  Herrn  mit  einem  feurigen 
Schwert  ihm  beide  Hände  von  den  Schultern  ab  und  liess  sie  an 
der  Bahre  in  der  Luft  hängen.  47.  Als  dieses  Wunder  geschah, 
schrie  das  ganze  Volk  der  Juden  auf,  welche  erkannten,  dass  wirk¬ 
lich  wahrhaftiger  Gott  ist  der  von  dir  Geborene,  o  Gottesgebärerin, 
immerwährende  Jungfrau  Maria.  Und  Jephonias  selbst  stellte  sich, 
da  Petrus  ihm  befahl,  um  die  Wunder  Gottes  zu  zeigen,  hinter  die 


253 


Bahre  und  schrie;  heilige  Maria,  die  du  Gott  Christum  geboren 
hast,  erbarme  dich  mein.  Und  Petrus  wandte  sich  und  sprach  zu 
ihm:  im  Namen  des  von  ihr  Geborenen  werden  die  dir  abgehauenen 
Hände  wieder  angefügt  werden.  Und  sogleich  bei  Petrus  Rede 
lösten  sich  die  an  der  Bahre  der  Herrin  hängenden  Hände  und 
wurden  dem  Jephonias  wieder  angefügt;  und  auch  er  glaubte  und 
pries  Christum,  den  aus  ihr  geborenen  Gott.  48.  Als  dieses  Wunder 
geschehen  war,  trugen  die  Apostel  die  Bahre  weiter  und  legten  ihren 
ehrwürdigen  und  heiligen  Leib  in  Gethsemane  in  ein  neues  Grab. 
Und  siehe,  Wohlgeruch  stieg  auf  aus  dem  heiligen  Grab  unserer 
Herrin ,  der  Gottesgebärerin ,  und  drei  Tage  lang  wurden  unsicht¬ 
barer  Engel  Stimmen  gehört,  welche  den  aus  ihr  geborenen  Christus, 
unsern  Gott,  priesen.  Und  als  der  dritte  Tag  erfüllt  war,  wurden 
die  Stimmen  nicht  mehr  gehört,  und  hieraus  erkannten  fortan  alle, 
dass  ihr  unbefleckter  und  ehrwürdiger  Leib  ins  Paradies  versetzt 
sei.  49.  Als  diess  geschehen  war,  siehe,  da  schauten  wir  Elisabeth, 
die  Mutter  des  heiligen  Johannes,  des  Täufers,  und  Anna,  die  Mutter 
der  Herrin,  und  Abraham,  Isaak,  Jakob  und  David,  der  Alleluja  sang, 
und  alle  die  Chöre  der  Heiligen  anbeten  vor  dem  ehrwürdigen  Ueber- 
bleibsel  der  Mutter  des  Herrn  und  den  Ort  lichtglänzend  von  einem 
Lichte,  über  das  kein  helleres  ist,  und  eine  Fülle  von  Wohlgeruch 
kam  aus  jenem  Orte,  wo  ihr  ehrwürdiger  und  heiliger  Leib  in  das 
Paradies  versetzt  war,  und  ein  Lied  derer,  die  den  aus  ihr  Geborenen 
priesen,  ein  solches  süsses  Lied,  welches  den  Jungfrauen  allein  ge¬ 
geben  ist  zu  hören,  und  dessen  keine  Sättigung  ist.  50.  Wir  Apostel 
nun,  die  wir  die  plötzliche  herrliche  Versetzung  ihres  heiligen  Leibes 
geschaut  hatten,  priesen  Gott,  der  uns  seine  Wunder  gezeigt  hatte 
bei  der  Auflösung  der  Mutter  unseres  Herrn  Jesu  Christi,  durch 
deren  Bitten  und  Vermittlung  wir  alle  gewürdigt  werden  mögen, 
unter  ihrem  Schirme  Beistand  und  Vertretung  zu  erlangen  sowohl 
in  dieser  Welt  als  in  der  künftigen,  indem  wir  preisen  zu  aller  Zeit 
und  an  jedem  Ort  ihren  eingeborenen  Sohn  zugleich  mit  dem  Vater 
und  dem  heiligen  Geiste  von  Ewigkeit  zu  Ewigkeit;  Amen.«  — 

So  ist  also  Maria  schon  in  den  ersten  vier  Jahrhunderten  die 
Heldin  einiger  bescheidenen  epischen  Dichtwerke  geworden.  Haupt¬ 
sächlich  hat  der  Anfang  und  das  Ende  ihres  Daseins  die  Phantasie 
angeregt.  Es  ist  diess  auch  ganz  naturgemäss.  Die  Sage  weiss  aus 
dem  ruhigen  Dahinfliessen  stiller,  verborgener  Häuslichkeit  wenig  zu 
machen;  es  muss  etwas  Besonderes  sich  ereignen  oder  gethan  werden, 


254 


das  Ungewöhnliche,  das  Ausserordentliche  ist  ihr  Feld.  Was  nun 
die  Geburts-  und  Jugendgeschichte  Mariens  betrifft,  so  entrollt  der 
Dichter  des  Protevangeliums  im  ersten  Theil  desselben  ein  Bild  alt- 
testamentlich  patriarchalischen  Lebens  und  verpflanzt  es  unbefangen 
in  die  späteste  Zeit  der  jüdischen  Geschichte.  Ausser  der  evange¬ 
lischen  Kindheitsgeschichte  dienen  ihm  die  Erzählungen  von  der 
Geburt  Isaaks,  Josephs,  Simsons,  Samuels,  insbesondere  die  letztere, 
als  Vorlagen.  Für  die  Darstellung  der  Empfängniss  und  Geburt 
Christi  schlägt  er  den  Bericht  des  Evangeliums  breit  und  verwebt 
damit  Geschichten  eigener  Erfindung  oder  solche,  welche  im  Volks¬ 
mund  umgingen.  Ueberall  spielen  alttestamentliche  Reminiscenzen 
und  jüdische  Institutionen  und  Bräuche  herein.  Aus  diesen  Elementen, 
die  bei  Thilo  und  Hofmann  ausführlich  nachgewiesen  sind,  baut  der 
Verfasser  ein  anmuthiges  Ganzes  auf,  das  nur  im  18.  und  19.  Kapitel, 
wo  die  Erzählung  plötzlich  aus  der  dritten  in  die  erste  Person  um¬ 
springt,  ein  unorganisch  eingeschobenes,  auf  ältere,  bereits  geformte, 
Sagen  hindeutendes  Stück  hat.  Das  Büchlein  bietet  ohne  Frage  viele 
hochpoetische  Schönheiten,  die  ganz  wohl  an  ihre  biblischen  Vorbilder 
heranreichen;  die  befremdlichen  und  unser  modernes  Gefühl  ver¬ 
letzenden  Partieen  sind  aus  seiner  Zeit  und  Herkunft  zu  erklären. 
Aesthetisirend  weiter  darauf  einzugehen,  liegt  ausserhalb  unseres 
Zweckes. 

Von  des  Pseudomatthäus  Büchlein  als  Ganzem  reden  wir  nicht; 
er  ist  nicht  Erfinder,  nur  Bearbeiter,  auch  wissen  wir  ja  nicht,  was 
dem  letzten,  jenseits  unserer  Periode  liegenden  Redakteur,  was 
der  ältern  lateinischen  Vorlage  (oder  Vorlagen)  angehört.  Ebenso¬ 
wenig  ist  noch  etwas  über  die  andere  Variante  zu  sagen,  die  in 
der  Geschichte  Josephs  vorliegt.  Sie  liefert  uns  nur  den  Beweis, 
dass  Maria  schon  in  der  frühesten  Zeit  mehr  als  einmal  Gegenstand 
epischer  Produktion  war. 

Die  vereinzelten  nicht  im  Protevangelium  enthaltenen  Anekdoten 
aus  dem  Leben  Mariens  nach  der  Geburt  ihres  Sohnes,  die  wir 
diesen  Varianten  verdanken,  haben  die  Bedeutung  poetischer  Bau¬ 
steine,  auf  deren  nächste  Verwendung  zu  künstlerischen  Gebilden 
wir  schon  hingewiesen  haben.  Wir  kommen  noch  einmal  mit  einem 
Wort  darauf  zurück. 

Die  Erzählung  vom  Hingang  Mariens  aber  ist  wieder  schon 
ein  einheitliches  Ganzes  und  zwar  diess  in  höherem  Grade  als  das 
Protevangelium.  Sie  ist  viel  mehr  aus  Einem  Guss,  von  überlegterer 


255 


Composition  mit  berechneter  Steigerung  der  Effekte  und  von  drama¬ 
tischer  Lebendigkeit  der  Darstellung.  Sie  erscheint  noch  mehr  als 
eine  freie  Erfindung,  wenn  sie  auch  wohl  einem  dunklen,  nach  Ge¬ 
staltung  ringenden  Drang  des  Volksglaubens  entgegengekommen  ist. 
Von  der  Sprache  abgesehen  klingt  sie  zwar  auch  in  manchen  Details 
an  verschiedene  Partieen  des  neuen  Testaments  an.  Das  Grab  Christi 
ist  noch  bewacht,  Maria  bedient  sich  der  Worte  des  »Magnifikat«, 
der  Präfekt  erinnert  einestheils  an  Pilatus,  anderntheils  an  den 
gläubigen  Hauptmann  unter  dem  Kreuze,  die  Verfolgungswuth  der 
Juden  ist  dieselbe,  wie  in  der  Leidensgeschichte,  die  Erscheinung 
Christi,  die  Blicke  ins  Paradies  sind  apokalyptisch  u.  s.  w. ,  aber 
über  alle  diese  Elemente,  sowie  über  die  traditionellen  Apostel¬ 
schicksale  verfügt  der  Verfasser  mit  grosser  Freiheit  als  über  einen 
vererbten  Schatz  des  allgemeinen  Bewusstseins  und  verwendet  sie 
als  conventioneiles  Ornament  für  sein  selbständiges  Kunstwerkchen. 
Die  eintönigen  Wiederholungen  und  dgl.  hielt  der  Dichter  gewiss  für 
poetische  Schönheiten. 

Dass  die  Glorifikation  der  heiligen  Jungfrau  in  diesem  Gedichte 
eine  viel  höhere  Stufe  erstiegen  hat,  als  im  Protevangelium ,  liegt 
am  Tage.  Der  Ehrentitel  Gottesgebärerin,  die  Unterordnung  der 
Apostel,  die  Mittlerinrolle  zwischen  Christus  und  der  Menschheit 
u.  s.  w.  lassen  deutlich  erkennen,  dass  ihr  Bild  in  der  Seele  des 
Dichters  schon  ganz  in  jener  Verklärung  lebte,  welche  ihm  durch 
die  verschiedenen  Entwickelungskämpfe  des  vierten  Jahrhunderts 
geworden  war. 

Nun  könnte  noch  die  Frage  aufgeworfen  werden,  wie  es  denn 
gekommen  sei,  dass  das  Jugendleben  Mariens  schon  so  frühe,  ihr 
Ende  aber  erst  verhältnissmässig  spät  Gegenstand  dichterischer  Bear¬ 
beitung  geworden  sei.  Die  Antwort  ist  nicht  schwer.  Abgesehen 
von  der  verdeckten  dogmatischen  Tendenz  des  Protevangeliums,  das 
für  seine  Zwecke  eigentlich  bloss  ihr  Jugendleben  brauchte,  wurde 
ja  Maria  erst  etwa  dreissig  Jahre  nach  der  Geburt  ihres  Sohnes  eine 
bekanntere  Persönlichkeit;  ihre  Jugend,  ihre  Begnadigung  war  und 
blieb  das  Geheimniss  von  ganz  wenigen  ihr  zunächst  Stehenden; 
da  war  bald  tabula  rasa  für  die  Erfindung,  und  die  Dichtung  konnte 
sich  wenige  Decennien  nach  ihrem  Tode  schon  frei  ergehen.  Anders 
war  es  mit  ihrem  Ende.  Sie  starb  von  Vielen  gekannt,  verehrt, 
betrauert.  Da  mussten  alle  historischen  Nachrichten  längst  verloren 
sein,  es  musste,  wie  Epiphanius  sagt,  ihr  Ende  Niemand  mehr  kennen, 


256 


ehe  die  Dichtung  es  wagen  durfte,  ihre  Erfindung  an  die  Stelle  der 
Geschichte  zu  setzen.  Und  diess  konnte  natürlich  nur  viel  später 
eintreten,  als  bei  ihrem  Jugendleben.  Endlich  musste  auch  die  Ver¬ 
ehrung  der  heiligen  Jungfrau  im  Allgemeinen  schon  zu  jenem  Grade 
gediehen  sein,  wie  sie  sich  im  Verlauf  des  vierten  Jahrhunderts  dar¬ 
stellt,  ehe  das  gläubige  Gemüth  einen  mit  ihrem  Eintritt  in  die  Welt 
und  mit  ihrer  hohen  Stellung  über  dem  Naturgesetz  harmonirenden 
Lebensabschluss  verlangte. 

Diese  Dichtungen  fanden  im  christlichen  Alterthum  einen  aus¬ 
gebreiteten  Leserkreis,  sie  wurden  nicht  bloss  in  verschiedene 
Sprachen  übersetzt,  sondern  auch  erweitert  und  umgebildet,  und 
gewannen  bei  Vielen  die  Autorität  geschichtlicher  Erzählungen,  wo¬ 
gegen  verschiedene  Kirchenväter  z.  B.  Hieronymus  und  Augustinus 
sich  ereiferten,  —  was  wir  Alles  schon  gesehen  haben.  Im  Jahr  405 
wurden  sie  darum  von  Pabst  Innocentius  I.  und  wiederholt  im 
Jahr  496  von  Pabst  Gelasius  verurtheilt 1).  Trotzdem  blieben  sie 
eine  Lieblingslektüre  der  Gläubigen  und  verwandelten  sich  schliesslich 
im  Mittelalter  in  die  Marien-Epen  der  Roswitha,  des  Pfaffen  Wernher, 
Meisters  Heinrich,  Konrads  von  Fuessesbrunnen ,  des  Karthäusers 
Philipp,  Walthers  von  Rheinau  u.  s.  w.  Wir  nehmen  begreiflich 
auch  hier  das  Wort  Epos  nur  im  allgemeinen,  die  ganze  Gattung 
bezeichnenden  Sinne.  — 

Epischen  Charakter  mit  etwas  panegyrischem  Anstrich,  der  ja 
der  Erzählung  des  Evangelisten  Lukas  selber  nicht  fehlt,  haben  nun 
noch  einige  Bearbeitungen  der  Verkündigungsscene.  Es  sind  diess 
keine  selbständigen  Gedichte,  sondern  Fragmente  grösserer  Werke. 
Sie  haben  auch  keinen  sonderlichen  poetischen  Werth,  da  sie  nur 
aus  mehr  oder  weniger  freien  Versifikationen  des  evangelischen 
Berichts  bestehen. 

Das  älteste  und  gewissermassen  freieste  Beispiel  findet  sich  in  den 
»Sibyllinischen  Orakeln«,  und  zwar  im  achten  Buch  derselben, 
welches  nach  Friedlieb 2)  aus  dem  Ende  des  zweiten  Jahrhunderts 
stammt.  Das  Fragment  lautet  nach  der  an  einigen  Stellen  etwas 
abgeänderten  Uebersetzung  Friedliebs  folgendermassen: 

»Und  in  der  Fülle  der  Zeiten  verändert’  die  Erd’  er,  als  Kind  kam 
Er  aus  der  Jungfrau  Leib,  hell  ging  ein  neues  Gestirn  auf. 


9  S.  Tischendorf,  Evang.  apocr.  ed.  2,  pag.  XXIII  u.  XXIV. 

2)  Orac.  Sibyll.  Lips.  1852.  Vorrede,  S.  LX. 


257 


Aber  vom  Himmel  er  kam  und  hüllte  in  Menschengestalt  sich. 

Gabriel  zeigte  zuerst  sich  in  starker  und  heiliger  Bildung; 

Drauf  anredend  er  sprach  als  Bote  selber  zur  Jungfrau: 

Nimm,  o  Jungfrau,  Gott  in  den  unberühreten  Schooss  auf. 

Sprachs,  Gnad’  winkete  Gott,  doch  die  immerwährende  Jungfrau  — 
Schrecken  befiel  sie  zumal  und  Furcht,  als  dieses  sie  hörte; 

Und  so  stand  sie  erbebend,  die  Seele  von  Aengsten  erfüllet, 

Und  es  pochte  das  Herz  ihr  von  wegen  der  fremden  Verkündung. 

Aber  nachher  war  erfreut  und  heiter  ihr  Herz  durch  die  Rede, 

Und  es  lächelt’  das  Mägdlein  mit  hocherröthenden  Wangen, 

Von  der  Freude  erquickt  und  von  Scham  nicht  minder  befangen. 

Doch  bald  kehrte  der  Muth ;  und  es  flog  das  Wort  in  den  Leib  ein. 
Fleischgeworden  zur  Zeit  und  erzeuget  im  Leibe  der  Mutter 
Ward  in  Menschengestalt  es  gebildet  und  wurde  ein  Knäblein 
Durch  der  Jungfrau  Gehurt,  zwar  ein  grosses  Wunder  den  Menschen, 

Aber  bei  Gott  dem  Vater  und  Gott  dem  Sohne  kein  grosses1).« 

Weitere  Versifikationen  derselben  Scene  in  Verbindung  mit  der 
s Heimsuchung«  liefern  zwei  lateinische  Dichter.  Der  ältere,  Juvencus, 
der  um  330  blühte,  hält  sich  in  seiner  »Evangelischen  Geschichte« 
(einer  Art  Evangelienharmonie  in  Hexametern)  ziemlich  streng,  bei¬ 
nahe  wörtlich,  an  den  evangelischen  Text.  Wir  haben  uns  daher 
bei  der  Uebersetzung  des  betreffenden  Abschnitts  bemüht,  wenn 
auch  etwas  auf  Kosten  des  Verses,  so  wortgetreu  als  möglich  zu 
verfahren,  um  nicht  den  Schein  zu  erwecken,  als  hätten  wir  selbst 
den  evangelischen  Text  zu  versificiren  unternommen.  Der  Ab¬ 
schnitt  lautet: 

»Dann  bracht’  ebenderselbe  Gesandte  von  oben  den  grossem 
Auftrag,  nieder  sich  lassend  zum  Ohre  Mariens,  der  Jungfrau. 

Die  war  ihrem  Verwandten  verlobt  auf  sichere  Zeitfrist, 

Reifte  verborgen  heran,  keusch,  im  jungfräulichen  Dache, 

Und  erwartet’  den  Tag,  gehorsam  der  Eltern  Befehlen. 

Zu  ihr  tretend  begann  der  Bote  mit  ruhiger  Rede: 

Gruss  dir!  Helfen  der  Welt  wirst  du  mit  heilsamem  Sprössling. 

Lass  dir  den  Geist  nicht  verwirren  durch  meinen  befremdlichen  Anblick, 
Denn  dein  Leib  wird  empfangen  den  Sohn  nach  himmlischem  Auftrag, 
Der  auf  Gottes  Befehl  und  zu  Gottes  Freude  regieren 
Wird  auf  ewige  Zeit,  und  als  Gottes  Sohn  wird  geglaubt  sein. 

Wenn  du  diesen  gebracht  ans  Licht,  sei  Jesus  sein  Name. 


o  Vers  456  ff. 

L ebner,  Die  Marienverehrung 


17 


258 


Zu  ihm  begann  hierauf  mit  schüchternem  Munde  die  Jungfrau: 

Ohne  Gatten  geschieht,  wie  man  sagt,  ja  keine  Empfängniss; 

Nun,  woher  soll  hoffen  ich,  dass  mir  komme  ein  Sprössling? 

Gegen  dieses  erklärte  mit  eiliger  Rede  der  Bote: 

Gottes  erhabene  Kraft  wird  dich  überschattend  umflattern, 

Und  der  heilige  Geist  wird  kommen,  erlesene  Jungfrau, 

Und  mit  keuschem  Gebot  wird  bald  er  befehlen,  dass  in  dir 
Wachse  ein  Knabe,  den  Völkern  ein  Stolz,  an  welchen,  als  Heil’gen, 
Glauben  man  muss,  den  nennen  man  muss  Sohn  Gottes  des  Höchsten. 
So  hat  deine  Verwandte,  die  allen  unfruchtbar  geschienen, 

Des  Zacharias  Weib  vor  kurzem  mit  sterblichem  Keime 
In  dem  Schoosse,  dem  alterbetagten,  die  Wunder  vermehret. 

Schon  sechs  Monate  sinds;  so  Alles  gehorcht  den  Befehlen. 

Drauf  die  Jungfrau :  schau,  dem  befehlenden  Herren  als  Magd  siehst 
Du  mich  zu  dienen  bereit,  wie  deine  Worte  ertönen. 

Scheidend  entzog  sich  der  Bote  sofort  in  die  Lüfte,  die  leeren. 

Drauf  sie  hastigen  Schritts  drang  in  die  jüdische  Stadt  ein, 

In  Zacharias  Haus,  die  schwang’re  Elisabeth  grüssend. 

Ihr  bewegt  der  im  eigenen  Schoosse  verschlossene  Sprössling 
Bebend  plötzlich  die  Glieder  und  hüpft  in  grosser  Erregung, 

Und  die  Mutter  zugleich  springt  auf  von  der  göttlichen  Stimme 
Donnerklange  getroffen,  erfüllet  von  heiligem  Anhauch 
Rufet  sie  laut:  glückseliges  Weib,  o  sei  mir  gegrüsset, 

Die  in  der  Rundung  des  Leibes  du  trägst  glückseligen  Samen. 

Woher  wollte  der  gütige  Gott  mit  so  herrlichen  Ehren 
Mir  verklären  das  Haus,  dass  mich  der  erhabenen  Gottheit 
Mutter  besucht,  schau  wie  in  meinem  Innern  der  Sprössling 
Froh  aufhüpfet,  als  kaum  er  vernahm  die  Anrede  Mariens. 

Glücklich,  die  du  geglaubt,  dass  bald  den  Worten  Erfüllung 
Werde,  die  Gott  zu  den  Dienern  gesprochen  in  grosser  Erbarmung. 

Jene,  badend  die  Seele  in  Freuden,  gemischt  mit  Verschämtheit, 

Wälzt  mit  verhaltener  Stimme  hervor  die  erbebenden  Worte: 

Herrlichen  Preis  und  Dank  nun  singet  die  Seele  dem  Herren 
Der  unermesslichen  Welt;  kaum  fasst  mein  Geist  die  so  grossen 
Freuden,  weil  er  geruht,  mich  stolz  in  die  Höhe  zu  heben, 

Da  so  niedrig  ich  war.  Dass  selig  gepriesen  von  allen 
Völkern  und  Zeiten  ich  werde,  der  gütige  Gott  hat  gewollt  es. 

Schau,  den  Gewaltigen  nahm  er  den  Thron  und  die  Stolzen  zerbrach  er 
Mit  reichfliessendem  Schätz  macht  reich  er  die  niedrigen  Armen.  — 

Dann  blieb  sie  drei  Monate  dort  nach  einander  und  kehrte 
Heim  zum  eigenen  Hause  darauf,  schon  sicher  der  Zukunft1)«. 


J)  Juvenc.  hist.  ev.  lib.  I,  pag.  76—84.  Ed.  Arev. 


259 


Der  zweite  Lateiner  ist  der  Bischof  Paulinus  von  Nola  (f  431). 
Der  betreffende  Abschnitt,  den  wir  wiederum  möglichst  wörtlich  über¬ 
setzen,  steht  in  seinem  sechsten  »Gedichte«,  welches  das  Leben  und 
die  Thaten  des  heiligen  Johannes,  des  Täufers,  feiert. 

»Gabriel  machet  sich  auf,  der  Heil’ge,  der  Bote  gewesen 
Dem  Zacharias  einst,  doch  höhere  Ziele  verfolgt  er, 

Zu  Maria  plant  er  den  Weg,  die,  verlobt  dem  Gemahle, 

Aber  erlesen  von  Gott,  um  der  Welt  das  Heil  zu  gebären, 

Wahrte  als  Jungfrau  rein  sich  unbefleckete  Keuschheit. 

Als  nun  jener  mit  Würde  und  glänzend  in  himmlischer  Schönheit 
Vor  den  Augen  ihr  stand,  schlug  nieder  den  züchtigen  Blick  sie, 

Färbend  mit  untergossenem  Blut  die  erröthenden  Wangen. 

Mägdlein,  sprach  er,  o  glücklicher  du,  als  sämmtliche  Jungfraun, 

Welche  gewesen  dereinst,  und  sind,  und  fernerhin  folgen 
Auf  der  ganzen  Welt,  die  der  Sonnencirkel  umschwebet, 

Auserlesen  von  Gott,  um  Mutter  dessen  zu  heissen, 

Dessen  Vater  er  ist.  Glückauf!  empfange  die  Bürde, 

Unbefleckt  von  dem  Mann  und  frei  von  aller  Umarmung, 

Schwanger  mit  Gottes  Wort;  dein  Schooss  soll  geben  den  Leib  ihm, 

Der  den  Himmel,  die  Erde,  das  Meer  und  die  Sterne  gemacht  hat, 

Der  da  immer  gewesen  und  ist  und  in  ewigen  Zeiten 
Sein  wird  immer.  Der  Herr  der  Welt  und  der  Schöpfer  des  Lichtes, 
Selber  des  Himmels  Licht,  wird  durch  dich  sterbliche  Glieder 
Anthun,  um  zu  ertragen  der  Menschen  Augen  und  Andrang. 

Ohne  Verwirrung  erhebe  die  Seele  zum  Preise  so  grossen 
Vorzugs;  jener  wird  dir  verleihen  die  Kraft  und  den  Glauben, 

Welcher  geruht  dein  Sohn  zu  sein,  da  er  Sohn  ist  des  Herren, 

Denn  er  regieret  das  All  und  lenket  das  All  mit  dem  Winke. 

Sprachs,  und  wie  er  erschien,  so  verliess  er  wieder  die  Erde, 

Schwebend  mit  leichtem  Schwung  in  den  Aether  hinauf,  den  gewohnten. 

Gottes  Anordnungen  werden  erfüllt  und  es  glaubet  das  Mägdlein 

Stracks,  und  der  plötzliche  Glaube  erhöht  ihr  früheres  Leben 

Und  ihr  Verdienst.  Der  verborgene  Keim  mit  verschwiegenem  Grunde 

Bildet  den  göttlichen  Leib,  die  verehrungswürdige  Bürde 

Wächst,  und  den  himmlischen  Herrn  ernähret  der  heilige  Schooss  nun. 

Unter  der  Zeit  treibt  schon  das  Kind,  bevor  es  geboren, 

Fort  die  heilige  Mutter  Marie  zum  Besuch  der  betagten 
Base  Elisabeth,  die,  obschon  ehrwürdig  von  Alter, 

Schwanger  ging,  um  den  Knaben,  den  Liebling  des  Herrn,  zu  gebären. 
Und  die  Gebärerin  hört  auf  den  Sohn,  so  stark  ist  ihr  Glaube, 

Und  folgt  seinem  Befehl.  Es  springet  im  Leibe  der  Mutter 
Auf  Johannes  und  füllet  mit  göttlichem  Sinne  die  Brust  ihr, 


2(30 


Schon  ein  Seher,  bevor  er  geboren,  im  Leibe  verschlossen 
Schon  Prophet  sah  er,  was  früher  geschehen,  was  künftig. 

Als  nun  jene  erblickt  von  weitem  glänzen  Maria 

Von  dem  empfangenen  Licht,  da  geht  sie  hastig  entgegen 

Eiligen  Schrittes  und  spricht,  mit  Verehrung  breitend  die  Arme: 

Mutter  des  Herrn  sei  gegrüsst,  sei  gegrüsst,  o  heilige  Jungfrau, 

Unbekannt  mit  dem  Bett  und  frei  von  des  Mannes  Umarmung, 

Mutter  Gottes  jedoch;  so  erhabenen  Werths  war  die  Keuschheit, 

Dass  der  Jungfrau  Titel  du  trägst  und  den  Preis  der  Vermählten. 

Sage,  woher  wird  mir,  die  solcher  Begnadung  unwerth  ist, 

Deines  Beistands  Ehre  zu  Theil?  Was  bringst  du  des  Himmels 
Ruhm  zu  unserem  Herde,  zu  unserem  niederen  Dache, 

Und  trägst  solch  ein  Licht  in  unsere  dunklen  Gemächer? 

Doch  der  Mildsanftmüthige  sei  bei  seinen  Verehrern, 

Und  es  gewähre  der  Sohn  auch  heut’  uns  Gnade,  wie  vorher. 

Sprachs  und  schloss  in  die  Arme  Maria  und  drücket  sie  an  sich, 

Küssend  den  heiligen  Leib,  um  so  schon  Gott  zu  verehren.« 

Ausser  der  Verkündigungs-  und  Heimsuchungsscene  Messen  sich 
aus  der  vorhin  vorgeführten  »Evangelischen  Geschichte«  des  Juvencus 
zwar  noch  mehrere  kleine  Partieen  wiedergeben,  worin,  wie  im 
Evangelium,  von  Maria  die  Rede  ist ;  doch  wir  wollen  uns  begnügen, 
nur  noch  den  Anfang  der  »Hochzeit  zu  Cana«  zu  übersetzen: 

»Nun  bereitete  man  ein  festliches  Mahl  für  die  Hochzeit 
In  der  Gegend  Canan1),  wo  die  Mutter  des  herrlichen  Jesus 
Nebst  dem  Sohne  zugleich  mitfeierte  gastlich  das  Festmahl. 

Doch  im  Verlaufe  begann  zu  fehlen  der  Wein  den  Genossen. 

Alsdann  bat  die  Mutter  den  Sohn  mit  folgenden  Worten: 

Siehst  du,  wie  es  bereits  gebricht  an  dem  Safte  der  Freude! 

Möge  er,  Sohn,  durch  dich  dem  festlichen  Tische  geschenkt  sein. 

Ihr  antwortete  Christus  darauf,  die  Wonne  der  Welten: 

Mutter,  du  eilest  ja  sehr,  noch  nicht  jetzt  dränget  die  Zeit  mich, 

Zu  der  Leute  Bedarf  solch  eine  Gabe  zu  schenken. 

Fortan  rufet  die  Mutter  erfreut  die  Besorger  der  Tische 
Her  und  weiset  sie  an,  des  Sohnes  Befehl  zu  gehorchen2).« 

Dieselbe  Scene  hat  auch  der  griechische  Dichter  Nonnus  von 
Panopolis,  der  am  Ende  des  vierten  Jahrhunderts  lebte,  in  seiner 
poetischen  Paraphrase  des  Johannesevangeliums  in  Hexametern  be- 


*)  »In  regione  Canan.« 

2)  Hist,  evang.  lib.  II. 


261 


arbeitet,  sowie  auch  die  Scene  unter  dem  Kreuze  (Joh.  XIX,  25  ff.). 
Da  die  panegyrischen  Epitheta  für  Maria  in  beiden  Abschnitten  etwa 
dieselben  sind,  so  bringen  wir  zur  Abwechselung  von  diesem  Dichter 
lieber  die  letztere  Partie. 

»Auch  Maria  war  da,  die  Gottesgebärerin,  ....  als  nun 
Christus  die  göttliche  sah  und  den  Jünger,  welchen  er  liebte, 

Sprach  er  zur  Mutter  das  Wort:  o  Weib,  jungfräuliche  Mutter! 

Sieh  den  jungfräulichen  Sohn.  Und  wiederum  sprach  er  zum  Jünger: 
Sieh,  Jungfräulicher,  diess  ist  deine  jungfräuliche  Mutter 
Ohne  Geburt.  Und  kaum  nach  Verfluss  der  geflügelten  Stunde 
Hatte  der  Jünger  auch  schon  die  Jungfrau-Mutter  im  Hause 
Als  Genossin  und  war  ihr  Sohn,  in  ihr  nicht  gezeuget, 

Nicht  geboren  von  ihr,  der  geburtsunkundigen  Herrin.« 

Ausser  diesen  Versifikationen  evangelischer  Abschnitte  findet 
sich  nichts  Episches  mehr  vor.  — 

Die  ältesten  Verse  lyrischen  Tones,  denn  sie  lesen  sich  wie  ein 
schwungvoller  Ansatz  zu  einem  Hymnus,  würden  ebenfalls  die  »Si- 
byllinen«  liefern,  wenn  das  »Mägdlein«  (x'öp7j)  im  Buch  III,  784, 
welches  Buch  aber  grösstentheils  der  Mitte  des  2.  Jahrhunderts  vor 
Christus  angehört,  mit  etlichen  Gelehrten  auf  Maria  bezogen  werden 
dürfte.  Schürer  freilich  deutet  die  xopYj  auf  Jerusalem.  Da  jedoch  die 
auf  Jes.  XI,  6—9  ruhenden  Verse  784 — 794  nicht  nur  (nach  Friedlieb) 
der  berühmten  4.  Ecloge  Vergils  zu  Grunde  liegen,  sondern  wohl  auch 
die  S.  240  mitgetheilte  Fluchtanekdote  von  dem  zuthulichen  Wesen 
der  reissenden  Wüstenthiere  veranlassten,  so  mögen  sie  hier  stehen  *): 

»Freue  dich,  Mägdlein,  und  schmück’  dich,  denn  Er  hat  auf  ewige  Zeiten 
Frohen  Sinn  dir  verlieh’n,  der  Himmel  und  Erde  gegründet, 

Und  er  wird  wohnen  in  dir  und  dir  ein  unsterbliches  Licht  sein. 

Und  der  Wolf  mit  dem  Lamm  wird  auf  den  Bergen  zusammen 
Weiden,  und  Gras  mit  dem  Böckchen  zugleich  der  Pardel  verzehren, 
Bären  zusammengepfercht  mit  Kälbern  sind  auf  der  Weide, 

Und  der  reissende  Leu  wird  Spreu  in  der  Krippe  zerkauen 
Gleichwie  ein  Stier;  und  ganz  unmündige  Kinder  —  an  Fesseln 
Führen  sie  ihn;  denn  zahm  wird  das  Thier  auf  Erden  Er  machen. 

Und  es  werden  vereint  die  Drachen  mit  Säuglingen  liegen 

Und  nicht  beschädigen  sie;  denn  Gottes  Hand  wird  sie  schützen«. 


9  Friedlieb,  Einleitung,  S.  XXXIX;  Schürer,  Gesch.  des  jüd.  Volks  etc., 
2.  Aufl.  1886,  2.  Theil,  S.  428. 


262 


Weitere  Verse  lyrischer  Art,  sowie  auch  etliche  Fragmente  von 
didaktischer  oder  gemischter  Natur  lassen  sich  den  Werken  der 
Dichter  des  ausgehenden  vierten  und  beginnenden  fünften  Jahrhunderts 
entnehmen.  Es  sind,  wie  gesagt,  auch  blosse  Fragmente,  längere 
oder  kürzere  Stellen  aus  grösseren  oder  kleineren  religiösen  Dich¬ 
tungen  anderweitigen  Inhalts,  auch  anderweitigen  Tons;  ein  eigenes, 
selbständiges  lyrisches  oder  didaktisches  Gedicht,  das  Maria  aus- 
schiesslich  zum  Gegenstand  hätte,  findet  sich  bei  ihnen  nicht. 

So  enthält  das  zweite  »Gedicht  von  Christus«  des  Pabstes 
Damasus  (366 — 384)  folgende  Verse: 

».  .  .  .  Marien 

Schwoll  der  jungfräuliche  Schooss  und  die  unverehlichte  Mutter 
Staunte,  wie  von  geheimer  Frucht  sich  fülle  der  Leib  an. 

Ihren  Schöpfer,  den  wird  sie  gebären.  Das  sterbliche  Herz  hat 
In  sich  geborgen  den  Künstler  des  Pols;  der  Erfinder  des  Weltalls 
Ward  ein  Theil  des  Menschengeschlechts;  und  unter  dem  Herzen 
Lag  er  versteckt,  der  umfasst  den  weit  sich  breitenden  Weltkreis1).« 

Von  den  vier  durchaus  unbezweifelten  Hymnen  des  heiligen 
Ambrosius  lässt  sich  derjenige  herbeiziehen,  auf  welchen  sich  oben 
(S.  83)  Pabst  Cölestin  beruft: 

»Erlöser  du  der  Völker,  komm 
Und  zeige  uns  der  Jungfrau  Frucht; 

Die  ganze  Welt  vervvundre  sich: 

Ein  solcher  Ursprung  ziemet  Gott. 

Nicht  aus  dem  Samen  von  dem  Mann, 

Nein,  durch  geheimnissvolien  Hauch 
Ist  Fleisch  geworden  Gottes  Wort 
Und  ist  des  Leibes  Frucht  erblüht. 

Es  schwillet  auf  der  Jungfrau  Leib, 

Das  Schloss  der  Keuschheit  bleibt  versperrt, 

Der  Tugend  Fahne  blinkt  hervor, 

In  seinem  Tempel  weilet  Gott. 

Er  tritt  aus  seinem  Schlafgemach, 

Der  Keuschheit  königlicher  Burg  u.  s.  w.« 

Der  fünfte  Hymnus  des  Bischofs  Synesius  von  Ptolemais 
(f  um  414)  fängt  so  an: 

»Singt  Preis  dem  Sohn  der  Jungfrau, 

Der  Jungfrau,  nicht  vermählet 
Dem  Mann  im  Ehebette. 

Unnennbar  —  Gottes  Rathschluss! 

b  Gallandi,  Tom.  VI,  p.  345,  v.  7  ff. 


263 


Spät  ist  geboren  Christus; 

Verehrt  der  Jungfrau  Wehen, 

Die  Menschenleib  ihm  gaben.« 
u.  s.  w. 

Der  grösste  Dichter  des  christlichen  Alterthums,  Prudentius 
(f  um  413)  gewährt  reichere  Ausbeute.  Wir  geben  die  Auszüge 
nach  der  Ordnung  der  Gedichte,-  wie  sie  die  älteste  Handschrift  aus 
dem  10.  Jahrhundert  und  nach  ihr  Dresse!  in  seiner  Ausgabe  ein¬ 
hält.  In  seinem  dritten  Hymnus  »Vor  dem  Essen«  singt  er: 

»Lebendes  Fleisch  wird  das  göttliche  Wort, 

Das,  von  der  strahlenden  Gottheit  erfüllt, 

Nicht  in  dem  Brautgemach,  nicht  in  dem  Bett, 

Nicht  in  hochzeitlichen  Wonnen  erzeugt, 

Ohne  Versehrung  das  Mädchen  gebiert. 

Diess  war  der  alteingewurzelte  Hass, 

Diess  war  der  Schlang’  und  des  Menschengeschlechts 
Ohne  Versöhnung  fortwüthender  Krieg, 

Weil  nun  die  Viper  von  weiblichem  Fuss, 

Stürzend  kopfüber,  zertreten  erliegt. 

Sie,  die  uns  Gott  zu  gebären  verdient, 

Bändiget  jegliches  teuflische  Gift, 

Das  in  verworrener  Windung  die  Schlang’ 

Speiet  entwaffnet,  die  schwache,  nun  aus, 

Grünlich  sie  selbst  in  dem  grünenden  Gras  0-« 

Aus  dem  neunten  Hymnus  »Zu  allen  Stunden«  halbiren  wir 
die  betreffenden  langen  achtfüssigen  Verse  und  gewinnen  hiedurch 
folgende  sechszeilige  Strophe: 

»0  glückselig  jene  Herkunft, 

Da  die  Jungfrau-Wöchnerin, 

Von  dem  heil’gen  Geist  befruchtet, 

Unser  Heil  hervorgebracht, 

Und  der  Knab’,  der  Welterlöser, 

Sein  geheiligt  Haupt  gezeigt *  2)!« 

Aus  dem  »Weihnachtshymnus«  entnehmen  wir  folgende  zwei 
Strophen : 

»0  edle  Jungfrau,  fühlest  du, 

Dass  bald  die  schwere  Zeit  vorbei, 

Der  Keuschheit  unberührte  Zier 
Wächst  durch  die  Ehre  der  Geburt? 


0  Cathemerinon  III,  v.  141  —  155. 

2)  Cathemerinon  IX,  v.  19—21. 


264 


0  welche  Freuden  übergross 
Umfasst  der  keusche  Mutterleib, 

Aus  welchem  eine  neue  Zeit 
Hervorgeht  und  ein  goldnes  Licht1)!« 

Aus  dem  polemischen  Gedichte  »Apotheosis«  heben  wir  zwei 
Stellen  aus.  Bei  der  zweiten  schliessen  wir  uns  etwas  mehr  an  die 
Uebersetzung  von  Brockhaus  2)  an.  Die  erste  umfasst  folgende  Verse: 

»Göttliche  Kraft  befruchtet  die  Magd,  unkundig  des  Ehbetts, 

Segnend  mit  reinem  Hauche  die  Eingeweide,  die  keuschen. 

Unerhörte  und  neue  Geburt!  sie  gebietet  zu  glauben, 

Gott  sei  Christus,  der  so  erzeugte.  Die  nimmer  vermählte 

Jungfrau  vermählt  sich  dem  Geist  und  fühlt  nicht  die  Sünde  der  Liebe. 

Fest  versiegelt  verbleibet  der  Schooss  ihr,  innerlich  schwanger, 

Aeusserlich  unversehrt,  und  blüht  von  keuscher  Befruchtung. 

Mutter  und  Jungfrau  doch,  des  Gemahls  unkundige  Mutter. 

Leugnest  du  diess,  und  schüttelst  das  Haupt,  Ungläubiger,  thöricht? 

Diess  verkündet  mit  heiligem  Munde  der  Engel.  Gefällt  es 
Dir  zu  vertraun  und  zu  öffnen  das  Ohr  den  Worten  des  Engels? 

Glaubte  die  heilige  Jungfrau  selbst  doch  des  glänzenden  Dieners 
Mahnwort,  und  sie  empfing  desshalb  als  Gläubige  Christum3).« 

Die  zweite  Stelle  schliesst  eine  Betrachtung  des  Dichters  über 
den  Besuch  der  Magier  mit  den  Versen: 

»Was  war  Grund,  was  Ursach’  nur,  den  Nacken  zu  beugen 
Vor  den  Füssen  Mariens4)  und  vor  des  Kindeleins  Spielzeug, 

Wenn  nur  sterblich  es  war  und  wenn  die  höchste  Gewalt  nicht 
Füllete  an  mit  göttlichem  Hauch  die  zärtlichen  Glieder? 

Lassen  wir  aber  die  Weisen,  das  Gold,  die  Myrrhe,  den  Weihrauch, 

Was  wahrhaftig  als  Gott  ihn  bezeugt,  auch  die  Krippe,  die  Windeln, 

Auch  den  verehreten  Schoo ss  der  Mutter5),  vom  Sterne  beleuchtet, — 
Seiner  Wunder  Gewalt  soll  selbst  als  Gott  ihn  bezeugen6)«. 

In  dem  allegorischen  Gedichte  der  »Psychomachie«,  das  den 
Kampf  von  Tugenden  mit  entsprechenden  Lastern  darstellt,  ruft  die 
»Keuschheit«  der  »Unzucht«  zu: 


’)  Cathemerinon  XI,  v.  53 — 60. 

2)  Aurelius  Prudentius  Clemens.  Leipz.  1872. 

8)  Apoth.  v.  568-580. 

4)  »Submittere  colla  ante  pedes  Mariae«. 

5)  »Matris  adoratum  gremium«. 

6)  Apoth.  v.  642 — 649. 


265 


»Bleibt  dir  nach  der  Geburt  der  unberühreten  Jungfrau 

Irgend  ein  Recht?  nach  der  Jungfrau  Geburt,  seit  welcher  auf  immer 

Ist  genommen  vom  menschlichen  Leib  der  sündliche  Ursprung, 

Und  ein  neues  Fleisch  durch  die  Kraft  von  oben  gepflanzt  ist, 

Und  das  unvermählete  Weib  Gott  Christum  empfangen, 

Mensch  von  der  sterblichen  Mutter,  doch  Gott  mit  Gotte  dem  Vater: 

* 

*  * 

Nein,  du  bist  nicht  im  Stand  zu  brechen  mein  Recht  nach  Maria1)«. 

Von  den  poetischen  Bildererklärungen  des  Buches  »Dittochäon« 
endlich  gehören  folgende  drei  hieher:  2) 

Die  Verkündigung. 

»Als  Gott  nahete,  stieg  der  Bote  Gabriel  nieder 
Von  dem  Throne  des  Vaters,  dem  hohen,  und  trat  in  der  Jungfrau 
Haus  urplötzlich  und  sprach:  Maria,  vom  heiligen  Geiste 
Schwanger  wirst  du  gebären  den  Heiland,  heilige  Jungfrau!« 

Die  Anbetung  der  Magier. 

»Christus  liegt  an  der  Jungfrau  Brust,  die  Magier  bringen 

Hier  die  köstlichen  Gaben  dem  Kind,  Gold,  Myrrhe  und  Weihrauch. 

Staunend  schauet  die  Mutter  des  keuschen  Leibes  Verehrung, 

Staunt,  dass  Gott  sie  gebar,  der  auch  Mensch  und  oberster  König.« 

Die  Anbetung  der  Hirten. 

»Kraft  des  himmlischen  Lichtes  erfüllet  der  wachenden  Hirten 
Augen,  es  preist  den  Messias,  den  eben  geboren  die  Jungfrau. 
Windelnbedeckt,  so  finden  sie  ihn,  er  liegt  in  der  Krippe, 

Statt  in  der  Wiege,  sie  jubeln  froh  anbetend  die  Gottheit.« 

Der  Dichter  Sedulius  lässt  sich  allerdings  nicht  genau  datiren. 
Einige  lassen  die  Möglichkeit  offen,  dass  er  schon  am  Ende  des 
vierten  Jahrhunderts  gelebt  habe3),  andere  (wie  uns  scheint,  mit 
mehr  Recht)  setzen  seine  Bliithe  unter  Theodosius  II.  und  Valen- 
tinian  III. ,  also  zwischen  408 — 455.  Wenn  wir  daher  ein  paar 
Stellen  aus  seinen  Gedichten  mittheilen,  so  geschieht  es  freilich  auf 
die  Gefahr  hin,  über  die  von  uns  gewählte  Zeitschranke  hinauszu¬ 
greifen.  Doch  kann  auf  alle  Fälle  nicht  viel  gefehlt  sein4). 


0  Psycbom.  v.  70—75  und  v.  80. 

2)  Dittoch.  Nr.  25,  27,  28. 

3)  Vgl.  Fessler,  Patrolog.  Bd.  II,  pag.  482. 

4)  Vgl.  Ebert,  Gesch.  der  christl.  lat.ein.  Literatur.  Leipz.  1874,  S.  358  Anm.  1 
und  S.  365;  Huemer,  De  Sedulii  vita  etc.  Vindob.  1878,  p.  23  ff. 


266 


Sein  grösseres  »Lied  vom  Opferlamm«  x),  worin  »die  göttlichen 
Wunder  Christi,  der  als  unser  Pascha  geopfert  ist«,  besungen  werden, 
gehört  allerdings  im  Ganzen  der  christlichen  Epik  an,  jedoch  haben 
die  wenigen  Partieen,  die  wir  demselben  zu  entnehmen  haben,  einen 
mehr  betrachtenden,  didaktischen  oder  lyrischen  Charakter. 

Das  zweite  Buch  dieses  »Carmen  paschale«  enthält  in  Vers 
28 — 40  folgende  Betrachtung: 

»Wie  aus  dorniger  Staude  die  zarte  Rose  emporsteigt, 

Nichts  Verletzendes  hat  und  die  Mutter  an  Ehre  verdunkelt, 

So  aus  dem  Stamme  der  Eva  Maria,  die  Heilige,  kommend 
Sühnte  der  alten  Jungfrau  Frevel  die  Jungfrau,  die  neue. 

Auf  dass,  weil  die  Natur,  die  ursprüngliche,  krankte  verdorben 
Unter  des  Todes  Gewalt,  der  Mensch  könnt’  wieder  geboren 
Werden  durch  Christi  Geburt  und  die  Makel  des  Fleisches  verlieren. 
Dieses,  was  die  Propheten,  die  alten,  als  künftig  gesungen, 

Kündet’  als  fällig  der  Engel  der  unberührten  Maria. 

Und  sein  Wort  fand  Glauben,  und  bald  erfüllte  des  Mägdleins 

Leib  die  himmlische  Last,  und  es  stellt  sich  der  Schöpfer  der  Dinge 

Unter  des  Werdens  Gesetz.  Die  Unvermählte  erstaunet 

Ueber  den  schwellenden  Schooss,  erfreut  zu  gebären  den  Schöpfer.“ 

Von  rein  lyrischem,  hymnenartigem  Schwung  sind  die  Verse 
63 — 69  desselben  Buches: 

»Heilige  Wöchnerin,  sei  mir  gegrüsst,  die  den  König  geboren, 

Welcher  Himmel  und  Erde  erhält  auf  ewige  Zeiten, 

Dessen  Gottheit  Alles  umfasst  in  ewigem  Kreislauf, 

Dessen  Reich  ohn’  Ende  besteht.  In  seligem  Leibe 

Hast  du  die  Freuden  der  Mutter  vereint  mit  den  Ehren  der  Jungfrau. 

Keine  erscheinet  dir  gleich,  sei’s  vor  dir,  oder  auch  nach  dir, 

Ohne  Beispiel  allein  hast  du,  Weib,  Christo  gefallen.« 

Die  Verse  358—364  des  fünften  Buchs  symbolisiren  in  Maria 
die  Kirche  und  nehmen  an,  dass  Christus  nach  seiner  Auferstehung 
der  Mutter,  als  Repräsentantin  der  Kirche,  zuerst  erschienen  sei: 
»Christus  hat  sich  verbunden  in  schöner  Liebe  der  Kirche, 

Letztere  strahlet  umher  in  der  sichtbaren  Ehre  Mariens, 

Welche  mit  herrlichem  Namen  auf  immer  heisset  die  Mutter, 

Immer  auch  Jungfrau  bleibt ;  ihr  zuerst  erscheinend  vor  Augen 
Zeigte  sich  offen  der  Herr  am  Tag,  dass  verbreite  die  gute 
Mutter  die  Wunder,  die  grossen,  dass  sie,  die  einstens  der  Weg  war 
Für  den  Ankommenden,  sei  Wegzeiger  des  Wiedergekehrten.« 


')  Carmen  paschale. 


267 


Aus  der  »Elegie«  stammen  die  beiden  folgenden  Distichen,  welche 
in  ihrer  Vereinzelung  ganz  als  selbständige  Epigramme  wirken.  Wir 
haben  in  der  Uebersetzung  die  Figur  der  Epanalepsis  möglichst 
nachzuahmen  gesucht. 

»Einzig  war  es  ein  Weib,  die  dem  Tode  geöffnet  die  Pforte, 

Und  die  das  Leben  gebracht,  einzig  auch  war  es  ein  Weib«  *)• 

»Jungfrau  berühmt  sich  Marie,  da  Keiner  verletzet  die  Keuschheit; 

Nach  des  Knaben  Geburt  Jungfrau  berühmt  sich  Marie* 2).« 

Schliesslich  ist  noch  der  Anfang  des  »Hymnus«  mitzutheilen, 
bei  dessen  Uebersetzung  wir  aber  sowohl  auf  die  alphabetische 
Reihenfolge  der  Anfangsbuchstaben  jeder  Strophe,  als  auch  auf  den 
schon  verwendeten  Reim,  und  zwar  der  Worttreue  wegen,  verzichten. 

»Von  Sonnenaufgangs  Angelpunkt 
Bis  zu  der  Erde  letzter  Mark 
Dem  Fürsten  Christus  singet  Preis, 

Mariens  Sohn,  der  Jungfrau  Sohn. 

Der  sel’ge  Schöpfer  dieser  Welt 
Zog  eines  Knechtes  Körper  an, 

Befreit  durch  Fleisch  das  Fleisch,  um  nicht 
Zu  Grund  zu  richten,  was  er  schuf. 

In  den  verschloss’nen  Mutterschooss 
Des  Himmels  Gnade  gehet  ein, 

Der  Leib  des  Mägdleins  trägt  in  sich 
Geheimnisse,  die  er  nicht  kennt. 

Das  Haus  der  zücht’gen  Mutterbrust 
Wird  Gottes  Tempel  auf  einmal, 

Vom  Mann  nichts  wissend,  unberührt, 

Durch’s  Wort  empfing  sie  einen  Sohn. 

Geboren  hat  die  Wöchnerin, 

Den  Gabriel  vorhergesagt, 

Den,  in  der  Mutter  Leib  versperrt, 

Johannes  fühlt  und  springt  empor. 

Er  trägt’s  zu  liegen  in  dem  Heu, 

Hat  vor  der  Krippe  keine  Scheu, 

Er  nährt  sich  von  geringer  Milch, 

Durch  den  kein  Vöglein  hungern  darf.« 
u.  s.  w. 

b  Vers  7  u.*8. 

2)  Vers  53  u.  54. 


268 


Wir  bemerken  nur  noch,  dass  dieser  Hymnus,  wie  der  des 
Ambrosius  und  der  »Zu  allen  Stunden«  des  Prudentius  ins  Brevier 
übergegangen  sind. 

Eine  eigene  Klasse  bilden  die  syrischen  Dichter.  Wir  lassen 
sie  daher  zum  Schlüsse  nach  einander  auftreten,  obwohl  einige  der 
Zeitfolge  nach  vor  die  zuletzt  aufgeführten  Lateiner  fallen.  Der 
älteste  von  denselben  ist  der  heilige  Ephram,  den  wir  schon  mehr¬ 
fach  kennen  gelernt  haben.  Die  Kritik  ist  mit  ihm  noch  keineswegs 
fertig,  namentlich  ist  man  mit  den  bloss  in  griechischer  Uebersetzung 
unter  seinem  Namen  laufenden  Schriften  noch  nicht  im  Reinen. 
Wir  halten  es  daher  für  das  Gerathenste,  diese  gar  nicht  zu  berück¬ 
sichtigen  und  nur  unter  den  syrischen  eine  kleine  Auswahl  zu  treffen, 
die  wir  nach  Zingerle’s  Uebersetzung  geben. 

Ephram  übertrifft  alle  bekannten  Dichter  des  christlichen  Alter¬ 
thums,  so  weit  diese  Maria  poetisch  verherrlichten,  durch  die  Menge 
seiner  einschlägigen  Dichtungen.  Insbesondere  sind  seine  Weihnachts¬ 
hymnen  beinahe  ebensoviele  Preisgesänge  auf  Maria  als  auf  Christus, 
selbstverständlich  das  Erstere  immer  nur  in  zweiter  Linie.  Dabei 
hat  er  das  Eigenthümliche ,  dass  er  Maria  selbst  öfters  redend  ein¬ 
führt  und  zur  Trägerin  seiner  Gedanken  und  Gefühle  wählt,  oder, 
wie  er  sie  selber  sagen  lässt,  dass  »ihr  Kind  sie  zur  Harfe  seiner 
Lieder  macht«.  Diese  Lieder  nehmen  nun  ohne  Frage  oft  einen 
hohen  dichterischen  Anlauf,  enthalten  aber  auch  ebensoviel  poetisch 
verarbeitete  Dogmatik,  eine  Eigenschaft,  die  mit  ihnen  auch  die 
übrigen  Syrer  mehr  oder  weniger  theilen.  Es  ist  aber  diess  wiederum 
eine  neue,  wenn  auch  nicht  durchaus  dichterische,  Verherrlichung 
Mariens,  dass  Ephräm  eben  durch  ihren  Mund  diese  dogmatischen 
Lehren  in  poetischer  Einkleidung  vortragen  lässt. 

Zingerle  hat  die  Hymnen  in  Prosa  übersetzt.  Einen  Abschnitt 
des  vierten  Weihnachtshymnus  hat  er  aber  auch  in  poetischer  Form, 
wohl  in  einer  Nachahmung  der  im  Vergleich  mit  unsern  abend¬ 
ländischen  Versmassen  sehr  freien  syrischen  Versifikation  in  seine 
»Marienrosen  aus  Damaskus«  x)  aufgenommen.  Da  diese  Versifikation 
von  der  prosaischen  Uebersetzung  sich  grossentheils  nur  durch  Um¬ 
stellungen  von  Worten ,  durch  Synonymen  u.  dgl.  Kleinigkeiten 
unterscheidet,  also  im  Ganzen  ebenso  treu  erscheint,  so  wollen  wir 
derselben  den  Vorzug  geben.  Sie  mag  als  Beispiel  dienen,  wie  die 


*)  Zweite  Ausgabe.  Innsbruck  1855;  S.  58  ff. 


269 


übrigen  syrischen  Gedichte  ungefähr  sich  ausnehmen  würden,  wenn 
bei  ihnen  auf  das  einheimische  Versmaass  Rücksicht  genommen  wäre. 
Was  übrigens  das  letztere  betrifft,  so  verweisen  wir  für  die  späteren 
Sachen  auf  die  Vorreden  Bickells  zu  den  übrigen  Syrern  (s.  unten). 
Der  genannte  Hymnusabschnitt  ist  folgender: 

»Zu  beneidenswerthen  Tönen  erglühte  auch  Maria  und  sang 
ihm  ein  süsses  Lied: 

Wer  machte  die  Jungfrau 
Empfangen,  gebären 
Den  Einen,  Vielfachen, 

Den  Kleinen  und  Grossen, 

Der  ganz  ist  bei  mir, 

Und  ganz  bei  dem  All  V 

Der  Tag,  an  dem  Gabriel 
Erschienen  mir  Armen, 

Verwandelte  plötzlich 
Zur  Herrin  die  Magd. 

Magd  deiner  Gottheit 
Bin  ich,  und  Mutter 
Zugleich  deiner  Menschheit, 

0  Herr  und  Sohn! 

Wie  schnell  ward  die  Magd 
Zur  Königstochter, 

Durch  dich,  o  des  Königs  Sohn! 

Siehe,  die  Niedrige 
Ward  Enkelin  Davids 
Durch  dich,  o  Davids  Sohn! 

Die  Tochter  der  Erde 
Erhebt  durch  den  Himmlischen 
Sich  zu  dem  Himmel. 

Wie  soll  ich  erstaunen! 

Da  liegt  vor  mir 
Ein  greises  Kind, 

Erhoben  sein  Auge 
Zum  Himmel  ganz, 

Nie  ruhet  das  Lallen  seines  Mundes, 

Auch  wenn  es  mir  scheint, 

Dass  sich  mit  Gott  nur 
Bespreche  sein  Schweigen. 

Wer  sah  je  ein  Kind, 

Das  Alles  durchschaut? 


270 


Sein  Schauen  verräth 
Es  als  den  Lenker 
Aller  Geschöpfe, 

Sein  Blick  ist  der  Blick 
Des  Allgebieters! 

Wie  öffn’  ich  dir,  Urquell, 

Die  Quelle  der  Milch? 

Wie  geh’  ich  dir  Nahrung, 

Ernährer  des  Weltalls, 

An  deinem  Tische? 

Wie  leg  ich  dir  Windeln  an, 
Strahlenumhüllter  ? 

Wie  soll  ich  dich  nennen? 

Nicht  weiss  es  mein  Mund, 

0  Sohn  des  Lebendigen ! 

Wag’  ich’s,  zu  nennen 
Dich  Josephs  Sohn, 

So  beb’  ich;  du  bist 
Nicht  erzeuget  von  ihm. 

Seinen  Namen  zu  leugnen 
Fürcht’  ich  mich  auch, 

Er  ward  mir  verlobt. 

0  Sohn  nur  des  Einen, 

Soll  ich  dich  nennen 
Auch  Mehrerer  Sohn? 

Dich  sprechen  nicht  aus 
Myriaden  von  Namen; 

Denn  Gottes-  und  Menschensohn 
Bist  du,  zugleich 
Auch  Davids  Sohn, 

Und  Herr  der  Maria. 

Wer  machte  dich  sprachlos 
0  Herr  der  Sprachen? 

Ob  deiner  Empfängniss, 

Der  reinen,  verleumdeten 
Böswillige  mich; 

Heiligster,  rette 
Die  Ehre  der  Mutter, 

Zeig’  deine  Macht, 

Damit  sie  es  sehen, 

Woher  ich  dich  empfing! 

Ich  bin  nun  verhasst  nur  deinetwegen, 
Der  du  liebest  das  All! 

Sieh,  man  verfolgt  mich, 

Weil  ich  empfing  und  gebar 

Die  eine  Zuflucht  der  Menschenkinder. 


271 


Adam  erfreu’  sich; 

Denn  du  bist  der  Schlüssel 
Zum  Paradies. 

Sieh,  wüthend  empört  sich 
Gegen  deine  Mutter  ein  Meer, 

Wie  gegen  den  Jonas. 

Siehe,  Herodes  — 

Eine  tobende  Fluth  — 

Strebt  zu  ersäufen  den  Herrn  der  Meere. 

0  wohin  flieh  ich? 

Lehre  mich  du  es 
Herr  deiner  Mutter! 

Mit  dir  will  ich  fliehen, 

Durch  dich  zu  gewinnen 
Das  Leben  an  jeglichem  Ort. 

Bei  dir  ist  der  Kerker 
Kein  Kerker  mehr; 

Denn  himmelwärts  steiget 
Durch  dich  der  Mensch. 

Bei  dir  ist  das  Grab  auch 
Nimmer  ein  Grab; 

Denn  die  Auferstehung  bist  du  *).« 

Der  zehnte  Hymnus  auf  die  Geburt  Christi  fängt  also  an: 

»Durch  dich  will  ich  anfangen  zu  sprechen,  o  Anfang,  der 
allen  Geschöpfen  den  Anfang  gegeben.  Oeffnen  will  ich  meinen 
Mund;  du  aber  erfülle  meinen  Mund!  Land  bin  ich  für  dich,  du 
aber  der  Landmann.  0  du,  der  sich  selber  in  den  Schooss  seiner 
Mutter  gesäet  hat,  säe  in  mich  dein  Wort!  Ueber  mich  erstaunen 
alle  die  keuschen  Töchter  der  Hebräer  und  die  Jungfrauen ,  die 
Töchter  der  Häupter  des  Volks.  Durch  dich  ist  die  Tochter  der 
Armen  beneidenswerth;  deinetwegen  sieht  man  mit  Eifersucht  auf 
die  Tochter  der  Niedrigen.  Wer  hat  dich  mir  gegeben?  0  Sohn 
des  Reichen  (Gottes) ,  der  den  Schooss  der  reichen  Frauen  ver¬ 
schmähte,  was  hat  dich  zu  den  Armen  gezogen?  Denn  Joseph  ist 
arm  und  ich  bin  dürftig.  Deine  Handelsleute  (die  Magier)  trugen 
und  brächten  allerdings  Gold  in  das  Haus  der  Armen.  Sie  sah  die 
Magier;  da  wurde  sie  freilich  durch  die  Gaben  derselben  zu  vielen  Preis¬ 
gesängen  angeregt.  Deine  Anbeter  standen  rings  um  mich  her;  auch 
deine  (die  dir  gegebenen)  Geschenke  umgaben  mich  von  allen  Seiten. 


J)  Ephr.  S.  IV.  de  nativ.  Tom.  II,  Syr.  et  lat.  p.  415.  Ed.  Assemani. 
Zingerle,  Ausgew.  Schriften  Ephräms;  Kempten,  Bd.  II,  S.  24  ff. 


»Gepriesen  sei  das  Kind,  welches  seine  Mutter  zur  Harfe  für 
seine  Lieder  machte.  Weil  die  Harfe  auf  ihren  Herrn  (der  auf  ihr 
spielt)  harret,  so  harret  mein  Mund  auf  dich,  dass  dein  Wille  die 
Zunge  deiner  Mutter  errege,  und  weil  ich  durch  dich  eine  ganz  neue 
Empfängniss  kennen  gelernt  habe,  so  möge  durch  dich  auch  mein 
Mund  als  neues  Erzeugnis  einen  neuen  Lobgesang  lernen.  Wenn 
die  schwersten  Dinge  für  dich  nicht  schwer  sind,  so  bleiben  die  für 
dich  leichten  Dinge  doch  schwer  (unbegreiflich),  dass  nemlich  der 
Schooss  dich  ohne  Begattung  empfing,  und  dass  ohne  Samen  der 
Mutterleib  dich  gebar.  Ist  es  für  einen  armen  Mund  leicht,  deine 
grosse  Glorie  zu  erhöhen? 

»Siehe,  ich  bin  bedrängt,  verleumdet  und  doch  fröhlich.  Voll 
sind  meine  Ohren  von  Schmähung  und  Spott;  allein  gering  scheint 
mir,  wie  viel  ich  auch  immer  leiden  muss;  denn  ein  Trost  von  dir 
kann  Myriaden  von  Leiden  vertreiben.  Weil  ich  von  dir,  o  mein 
Sohn,  nicht  verachtet  bin,  hege  ich  volles  Vertrauen.  Wenn  ich 
auch  verleumdet  werde,  dass  ich  empfangen  habe,  ich  habe  aber 
die  Wahrheit  geboren,  die  siegreich  meine  Unschuld  vertheidigt. 
Wenn  nemlich  die  Thamar  x)  durch  Juda  gerechtfertigt  ward,  um 
wie  viel  mehr  werde  ich  durch  dich  siegreich  dastehen! 

»Dein  Ahnherr  David  sang,  bevor  du  kamst,  einen  Psalm  auf 
dich,  dass  dir  Gold  von  Saba  werde  dargebracht  werden* 2).  Der 
Psalm,  den  er  gesungen,  ging  an  dir  als  Knabe  in  Erfüllung;  siehe, 
in  der  That  ist  vor  dir  Myrrhe  und  Gold  aufgehäuft.  Die  hundert¬ 
fünfzig  Psalmen,  die  er  gesungen,  haben  durch  dich  ihre  Würze 
bekommen ;  denn  alle  Worte  der  Propheten  bedürfen  deines  lieblichen 
Geschmacks,  weil  ohne  dein  Salz  alle  Arten  von  Weisheit  geschmack¬ 
los  sind3).« 

Hieran  schliesst  sich  der  elfte  Hymnus  über  denselben  Gegenstand: 

»Ich  empfinde,  o  mein  Sohn,  keinen  Neid  darüber,  dass  du 
sowohl  bei  mir  als  auch  bei  allen  Menschen  bist.  Zeige  dich  als 
Gott  dem,  der  dich  bekennt,  und  als  Herrn  dem,  der  dir  dient,  und 
sei  Bruder  dem,  der  dich  liebt,  damit  du  dir  alle  zu  eigen  machst! 
Da  du  in  mir  wohntest,  weiltest  du  in  und  ausser  mir,  und  nach- 


I.  Mos.  38,  11-16. 

2)  Ps.  71,  10. 

3)  Ephram,  S.  X.  de  nat.  Tom.  II,  Syr.  et  lat.  p.  428  ff.  Zingerle  II.  Bd, 
S.  38  ff. 


273 


dem  ich  dich  geboren,  war  deine  verborgene  Macht  sichtbar  nicht 
fern  von  mir.  Du  bist  in  mir  und  ausser  mir  und  versetzest  die 
Mutter  in  Erstaunen.  Während  ich  deine  äussere  Gestalt  vor  meinen 
Augen  sehe,  ist  dein  verborgenes  Bild  in  meinem  Geiste  gebildet, 
o  Heiliger!  In  deiner  sichtbaren  Gestalt  sah  ich  Adam,  und  in  deiner 
verborgenen  schaute  ich  deinen  mit  dir  innigst  vereinten  Vater. 
Hast  du  wohl  mir  allein  in  zwei  Bildern  deine  Schönheit  gezeigt? 

»Im  Brod  und  Geist  zeige  sich  dein  Bild!  Wohne  im  Brode 
und  den  dasselbe  Essenden!  Im  Unsichtbaren  und  Offenbaren  schaue 
ich  deine  Kirche  wie  deine  Mutter!  Wer  dein  Brod  als  verächtlich 
hasst,  gleicht  Jenem,  der  deinen  Leib  hasst;  allein  der  auch  weit 
Entfernte,  welcher  dein  Brod  liebt,  ist  dir  nahe,  weil  er  dein  Bild 
liebt.  Im  Brode  und  Fleische  schauten  dich  die  Ersten  und  die 
Letzten.  Ja  dein  sichtbar  Brod  ist  wohl  geehrter  als  dein  Leib; 
diesen  nemlich  sehen  auch  die  Ungläubigen,  dein  lebend  Brod  aber 
sehen  sie  nicht.  Es  freuten  sich  die  Entfernten,  weil  ihr  Loos  das 
der  Nahen  übertraf.  Deine  Gestalt  ist  in  dem  Traubenblute  auf 
dem  Brode  abgebildet,  auf  dem  Herzen  aber  ist  sie  mit  dem  Finger 
der  Liebe  durch  die  Farben  des  Glaubens  abgebildet.  Gepriesen  sei 
er,  der  die  gemeisselten  Bilder  durch  das  Bild  seiner  Wahrheit  ver¬ 
schwinden  machte. 

»Du  bist  nicht  (ein  blosser)  Mensch,  dass  ich  dir  ein  einfaches, 
gewöhnliches  Lied  singen  dürfte;  denn  deine  Empfängniss  ist  eine 
völlig  neue,  und  deine  Geburt  ist  ein  Wunder.  Wer  kann  ohne 
Geist  dich  im  Psalmentone  preisen?  Ein  neuer  leiser  Gesang  der 
Prophezeiung  erglüht  in  mir.  Wie  soll  ich  dich  nennen ,  o  uns 
Fremder,  der  Einer  aus  uns  geworden?  Nenne  ich  dich  Sohn,  oder 
nenne  ich  dich  Bruder?.  Soll  ich  dich  den  Verlobten  oder  Herrn 
heissen?  Du  erzeugst  ja  aus  dem  Wasser  die  Mutter  als  neue 
Geburt.  Doch  —  deine  Schwester  bin  ich  aus  dem  Hause  Davids, 
der  unser  beider  Stammvater  ist.  Mutter  bin  ich  ebenfalls  wegen 
deiner  Empfängniss,  und  Verlobte  wegen  deiner  Heiligkeit;  Magd 
und  Tochter  aus  dem  Blut  und  Wasser  durch  dich  erkauft  und 
getauft. 

»Der  Sohn  des  Allerhöchsten  kam  und  nahm  in  mir  seine 
Wohnung;  so  ward  ich  seine  Mutter.  Wie  ich  ihn  gebar,  so  machte 
er  mich  zu  einem  neuen  Geschöpfe,  einer  zweiten  Schöpfung.  Weil 
er  das  Kleid  seiner  Mutter,  ihr  Fleisch  annahm,  kleidete  sie  sich  in 
seine  Herrlichkeit.  Die  Thamar,  welche  aus  Davids  Hause  war, 

Lehner,  Die  Marienverehrung.  |g 


274 


entehrte  Ammon  x);  so  verloren  beide  ihre  jungfräuliche  Reinigkeit. 
Meine  Perle  ging  nicht  verloren,  sie  ist  in  deinem  Schatze  hinter¬ 
legt,  weil  du  sie  angezogen  hast.  Aus  (der  anderen)  Thamar*  2) 
duftete  der  Geruch  ihres  Schwiegervaters,  weil  sie  seine  Wohlgerüche 
stahl.  Aus  den  Kleidern  der  Verlobten  Josephs  duftete  aber  sein 
Geruch  nicht,  weil  sie  Balsam  (Jesus)  empfangen  hatte.  Eine  feurige 
(Schutz-)Mauer  ward  mir,  o  Sohn  des  Heiligsten,  deine  Empfängniss. 
Die  Blüthe  ward  geruchlos,  weil  der  Duft  der  Lilie  der  Herrlichkeit 
gewaltiger  war.  Der  Schatz  aller  Wohlgerüche  bedurfte  der  Blüthe 
und  ihrer  Düfte  nicht.  Fern  blieb  das  Fleisch,  da  es  im  Mutterleib 
die  Frucht  des  Geistes  sah. 

»Das  Weib  dient  sonst  vor  dem  Manne,  weil  er  sein  Haupt 
ist ;  Joseph  aber  machte  sich  auf,  um  vor  seinem  Herrn  zu  dienen, 
der  in  Maria  war.  Als  Priester  diente  er  vor  deiner  Bundeslade 
um  deiner  Heiligkeit  willen.  Moses  trug  einst  die  steinernen  Tafeln, 
die  sein  Herr  geschrieben  hatte,  und  Joseph  ehrte  feierlich  die  reine 
Tafel,  worin  der  Sohn  des  Schöpfers  wohnte.  Die  Tafeln  verloren 
ihre  Bedeutung,  weil  die  Erde  mit  deiner  Lehre  erfüllt  ward3).« 

Ganz  denselben  Ton  schlägt  der  zwölfte  Weihnachtshymnus  an: 

»Maria  sprach:  Empor  trug  mich  das  Kind,  welches  ich  ge¬ 
tragen;  er  liess  seine  Schwingen  herab,  hob  mich  auf,  legte  mich 
zwischen  seine  Fittige,  schwebte  in  der  Luft  hin  und  her  und  ver¬ 
sprach  mir:  die  Höhe  und  die  Tiefe  gehören  einst  deinem  Sohne. 

»Gabriel  sah  ich,  der  ihn  Herrn  und  hohen  Priester  nannte; 
auch  sah  ich  den  greisen  Diener  (Simeon),  der  ihn  aufhob  und  trug. 
Ich  sah  die  Magier  tiefgebeugt  vor  ihm  sich  niederwerfen,  und  den 
Herodes  verwirrt  darob,  dass  der  König  gekommen.  Satan,  der  die 
Knaben  (in  Aegypten)  ersäufen  liess,  damit  auch  Moses  zu  Grunde 
gehen  möchte,  liess  auch  Ivnäblein  (in  Bethlehem)  ermorden,  damit 
der  Lebendige  sterben  sollte.  Nach  Aegypten  floh  Er,  der  nach 
Juda  gekommen  war,  um  bis  zur  Ermüdung  herumzuziehen,  weil  er 
seinen  Jäger  (die  Juden)  zu  erjagen  (erlösen)  suchte. 

»Eva  verhüllte  sich  in  ihrem  noch  jungfräulichen  Zustande  mit 
Blättern,  um  ihre  Scham  zu  decken;  deine  Mutter  aber  zog  in 
ihrer  Jungfräulichkeit  ein  Kleid  der  Herrlichkeit  an,  das  Allen  hin- 


4  II.  Könige,  (Sam.)  13. 

2)  Genes.  38,  14  ff. 

3)  Ephr.  11.  Ges.  üb.  die  Geb.  Christi,  Zingerle,  Bd.  II,  S.  41  ff. 


reichenden  Schutz  gewährt.  Sie  gab  des  Fleisches  geringe  Hülle 
dem,  der  Alles  bekleidet.  0  wie  selig  ist  sie,  in  deren  Herzen  und 
Geist  du  wohnest!  Eine  königliche  Burg  ist  sie  durch  dich,  o  Königs¬ 
sohn,  und  ein  Allerheiligstes  durch  dich,  o  Hoherpriester !  Sie  berührt 
keine  Sorge  und  keine  Mühe  für  Blaus  und  Mann. 

»Eva  ward  ferner  zur  Höhle  und  zum  Schlupfwinkel  für  die 
verfluchte  Schlange,  weil  der  böse  Rath  derselben  in  sie  Eingang 
fand  und  in  ihr  wohnte.  Dann  ward  sie  ihr  zum  Brode,  weil  sie 
Staub  wurde.  Du  aber  bist  unser  Brod  und  unser  Adel  und  das 
Gewand  unserer  Glorie. 

»Wer  im  Besitze  der  Heiligkeit  ist,  den  bewachst  du,  wenn  er 
behutsam  wandelt.  AVer  Schulden  auf  sich  hat,  dem  erlassest  du 
sie.  Wer  von  einem  bösen  Geiste  besessen  ist,  dem  vertreibst  du 
denselben.  Die  von  Schmerzen  Gequälten  heilst  du  von  ihren  Leiden. 

»Wer  einen  Sohn  hat,  lasse  ihn  kommen,  damit  er  Bruder 
meinem  Liebling  werde!  Wer  eine  Tochter  oder  Verwandte  hat,  lasse 
sie  kommen,  um  Verlobte  meines  Theuren  zu  werden.  Wer  aber 
einen  Knecht  hat,  lasse  ihn  frei,  damit  er  komme  und  Diener  seines 
Herrn  werde.  Der  Freie,  der  dein  Joch,  o  mein  Sohn,  auf  sich 
genommen,  hat  nur  einen  Lohn;  allein  der  Knecht,  der  zwei  Joche 
trägt,  das  des  obern  und  des  untern  Flerrn,  empfängt  einst  die 
doppelte  Seligkeit  und  doppelten  Lohn,  weil  er  zwei  Lasten  getragen. 
Die  Freie  ist  deine  Magd  auch,  wenn  sie  dir  dient,  o  mein  Sohn. 
Die  Unterjochte  (Sklavin)  aber  wird  durch  dich  frei,  durch  dich 
getröstet,  weil  sie  befreit  ward.  Verborgene  Aepfel  *)  legt  man  ihr 
in  den  Schooss,  wenn  sie  dich  liebt. 

»0  ihr  keuschen  Seelen,  sehnt  euch  nach  meinem  Geliebten, 
dass  er  in  euch  seine  Wohnung  nehme.  Auch  ihr  Befleckten  tragt 
Verlangen  nach  ihm,  damit  er  euch  heilige!  Sehnt  euch  nach  ihm 
auch  ihr  Kirchen  (Gemeinden),  auf  dass  er  euch  schmücke!  Des 
Schöpfers  Sohn,  der  da  kam,  um  alle  Geschöpfe  wiederherzustellen, 
versetzte  in  einen  neuen  Zustand  die  Thörichten,  die  alle  Gestirne 
anbetend  verehrten.  Er  erneute  die  Erde,  welche  durch  Adam  alt 
geworden  war,  weil  er  sündigte  und  veraltete.  Ein  neu  Gebilde 
ward  die  ganze  Schöpfung  durch  ihren  Wiederhersteller,  der  Alles, 
die  Körper  mit  den  Geistern,  wieder  in  die  rechte  Ordnung  zu  bringen 
im  Stande  ist. 


’)  Cant.  II,  5. 


276 


»Kommt  denn,  o  Blinde,  und  nehmt  unentgeltlich  das  Licht  der 
Augen  wieder!  Kommt,  o  ihr  Lahmen,  nehmt  eure  Füsse!  Taub¬ 
stumme  kommt  und  bekommt  wieder  eure  Sprache!  Die  aber  einer 
Hand  beraubt  sind,  sollen  ihre  Hände  empfangen.  Der  Sohn  des 
Schöpfers  hat  seine  Schätze  voll  Heilmittel.  Wer  also  der  Augen 
bedarf,  komme  zu  ihm!  Er  macht  ein  wenig  Lehm1),  verwandelt 
denselben  und  macht  ihn  zu  Fleisch  und  gibt  den  Augen  das  Licht 
wieder.  Durch  das  bischen  Lehm  zeigte  er  an,  dass  durch  seine 
Hand  Adam  gebildet  worden.  Ferner  gab  die  Auferweckung  des 
Todten  2)  Zeugniss,  dass  durch  ihn  dem  Menschen  der  Athem  des 
Lebens  eingehaucht  worden.  Die  letzten  Zeugen  beglaubigten  ihn 
als  den  Sohn  des  Ersten  fGottes). 

»Versammelt  euch  und  kommt  herbei,  o  Aussätzige,  kommt 
herbei  und  empfanget  ohne  Mühe  die  Reinheit  wieder!  Er  reinigt 
nicht,  wie  Elisäus,  der  (dem  Naaman)  befahl,  siebenmal  im  Flusse 
sich  zu  waschen3).  Er  macht  auch  nicht  Mühe,  wie  die  Priester 
(des  Alten  Testaments)  mit  ihren  Besprengungen.  —  Fremde  und 
Weitentfernte  nehmet  auch  eure  Zuflucht  zum  grossen  Arzte!  Bei 
dem  Sohne  des  Königs  ist  für  das  Fremdsein  kein  Raum,  wie  auch 
kein  Herr  seinen  Dienern  fremd  ist.  Er  ist  ja  der  Herr  Aller4)«. 

Von  Ephräm  nehmen  wir  Abschied  mit  den  beiden  folgenden 
kleinen  Fragmenten,  welche  Zingerle  in  einer  Anmerkung  mittheilt. 

»Niemand  weiss,  o  Herr,  wie  er  deine  Mutter  nennen  solle. 
Soll  er  sie  Jungfrau  heissen?  Es  steht  aber  ja  ihr  Kind  da.  Verehe¬ 
licht?  Allein  Niemand  wohnte  ihr  bei.  Ist  nun  deine  Mutter  schon 
uns  unbegreiflich,  wer  vermöchte  dich  zu  fassen?  Allein  nemlich 
ist  sie  deine  Mutter,  zugleich  mit  allen  deine  Schwester.  Sie  war 
dir  Mutter,  sie  war  dir  Schwester,  aber  auch  deine  Braut  mit  den 
Keuschen.  Mit  jedem  Vorzüge  schmücktest  du  sie,  o  Zierde  deiner 
Mutter.  Wunderbar  ist  sie5)«. 

»Die  Mutter,  welche  ihn  geboren,  ist  würdig  des  Andenkens, 
preiswürdig  der  Schooss,  welcher  ihn  getragen.  Mehr  als  alle,  die 


*)  Job.  IX,  6. 

2)  Lazarus  oder  der  Jüngling  von  Nain. 

3)  IV.  Reg.  V,  1. 

4)  Ephräm,  De  nat.  Ghr.  XII.  Ges.  Zingerle  II,  S.  45  ff.  Tom.  II,  Syr.  et 
lat.  p.  430  ff. 

5)  De  nativ.  S,  VIII;  T.  II.  Syr.  lat.  p.  423-24.  Zingerle  II,  S.  55,  Anm.  2. 


277 


von  ihm  geheilt  wurden,  erfreute  er  mich  (Maria),  weil  ich  ihn  em¬ 
pfing.  Vor  allen,  die  durch  ihn-  verherrlicht  wurden,  verherrlichte 
er  mich,  weil  ich  ihn  gebar.  In  sein  lebensvolles  Paradies  werde 
ich  einziehen;  denn  er  wählte  mich  nach  seinem  Wohlgefallen  vor 
allen  Menschen  zu  seiner  Mutter  und  ward  mein  Sohn,  weil  es  ihm 
so  wohlgefällig  war1)«. 

Dem  h.  Ephräm  zunächst  in  der  Zeitfolge  steht  der  Diakon 
Cyrillonas,  der  um  das  Jahr  400  dichtete2).  In  seinem  »Hymnus 
über  die  Bekehrung  des  Zachäus«  feiern  die  folgenden  Strophen,  die 
wir  nach  Bickells  Uebersetzung  geben,  die  heilige  Jungfrau3): 

»Eva  unterlag,  als  der  böse  Rath,  der  sie  zur  Fremden  machte, 
bei  ihr  Eingang  fand.  Als  aber  die  heilige  Maria  erschien,  brachte 
diese  den  ursprünglichen  Glanz  jener  wieder  zurück.  Die  Schlange 
mischte  heimlich  die  Sünde  mit  dem  Blute  des  Todes  und  reichte  der 
Eva  die  Mischung;  damit  aber  jene  nicht  vor  dem  Tranke  zurück¬ 
schaudere,  tränkte  sie  dieselbe  mit  Sündenschuld  unter  dem  Scheine 
der  Freundschaft.  Unser  Herr  mischte  den  Wein  mit  seinem  Blute, 
versetzte  ihn  mit  der  Arznei  des  Lebens  und  goss  ihn  ein;  die 
Schuldlose  kostete  davon,  stieg  herab  und  überwand  das  mörderische 
Salz  des  Todes.  Im  Paradiese  heftete  sich  die  Sünde  an  Eva  und 
trieb  sie  aus  dem  Garten,  als  sie  unterlegen  war;  weil  sie  der 
Schlange  geneigtes  Ohr  geliehen  hatte,  ward  sie  jenem  Garten  ent¬ 
fremdet.  Die  fusslose  Schlange  lähmte  auch  Evas  Gang;  da  diente 
Maria  ihrer  Mutter  statt  des  Fusses.  Die  Jüngere  trug  die  ältere, 
auf  dass  sie  in  ihrer  ursprünglichen  Wohnstätte  das  Leben  einathme. 
Eva  alterte  und  ward  gekrümmt,  da  gebar  sie  Maria  und  ward 
wieder  verjüngt;  denn  die  Geburt  ihrer  Tochter  übernahm  es,  die 
Schuld  der  Ahnfrau  wieder  gut  zu  machen. 

»Eva  hatte  dort  in  unser  Gebilde  den  Sauerteig  des  Todes  und 
des  Jammers  verborgen;  da  erschien  Maria  und  nahm  ihn  hinweg, 
damit  nicht  die  ganze  Schöpfung  verderbt  werde.  Gott  verbarg  seine 
Fluthen  in  der  Jungfrau,  das  Leben  strömte  aus  von  der  Glorreichen ; 
seine  Ströme  flössen  aufwärts  zu  den  Bergen  und  erhöhten  die 
Tiefen  und  Thäler  über  jene  ....  Die  Gnadenreiche  trug  das  Heil, 


0  Ephräm,  Zingerle,  Ibid. 

2)  S.  Bickell,  Ausgew.  Gedichte  der  syr.  Kirchenväter,  Cyrillonas  etc.  Ein¬ 
leitung.  (Thalhofer’sche  Uebersetzung  der  Kirchenväter.) 

3)  Ibid.  S.  29. 


278 


ihre  Hände  legten  es  in  die  Krippe;  die  Völker  genossen  es,  und 
durch  seinen  Genuss  ward  der  Schlangenbiss  geheilt«. 

Der  Landbischof  Baläus,  dessen  Gedichte  vor  das  Ephesiner 
Concil  fallen  *),  hat  in  seinem  »Gedicht  zur  Einweihung  einer  neuen 
Kirche«  folgende  Stelle: 

»Auch  Maria  mochte  wohl  von  Staunen  ergriffen  werden,  weil 
allerlei  Unerhörtes  auftauchte  und  sie  umringte.  Denn  ihr  als  Jung¬ 
frau  war  ein  Sohn  geworden,  und  gleich  einem  Könige  strömten 
ihm  Geschenke  zu.  Einsam  war  die  Höhle  und  angefüllt  die 
Krippe« . 

Das  »Gebet  zu  Ehren  der  heiligen  Mutter  Gottes«,  welches  Bickell 
ebenfalls  mittheilt*  2),  wäre  vielleicht  besser  an  einem  andern  Orte 
gestanden,  dort  nemlich,  wo  von  der  Anrufung  der  h.  Jungfrau  die 
Rede  war.  Allein  es  ist  metrisch  3)  verfasst  und  kann  dess wegen 
ebensogut  hier  stehen ,  wie  die  lateinischen  Sachen ,  die  ins  Brevier 
übergegangen  sind. 

»Glückselig  bist  du,  o  Maria,  weil  durch  dich  die  von  den  Pro¬ 
pheten  verkündeten  Geheimnisse  und  Räthsel  erklärt  sind.  Moyses 
malte  dich  im  Dornbusch  und  in  der  Wolke,  Jakob  in  der  Leiter, 
David  in  der  Bundeslade,  Ezechiel  in  der  verschlossenen  und  ver¬ 
siegelten  Pforte.  Siehe,  heute  sind  ihre  Geheimnissreden  durch  deine 
Geburt  erfüllt  worden.  Ehre  sei  dem  Vater,  welcher  seinen  ein¬ 
geborenen  Sohn  gesandt  hat,  um  aus  Maria  zu  erscheinen,  uns  vom 
Irrthum  zu  erlösen  und  ihr  Andenken  im  Himmel  wie  auf  Erden 
zu  verherrlichen.« 

Die  Vorbemerkung  zu  dem  voranstehenden  »Gebet«  gilt  noch 
mehr  für  die  nachstehenden,  ebenfalls  von  Bickell  übersetzten  »Litur¬ 
gischen  Hymnen  zu  Ehren  der  Mutter  Gottes«  des  Bischofs  Rabulas 
von  Edessa  (f  435)  4),  insbesondere  für  die  Nummern  4  und  5,  wo¬ 
mit  wir  die  syrische  Poesie,  sowie  die  Marienpoesie  überhaupt  ab- 
schliessen. 

1.  »Gegrüsst  seist  du,  in  jeder  Beziehung  heilige  Gottesmutter 
Maria,  wunderbares  und  ehrwürdiges  Schatzhaus  der  ganzen  Welt, 
hellstrahlende  Leuchte,  Wohnstätte  des  Unbegreiflichen,  reiner  Tempel 


b  Bickell,  Einleitung  zu  Bai.  S.  68. 

2)  S.  107. 

3)  Ibid.  S.  103  ff. 

4)  Bickells  Uebersetzung,  S.  259  ff. 


279  - 


des  Schöpfers  aller  Kreatur !  Gegrüsset  seist  du,  denn  durch  dich  ist 
uns  derjenige  kund  geworden,  welcher  die  Sünden  der  Welt  hinweg¬ 
genommen  und  sie  erlöst  hat!« 

2.  »Auf  dem  Berge  Horeb  sah  dich  der  staunenswerthe  Prophet 
Moyses,  o  heilige  Jungfrau,  als  das  Feuer  im  Dornstrauche  weilte 
und  loderte,  ohne  dass  dieser  verbrannt  wurde.  Dich  bezeichnet 
auch  die  von  dem  gerechten  Jakob  in  der  Einöde  gesehene  Leiter, 
auf  welcher  die  Engel  des  Himmels  hinauf-  und  herabstiegen.  Der 
Sohn  Isais  ergriff  gleichfalls  seine  geistliche  Cither  und  begann 
dazu  zu  singen,  dass  Gott  gleich  einem  sanften  auf  die  Erde  nieder¬ 
fallenden  Regen  herabsteigen  und  in  der  Jungfrau  wohnen  werde  x). 
Es  mögen  nun  kommen  die  hebräischen  Mädchen  und  Jungfrauen, 
ihre  Handpauken  schlagen  im  heiligen  Geiste  vor  dem  Königssohne 
und  zu  dir  sagen:  Selig  bist  du,  Maria,  denn  welch  einen  Sohn  hast 
du  geboren!« 

3.  »Wie  sollen  wir  dich  preisen,  o  Demüthige,  die  du  allein 
in  jeder  Beziehung  heilig  bist,  die  du  allen  Gläubigen  ins- 
gesammt  Hilfe  und  Stärke  verleihst?  Denn  wir  alle  in  dieser  Welt 
schauen  aus  und  erwarten  die  Hoffnung  des  Heiles  von  dir,  o 
Demüthige!  Stärke  unseren  Glauben  und  verleihe  Frieden  der  ganzen 
Welt!  Dafür  wollen  wir  Gläubige  dich  preisen  als  den  cherubischen 
Thron  und  das  Ruhegemach  Gottes  in  der  Zeit.  Bitte  und  flehe  für 
uns  alle,  auf  dass  unsere  Seelen  von  dem  künftigen  Zorne  errettet 
werden.« 

4.  »0  reinste  Mutter,  hilf  uns  Armen,  wie  du  gewohnt  bist. 
Du  siehst  ja,  wie  wir  Erdenkinder  uns  dem  Ende  nähern  und  zu 
Grunde  gehen.  So  erwirb  uns  also  Gnade  durch  deine  Fürbitte, 
reine  und  heilige  Jungfrau;  flehe  stets  für  uns,  auf  dass  wir  nicht 
wegen  unserer  Bosheit  verloren  gehen!  0  Gesegnete,  verwende  dich 
für  uns,  indem  du  deinen  eingeborenen,  aus  dir  entsprossenen  Sohn 
bittest,  dass  er  sich  unser  erbarme  um  deiner  heiligen  Gebete  willen! 
Sei  uns  gegriisst,  o  Schiff,  welches  den  Menschen  das  neue  Leben 
zuführt!  Sei  uns  gegrüsst,  heilige  Burg,  in  welche  der  König  der 
Könige  herniederstieg,  um  darin  zu  wohnen!  Sei  uns  gegrüsst, 
demüthige  Jungfrau,  Mutter  Gottes!  Heil  dir,  Gesegnete,  Heil  dir, 
Selige!  Bring  für  uns  alle  Fürbitten  dar  deinem  eingeborenen,  aus 


9  Vgl.  II.  Sam.  23  4. 


280 


dir  entsprossenen  Sohne,  dass  er  sich  unser  erbarme  um  deiner 
heiligen  Gebete  willen!« 

5.  »0  Heilige,  bitte  bei  deinem  Eingeborenen  für  die  Sünder, 
die  zu  dir  ihre  Zuflucht  nehmen!  Denn  alle  Zuchtruthen,  mit  welchen 
die  früheren  Generationen  gestraft  wurden,  sind  jetzt  für  uns  auf¬ 
gespart  und  dringen  auf  uns  ein.  Sieh’  doch,  wie  der  Verderber 
seinen  Bogen  gespannt  hat  und  den  Pfeil  auf  die  Sehne  legt,  um 
nach  seiner  Gewohnheit  zu  treffen !  Siehe  auch  die  Zeichen  aller  Art 
am  Himmel  und  auf  Erden,  sowie  die  herzerschütternden  Schläge! 
Desshalb  nehmen  wir  unsere  Zuflucht  zu  dir,  damit  wir  zu  deinem 
Sohne  rufen  und  sagen  können :  0  du  Züchtiger  thörichter  Herzen, 
Christus,  der  du  schlägst  und  wieder  heilst,  züchtige  uns  in  deiner 
Barmherzigkeit,  erwirb  uns  für  dich  durch  deine  Gnade,  schone  unser 
und  erbarme  dich  über  uns.«  —  — 

Das  Moment  der  Dichtung  spielt  nach  dem  Voranstehenden  bei 
der  Verehrung  der  heiligen  Jungfrau  offenbar  eine  bedeutende  Rolle 
und  zwar  nach  zwei  Seiten.  Die  Dichtungen  sind  einerseits  Produkte 
der  Verehrung,  andererseits  förderten  sie  hinwiederum  die  Ver¬ 
ehrung  Mariens.  Namentlich  mussten  die  Apokryphen  auf  die  Aus¬ 
gestaltung  des  Marienideals  einen  wesentlichen  Einfluss  üben.  Sind 
sie  auch  nicht  als  Glaubensquelle  betrachtet  worden,  so  konnte  doch 
ihre  Lektüre  nicht  verfehlen,  eine  erbauliche  Wirkung  hervorzubringen 
und  das  Herz  ebenso  nachhaltig  zu  befruchten,  wie  die  christliche 
Wissenschaft  den  Geist.  Ja,  wir  haben  die  Erfahrung  gemacht,  dass 
die  Vertreter  der  Wissenschaft  selbst  sich  von  ihnen  bestimmen 
Hessen.  Die  Apokryphen  sind  aber,  wie  gesagt,  nicht  bloss  Förde¬ 
rungsmittel  der  Verehrung,  sie  sind  in  erster  Linie  schon  Denkmale 
der  Verehrung.  Das  Protevangelium  vor  Allem  eröffnet  eine  inter¬ 
essante  Perspektive  nach  rückwärts  und  beweist,  dass  das  Wunder¬ 
weib,  als  welches  Maria  in  den  Evangelien  erscheint,  von  Anfang 
an  die  Phantasie  mächtig  angeregt  haben  muss.  Wie  schon  oben 
bemerkt,  ist  nemlich  das  Protevangelium  seinem  Inhalt  nach  keines¬ 
wegs  die  freie  Erfindung  eines  einzelnen  Dichters,  sondern  enthält 
ausser  den  evangelischen  Partieen  einen  wohlgeformten  Sagenschatz, 
der  in  seinen  Elementen  wohl  schon  im  ersten  Jahrhundert  in  ge¬ 
wissen  Kreisen  umgegangen  war.  Darum  ist  das  Protevangelium 
ebenso  schon  ein  Produkt  der  Marienverehrung,  als  es  dieser  Ver¬ 
ehrung  Vorschub  leistete.  In  ähnlicher  Weise  verhält  es  sich  mit 
den  übrigen  Apokryphen,  namentlich  dem  Gedichte  vom  Hingang 


281 


Mariens,  nur  dass  die  Sagen,  die  letzterem  zu  Grunde  liegen,  natur- 
gemäss  späteren  Ursprungs  sind. 

Die  versificirten  evangelischen  Abschnitte,  welche  formell  über 
den  Werth  der  poetischen  Paraphrase  nicht  hinausgehen,  tragen 
deutlich  den  Ton  ihrer  Zeit  zur  Schau  und  legen  in  den  unterschied¬ 
lichen  panegyrischen  Wendungen,  in  welche  sie  den  Namen  Mariens 
verflechten,  den  Tribut  ihrer  Verehrung  zu  den  Füssen  der  h.  Jung¬ 
frau  nieder.  Die  lyrischen  und  didaktischen  Fragmente  zeigen  das 
tiefe  Sichversenken  ihrer  Verfasser  in  das  wunderbare  Geheimniss 
jungfräulicher  Mutterschaft,  in  die  hohe  Mission  Mariens,  in  ihre  Mit¬ 
wirkung  bei  der  Erlösung;  sie  bringen  manche  innige  oder  feierliche 
Apostrophe  an  die  Gebenedeite;  auch  an  zarten  Bildern  fehlt  es 
nicht,  wie  der  Rose  ohne  Dorn  des  Sedulius,  während  die  alt- 
testamentlichen  Typen  ebenso  in  den  gelehrten  oder  praktischen 
Schriften  sich  vorfinden.  Bei  Ephräm  preist  sie  sich  selber  und 
ist  die  Verkündigerin  der  Herrlichkeit  ihres  Sohnes,  sowie  die 
Lehrerin  der  Religionsgeheimnisse.  Bei  dem  letzten  Syrer,  der 

an  der  Grenze  unserer  Periode  steht,  klingt  ihr  Lob  in  inbrünstigen 

§ 

Gebeten  aus. 

Welche  Früchte  die  altchristliche  Mariendichtung  in  den  poe¬ 
tischen  Produkten  des  Mittelalters  getragen  hat,  ist  oben  schon  an- 
gecleutet. 

Von  noch  grösserer  Bedeutung  ist  sie  für  die  Kunst,  weil  nicht 
bloss  das  Mittelalter,  sondern  auch  die  Renaissance,  ja  noch  unsere 
Zeit,  soweit  sie  religiöse  Stoffe  pflegt,  unter  ihrem  Einflüsse  steht. 
Es  will  damit  natürlich  nicht  gesagt  sein,  dass  z.  B.  die  Künstler, 
welche  eine  oder  mehrere  Scenen  aus  dem  »Marienleben«  darstellten 
und  darstellen,  unmittelbar  aus  den  Apokryphen  schöpfen.  Die 
Künstler  kennen  den  Inhalt  nicht  aus  den  ersten  Quellen,  sondern 
aus  den  zahlreichen  mittelalterlichen  oder  späteren,  poetischen  oder 
prosaischen  Umarbeitungen.  Aber  es  ist  gewiss  von  Interesse,  dass 
die  meisten  Motive  schon  in  den  ersten  Jahrhunderten  des  Christen¬ 
thums  gegeben  sind.  Die  Darstellungen  von  Joachim  und  Anna  mit 
ihren  Erlebnissen,  die  Geburt  Mariens,  die  kleine  Maria  im  Tempel, 
ihre  Vermählung,  gewisse  Züge  bei  der  Verkündigung  und  Geburt 
Christi,  bei  der  Anbetung  der  Magier  und  der  Flucht  nach  Aegypten, 
die  »Ruhe  auf  der  Flucht«,  unter  wilden  Thieren,  bei  der  Palme, 
unter  Tempeltrümmern  und  Statuentorsen,  Maria  beim  Tode  Josephs, 
endlich  Tod  und  Begräbniss  Mariens  —  all  diess  verdanken  wir 


282 


schliesslich  den  Apokryphen.  —  Maria,  als  Symbol  der  Kirche,  als 
Fürbitterin  der  Menschheit  ist  dem  darstellenden  Künstler  auch  in 
Versen  eingeprägt.  Und  hat  nicht  ein  Maler,  der  Maria  als  Teufels¬ 
besiegerin  bilden  will,  dem  Prudentius  einfach  nachzufahren,  der  die 
grünliche  Schlange  im  grünen  Grase  unter  dem  Fusse  der  Jungfrau 
sich  winden  lässt? 

Jedoch  mit  diesem  flüchtigen  Ausblick  in  die  spätere  Kunst¬ 
entwicklung  mag  es  sein  Bewenden  haben,  wir  müssen  Maria  nun 
in  der  Kunst  unserer  Periode  aufsuchen. 


Kunst. 


Prudentius  hat,  wie  wir  gesehen,  einige  religiöse  Bilder  be¬ 
schrieben,  in  welchen  auch  Maria  einen  Platz  fand:  die  Verkündigung, 
die  Anbetung  der  Hirten  und  die  Anbetung  der  Magier.  Diese  Dar¬ 
stellungen  gehörten  also  am  Ende  des  vierten  oder  am  Anfang  des 
fünften  Jahrhunderts  zu  den  Bildercylden,  mit  welchen  man  Kirchen 
oder  Gräber  zu  schmücken  pflegte. 

Doch  die  Kunst  hat  sich  schon  viel  früher  des  Marienbildes  be¬ 
mächtigt. 

Es  ist  seit  ein  paar  Decennien  nicht  mehr  nothwendig,  die  An¬ 
sicht  zu  bekämpfen,  als  seien  die  ersten  Christen  von  einem  be¬ 
sonderen  Hass  gegen  die  Kunst  erfüllt  gewesen.  Nachdem  die 
Kunstforschung  mit  Vorliebe  sich  auch  auf  die  altchristliche  Periode 
geworfen  hat,  ist  jene  Ansicht  infolge  vieler  neuer  und  durch  ein¬ 
gehendere  Würdigung  früherer  Entdeckungen  von  selbst  gefallen. 
Man  hat  auch  in  unbefangener  Erwägung  der  Verhältnisse  eingesehen, 
dass  ein  solcher  allgemeiner  Hass  geradezu  unmöglich  war.  Sobald 
nemlich  das  Christenthum  seine  palästinensische  Geburtsstätte  über¬ 
schritten  hatte  und  sich  in  der  griechisch-römischen  Kulturwelt  aus¬ 
breitete,  gewann  es  Anhänger,  bei  denen  die  Kunst  von  alten  Zeiten 
her  mit  dem  Leben  verwachsen  war.  Die  antike  Welt  war  ja  in 
allen  Gebrauchsgegenständen,  in  allem  Thun  und  Treiben  des  Tages 
so  an  künstlerische  Formen  gewöhnt,  dass  sogar  das  unbedeutendste 
Hausgeräthe  sich  künstlerisch  gestaltete.  Die  Lampe,  der  Topf,  der 
Becher,  das  Gewicht  an  der  Waage,  die  Theatermarke  waren  in 
ihrer  Art  Kunstwerke.  Dieses  Verwachsensein  mit  Kunstformen 
wurde  natürlich  durch  das  Christenthum,  das  ja  bloss  auf  Umgestal¬ 
tung  des  innersten  Menschen  drang,  nicht  gelöst;  Brauch  und  Sitte 
blieben.  Wie  schwer  es  überhaupt  ging,  diese  zu  christianisiren, 


284 


dafür  dienen  Tertullians  Schriften  »Ueber  die  Schauspiele«  und 
»Ueber  den  Bilderdienst«  zum  Beweise.  Machten  sich  doch  viele 
christlich  gewordene  Künstler  und  Handwerker  kein  Gewissen  dar¬ 
aus,  nach  wie  vor  nicht  bloss  ihr  gewohntes  Gewerbe  zu  treiben, 
sondern  sogar  die  Anfertigung  und  den  Verkauf  von  Götzenbildern 
u.  dgl.  fortzusetzen,  um  ihr  Brod  zu  verdienen.  Wegen  dieser  Aus¬ 
schreitungen  richtet  sich  der  Eifer  der  Kirchenväter  allerdings  manch¬ 
mal  gegen  die  Kunst  überhaupt;  wo  sich  diese  jedoch  von  An¬ 
klängen  an  die  Idololatrie  frei  erhielt,  blieb  sie  unangefochten.  Es 

_  # 

ist  darum  natürlich,  dass  Tertullians  Rath  an  die  Bildhauer,  »sich 

mit  Möbelschnitzereien  und  dgl.  zu  befassen« ,  und  an  die  Maler, 
»mit  Anstreicherarbeiten  ihren  Lebensunterhalt  zu  erwerben«,  nicht 
durchaus  befolgt  wurde.  Daher  blieb  nicht  bloss  die  antike  Ge¬ 
wohnheit,  Haus-  und  gottesdienstliches  Geräthe  mit  Symbolen  und 
Bildern  zu  zieren,  wie  uns  Clemens  von  Alexandrien  von  den  Siegel¬ 
ringen  1),  Tertullian  von  den  Messkelchen  2)  berichtet,  sondern  auch 
die,  das  ganze  Wohnhaus,  den  Versammlungssaal ,  die  Kirche,  das 
Grab  künstlerisch  zu  schmücken,  und  gerade  die  Gräber  sind  es,  die 
uns  die  Belege  für  die  älteste  Kunstthätigkeit  der  Christen  erhalten 
haben. 

Die  Katakomben  nun  (denn  um  diese  handelt  es  sich  zunächst, 
und  zwar,  wie  wir  sehen  werden,  nicht  hloss  um  die  römischen) 
liefern  uns  unter  den  mancherlei  tröstlichen  und  herzstärkenden 
Darstellungen  aus  der  biblischen  Geschichte,  womit  die  Ruhestätten 
der  Entschlafenen  geschmückt  wurden,  auch  eine  ziemliche  Anzahl 
von  Marienbildern. 

Die  frühesten  sind  Freskomalereien  auf  Wänden  und  Decken  von 
Grabkammern;  später,  als  auch  die  Skulptur  in  den  Dienst  der  neuen 
Religion  trat,  findet  Maria  sehr  häufig  eine  Stelle  unter  den  Reliefs 
der  Sarkophage,  und  ungefähr  zu  gleicher  Zeit  bildet  sie  auch  für 
das  Kleinkunstgewerbe  einen  Vorwurf. 

Alle  diese  Kunstleistungen  wollen  wir  der  Reihe  nach  kennen 
lernen.  Und  weil  die  Malerei  den  Reigen  der  Mariendarstellungen 
eröffnet,  so  wollen  auch  wir  zuerst  in  dem  genannten  Kunstzweige 
diese  Darstellungen  verfolgen  und  hierauf  mit  den  übrigen  Kunst¬ 
zweigen  ebenso  verfahren. 


*)  Pädag.  1.  III.  Ed.  Potter  I,  p.  289. 

2)  De  pudic.  c.  7  u.  10. 


285 


Das  Material  liefern  uns  ausser  den  älteren  Katakombenwerken 
von  Bosio1),  Aringhi2),  Bottari3),  welche  beide  letzteren  die  Kupfer¬ 
platten  Bosio’s  wieder  abdrucken  Hessen,  namentlich  G.  B.  de  Rossi, 
der  im  Jahre  1863  eine  kleine  Auswahl  von  Marienbildern  aus  den 
Katakomben  mit  vortrefflichem  Text  herausgab4),  sowie  in  seiner 
»Roma  Sotteranea«  und  in  seinem  »Bulletino  di  archeologia  cristiana« 
manches  Neue  bekannt  machte,  und  dann  R.  Garrucci,  der  in  seinem 
sechsbändigen  Foliowerke  »Storia  della  arte  cristiana«  auf  500  Tafeln 
die  altchristliche  Kunst  (mit  Ausnahme  der  Baukunst)  beinahe  er¬ 
schöpfend  zur  Anschauung  bringt.  Neuerlich  hat  Viktor  Schultze  in 
seinen  »Archäologischen  Studien  über  altchristliche  Monumente«  (Wien 
1880)  auch  eine  Abhandlung  über  die  »Marienbilder  der  altchristlichen 
Kunst«  veröffentlicht,  der  ein  »Verzeichniss  der  altchristlichen  Marien¬ 
bilder«  beigegeben  .ist  (das  erste  umfassende  Verzeichniss  der  Art), 
worauf  wir  gebührende  Rücksicht  nehmen.  Andere  Werke  zu  nennen, 
woraus  wir  geschöpft  haben,  ist  überflüssig  und  hier  nicht  der  Ort; 
manche  werden  gelegentlich  citirt  werden.  Von  den  Originalen 
haben  wir  vor  einer  Reihe  von  Jahren  auf  einer  Reise  durch  Süd¬ 
frankreich  und  Italien  mehrere,  aber  bei  weitem  nicht  alle  gesehen. 
Was  wir  an  Photographieen  nach  Originalen  uns  verschaffen  konnten, 
ist  für  die  Abbildungen  verwendet.  Die  Abbildungen  führen  die 
Nummern  der  Beschreibungen;  bei  letzteren  ist  immer  die  Tafel  an¬ 
gegeben,  auf  der  sich  die  Zeichnung  befindet. 

Malerei. 

Das  älteste  Marienbild  erkennt  Rossi  in  einem  Freskogemälde 
in  der  Katakombe  der  heil.  Priscilla,  das  er  im  Jahre  1851  zum 
ersten  Male  sah.  Das  Bild  befindet  sich  auf  der  rechten  Seite  der 
Wölbung  einer  Grabnische.  Links  darüber  ist  der  gute  Hirte  dar¬ 
gestellt;  die  Malerei  der  linken  Hälfte  der  Wölbung  ist  zerstört. 
An  der  Wand  unterhalb  dieses  Bogens  ist  rechts  von  dem  Grabe  ein 
»zeigender  Mann«  kaum  noch  erkennbar,  links  von  dem  Grabe  drei 
Figuren  neben  einander,  ein  Mann,  eine  Frau  und  ein  Kind,  gemalt, 


0  Roma  Sotterranea,  herausgeg.  von  Severano.  Rom  1632. 

2)  Roma  Subterranea.  Rom  1651. 

3)  Sculture  e  Pitture  Sacre  etc.  Rom  1737 — 1754. 

4)  Imagines  selectae  Deiparae  Virginis.  Rom  1863. 


286 


von  welch  letzterem  die  obere  Hälfte  zerstört  ist.  Der  Mann  und 
die  Frau  sind  in  der  Gebetstellung  (mit  aufgehobenen  und  aus¬ 
gebreiteten  Händen).  Rossi  liess  die  Malerei  durch  einen  geschickten 
Künstler  copiren,  die  Gruppe  der  Gottesmutter  mit  dem  Propheten 
noch  extra  in  natürlicher  Grösse,  und  gab  sie  in  Farbendruck  heraus. 
Unsere  Abbildung  ist  nach  einer  photographischen  Reduktion  dieses 
Farbendruckes  angefertigt. 


1. 

Freskogemälde  in  der  Katakombe  der  h.  Priscilla.  (Taf.  I.) 

Maria,  ohne  Zweifel  sitzend  zu  denken  (die  untere  Partie  des 
Rüdes  ist  grösstentheils  zerstört),  hält  das  nackte  Kind  an  der  Brust. 
Sie  ist  in  eine  weisse  Tunika  mit  kurzen  Aermeln  gekleidet  und  trägt 
einen  weissen  Schleier  über  den  gescheitelten  braunen  Haaren.  Vorn 
über  ihrem  Haupte  ist  der  Stern  sichtbar.  Links  steht  ein  junger 
Mann  mit  braunen  Haaren,  nur  mit  dem  weisslichen  Pallium  be¬ 
kleidet,  aber  so,  dass  die  rechte  Schulter  und  der  rechte  Arm  frei 
bleibt.  In  der  linken  Hand  hält  er  eine  Rolle,  mit  der  rechten  zeigt 
er  sowohl  auf  die  Jungfrau  als  auch  auf  den  Stern,  wie  Rossi  er¬ 
klärt,  oder  er  begleitet  damit  seine  Anrede,  wie  Garrucci  will.  Es 
ist  der  Prophet  Jesaias,  der  mehrmals  auf  das  neue  Licht  hinweist, 
das  aufgehen  wird  x).  So  erklärt  Rossi 2).  Garrucci  dachte  anfangs 
an  eine  Personifikation  der  Prophetie  des  Bileam:  »Ein  Stern  geht 
auf  aus  Jakob  u.  s.  w.«  3),  lässt  aber  diese  Deutung  fallen  in  An¬ 
betracht  dessen,  dass  der  Prophet  eigentlich  nicht  den  Gestus  des 
Zeigens  (namentlich  nicht  auf  zwei  Dinge  zu  gleicher  Zeit)  mache, 
sondern  des  Redens.  Schultze  4)  erkennt  in  der  Figur  den  h.  Joseph 
und  sieht  in  dem  Bilde  eine  »innerhäusliche  Scene«. 

Das  Gesicht  Mariens  bildet  ein  liebliches  Oval  und  hat  edle, 
regelmässige  Züge.  Die  grossen  Augen  sind  von  schön  geschwungenen 
Brauen  überwölbt,  unter  der  geraden  Nase  scheint  sich  der  kleine 
Mund  zu  einem  leisen  Lächeln  verziehen  zu  wollen,  wenn  anders  er 
nicht  dem  rasch  arbeitenden  Freskomaler  oder  auch  dem  Kopisten 
ein  wenig  schief  gerathen  ist.  Ein  milder  Ernst  spricht  aus  diesen 

*)  Is.  IX,  2;  LX,  2,  3,  19. 

2)  Imagines  sei.,  Text,  p.  8. 

3)  IV.  Mos.  XXIV,  17. 

4)  S.  191. 


287 


Zügen  und  das  gedankenvolle,  etwas  repräsentative  Herausschauen 
aus  dem  Bilde  lässt  die  Annahme  nicht  zu,  dass  sie  in  traulichem 
Gespräche  mit  dem  anredenden  Mann  begriffen  sei.  Ihr  Oberkörper 
ist  leise  vorn  übergeneigt,  und  diese  Haltung  erinnert  in  ganz  un¬ 
gesuchter  Weise  an  die  Haltung  mancher  Madonnen  aus  der  Blüthe 
der  Renaissance.  Rossi  war  entzückt  über  die  klassische  Schönheit 
des  Bildes,  dessen  Original  von  der  Copie,  so  gut  sie  auch  sei,  nicht 
erreicht  werde,  und  macht  eine  Reihe  von  Gründen  geltend,  welche 
zu  hoher  Wahrscheinlichkeit  erheben,  dass  das  Kunstwerk  der  ersten 
Hälfte  des  zweiten,  wenn  nicht  gar  dem  ersten  Jahrhundert  angehöre. 
Schultze  glaubt  es  zwischen  150  und  170  setzen  zu  müssen.  So 
viel  ist  sicher,  dass  das  Bild  nicht  bloss  das  älteste,  sondern  auch, 
und  gerade  desswegen,  das  schönste  Marienbild  der  Katakomben  ist. 
Es  zeigt  unter  allen  noch  am  meisten  die  klassische  Tradition  1). 

Diesem  ältesten  Bilde  reihen  wir  ein  anderes,  längst  bekanntes 
an,  das  zwar  chronologisch  nicht  das  nächste  ist,  aber  eine  Eigen- 
thümlichkeit  mit  ihm  theilt,  welche  sich  bei  den  Fresken  sonst  nicht 
mehr  findet.  Es  ist  nemlich  der  Mutter  mit  dem  Kinde  hier  eben¬ 
falls  eine  Prophetenfigur  beigegeben. 

2. 

Freskogemälde  in  der  Katakombe  der  h.  Domitilla,  auf  einer 
Wand  über  einem  Arkosolium  (Grab  unter  einem  Bogen),  auf  dessen 
Lünette  Orpheus  dargestellt  ist.  (Taf.  I.) 

Maria  sitzt  auf  einem  Lehnsessel,  gegen  rechts  gewendet.  Sie 
ist  mit  Tunika  und  Mantel  bekleidet  und  hat  blossen  Kopf  und 
blosse  Füsse.  Auf  dem  Schoosse  hält  sie  den  mit  Tunika  bekleideten 
Christusknaben,  der  die  rechte  (jetzt  zerstörte)  Hand  erhebt.  Was 
unmittelbar  rechts  von  der  Gruppe  gemalt  war  (wahrscheinlich  die 
mit  ihren  Geschenken  herbeikommenden  Magier),  ist  zerstört.  Auch 
der  oberste  Theil  des  Kopfes  der  Maria  ist  durch  ein  später  ein¬ 
gebrochenes  Grab  zerstört.  Hinter  Maria  ist  ein  Bauwerk,  wohl  die 


0  Rossi,  Imag.  sei.  T.  1;  Garrucci,  Storia  etc.  Prato  1872  ff.  Tav.  81,  2; 
Schultze,  Verz.  Nr.  1.  Das  Bild  ist  sonst  noch  mehrfach  veröffentlicht,  z.  B.  von 
der  Chromolithographia  Pontificia  in  kleinem  Format,  darnach  von  Kraus,  Roma 
Sotter.  Taf.  IV,  1;  von  Martigny,  Dictionn.  des  antiq.  ehret,  »la  Ste.  Vierge« ; 
Rossi,  bullet.  1865,  p.  27  u.  s.  w.  Auch  der  grösste  Theil  der  folgenden  Bilder 
ist  in  verschiedenen  Büchern  veröffentlicht.  Wir  werden  aber  immer  nur  ein 
oder  das  andere  Hauptwerk  citiren. 


288 


Stadt  Bethlehem  bedeutend,  durch  ein  paar  Striche  angedeutet.  Links 
hinter  der  Gruppe  steht  eine  langhaarige  bärtige  Figur  in  Tunika  und 
Pallium,  welche  die  rechte  Hand,  die  Rede  begleitend,  erhebt.  In 
dieser  Figur  sehen  Rossi  und  Garrucci  einen  Propheten,  wahrschein¬ 
lich  Jesaias  :),  oder  auch  Micha,  von  dem  das  bekannte  Wort  stammt: 
»du  Bethlehem  im  Lande  Juda,  du  bist  nicht  die  geringste  u.  s.  w.« *  2) 
Dem  Propheten  gegenüber,  rechts  von  der  zerstörten  Partie  ist  Moses, 
das  Wasser  aus  dem  Felsen  schlagend,  dargestellt. 

Das  Bild  stammt  aus  dem  dritten  Jahrhundert.  Es  ist,  wie 
oben  angedeutet,  schon  von  dem  ersten  Katakombenforscher  Bosio 
entdeckt  worden  und  in  den  alten  Katakombenwerken  auch  abge¬ 
bildet.  Doch  macht  die  Abbildung  bei  Garrucci ,  nach  welcher  die 
unserige  angefertigt  ist,  den  Anspruch  grösserer  Treue.  Es  muss 
übrigens  jetzt  von  dem  Oberkörper  sowohl  der  Mutter  als  des  Kindes 
überhaupt  nicht  mehr  viel  zu  sehen  sein,  wesswegen  auch  Rohault 
de  Fleury  in  seinem  Werke  über  die  heilige  Jungfrau  diese  Partieen 
mit  punktirten  Linien  behandelt  3). 

Ehe  wir  zu  einer  Reihe  von  Darstellungen  übergehen,  welche 
dieselbe  Scene  aus  dem  Leben  der  h.  Jungfrau,  die  Anbetung  der 
Magier,  vorführen,  die  höchst  wahrscheinlich  auch  auf  dem  eben  be¬ 
sprochenen  Bilde  ursprünglich  zu  sehen  war,  müssen  wir  noch  ein¬ 
mal  zu  der  Katakombe  der  heiligen  Priscilla  zurückkehren ,  wo  in 
zwei  verschiedenen  Grabkammern  noch  zwei  eigenthiimliche  Bilder 
zu  betrachten  sind.  Das  ältere  derselben,  das  dem  zweiten,  höchstens 
dem  Anfang  des  dritten  Jahrhunderts  angehört,  ist  das  folgende: 

3. 

Freskogemälde  in  der  Katakombe  der  h.  Priscilla.  (Taf.  I.) 

Auf  der  linken  Seite  sitzt  ein  bärtiger  Mann,  mit  der  Dalmatika 
und  dem  Pallium  darüber  bekleidet,  auf  einem  hohen  Lehnstuhl,  im 
Begriffe,  einem  jungen  Mädchen  zuzureden,  welches  rechts  von  ihm 
steht  und  ihm  zuhört.  Sie  hält  mit  beiden  Händen  eine  Binde. 
Rechts  hinter  ihr  steht  ein  Mann  mit  Tunika  und  Pallium  bekleidet, 
der  in  den  Händen  einen  Schleier  ausgespannt  hält.  Der  Mann  auf 


!)  Rossi,  Imag.  p.  8. 

2)  Mich.  V,  1;  Matth.  II,  6. 

3)  Bosio,  p.  255;  Aringhi  I,  p.  563;  Bottari,  T.  71;  Garrucci,  Tav.  30; 
Schultze,  Nr.  3;  Rohault  de  Fleury,  La  sainte  Vierge,  2  vol.  in  4°,  Paris  1878,  pl.  80- 


289 


dem  Lehnstuhl  zeigt  mit  der  rechten  Hand  auf  eine  junge  Frau,  die 
gegenüber  auf  der  rechten  Seite  des  Bildes  auf  einem  niederen  Lehn¬ 
stuhl  sitzt,  mit  der  Dalmatika  bekleidet  ist  und  ein  nacktes  Kind 
am  Busen  hält.  In  der  Mitte  steht  eine  betende  Frau  im  Vorder¬ 
gründe,  bekleidet  mit  Tunika,  Dalmatika  und  Schleier,  dessen  eines 
Ende  über  die  linke  Brust  fällt  und  mit  Fransen  besetzt  ist.  Von 
diesen  Personen  ist  nur  die  junge  Mutter  barfuss.  Sie  ist  unverschleiert 
und  trägt  die  Haare  gescheitelt  und  nach  rückwärts  genommen,  wie 
auch  das  junge  Mädchen,  das  vor  dem  Greise  steht.  Dieser  Greis 
ist  ein  Pabst,  der  einer  Jungfrau  den  Schleier  verleiht  und  sie  er¬ 
mahnt,  in  ihrem  neuen  Stande  die  heilige  Jungfrau  nachzuahmen.  Der 
Mann,  der  hinter  dem  Mädchen  steht,  ist  der  Archidiakon ,  der  den 
Schleier  bereit  hält.  Die  jungfräuliche  Binde  oder  Mitra  will  das 
Mädchen  sich  selber  um  den  Kopf  binden.  Die  in  der  Mitte  stehende 
Frau  könnte  wohl  für  dieselbe  gehalten  werden,  deren  Consecration 
das  Bild  darstellt.  So  Garrucci.  Schon  Bosio  hält  die  Mutter  mit 
dem  Kinde  für  Maria  und  Jesus,  ebenso  Aringhi,  während  Bottari 
darin  die  Abbildung  einer  hier  Begrabenen  erblickt.  Rossi  sagt, 
Bottari  habe  sehr  unrecht,  hier  einfache  Familienporträts  zu  erblicken, 
die  Grabkammern  im  Coemeterium  der  h.  Priscilla  enthalten  keine 
häuslichen  Scenen  der  Art,  sondern  heilige  und  symbolische,  daher 
sei  in  der  jungen  Mutter  die  Gottesmutter  zu  erblicken  x).  Die 
Schüler  Piossis,  überhaupt  die  neueren  Archäologen  stimmen  dieser 
Ansicht  bei.  Wohl  mit  Becht.  Wir  haben  ja  auch  oben  gesehen, 
dass  Maria  von  den  Kirchenvätern  häufig  den  Jungfrauen  als  nach¬ 
ahmungswürdiges  Beispiel  vorgestellt  wird.  Freilich  hatten  wir  keine 
Stelle  aufzuführen,  die  älter  oder  auch  nur  so  alt  wäre,  als  unser 
Bild.  Doch  ist  der  Gedanke  im  vierten  Jahrhundert  ein  so  ge¬ 
läufiger,  dass  es  nicht  allzusehr  auffallen  könnte,  denselben  auch 
früher  bildlich  dargestellt  zu  sehen.  —  Schultze  glaubt,  das  Mädchen 
vor  dem  Greise  habe  keine  Binde,  sondern  eine  Buchrolle  in  der 
Hand  und  der  junge  Mann  hinter  ihr  halte  keinen  Schleier,  sondern 
einen  Zipfel  seines  eigenen  Gewandes.  Er  meint,  das  Gemälde  stelle 
irgend  eine  Familienscene  dar,  die  zu  verstehen  uns  freilich  die  Mittel 
fehlen *  2).  Der  neueste  Erklärer ,  Abbe  V.  Davin  sieht  darin  drei 


9  Imag.  sei.  p.  10  u.  11. 

2)  S.  183. 

Dehner,  Die  Marienverehrung. 


19 


290 


Scenen  aus  der  Geschichte  der  Susanna  1).  Auch  Kraus  lässt  neuestens 
die  Beziehung  auf  Maria  fallen  1). 

Unsere  Abbildung  ist  der  Abhandlung  Davin’s,  welche  eine 
Photographie  Parker’s  reproducirt,  entnommen. 

Etwas  jünger,  etwa  der  Mitte  des  dritten  Jahrhunderts  ange¬ 
hörend,  ist  das  andere 

4. 

Freskogemälde  in  der  Katakombe  der  h.  Priscilla  (Decken¬ 
gemälde).  (Taf.  I.) 

Auf  einem  Lehnstuhl  mit  Fussbänkchen  sitzt  eine  junge  Frau, 
mit  Tunika  und  Pallium  bekleidet  und  den  Schleier  tragend.  Sie 
ist  nach  rechts  gewendet,  lässt  die  rechte  Hand  auf  der  Stuhllehne 
ruhen  und  bewegt  leicht  die  linke.  Sie  schaut  zur  Erde.  Rechts 
vor  ihr  steht  ein  junger  Mann,  mit  Dalmatika  und  Pallium  bekleidet, 
das  er  mit  der  linken  Hand  heraufhält,  während  er  die  rechte  gegen 
die  Frau  ausstreckt. 

Schon  Bottari  vermuthete  in  dem  Bild  eine  Darstellung  der 
Verkündigung.  Unter  den  Neueren  »zweifelt«  Garrucci  »nicht  daran«, 
und  mit  ihm  stimmen  Rossi 2)  und  die  übrigen  Katakombenkenner 
überein  mit  Ausnahme  von  Schultze3),  der  auch  hier  eine  einfache 
Familienscene  sieht,  und  Davin,  der  darin  Susanna  und  Christus 
erkennt 4). 

Wir  geben  die  Abbildung  nach  Bosio,  der  auch  bei  Garrucci 
copirt  ist 5). 

Wir  haben  nun,  wie  oben  angedeutet,  eine  Reihe  von  Dar¬ 
stellungen  zu  betrachten,  die  die  Anbetung  der  Magier  zum  Gegen¬ 
stand  haben.  Sie  haben  alle  das  Gemeinsame,  dass  die  Figur  der 
h.  Jungfrau  im  Allgemeinen  überall  in  der  nemlichen  Stellung  vor¬ 
kommt.  Sie  ist  sitzend  gemalt,  und  hat  das  Kind  auf  dem  Schooss. 
Bei  den  Magiern  finden  sich  Varianten.  Allermeistens  zwar  sind 


9  Bosio  p.  549;  Aringhi  II,  p.  305;  Bottari  T.  180;  Garrucci  Tav.  78,  1. 
Abbe  V.  Davin  in  der  Revue  de  l’art  chretien,  1880,  Tome  29,  p.  151,  pl.  XIV. 
Kraus,  Recension  von  Schultze’s  Buch  in  der  »Literarischen  Rundschau«  von 
Stamminger  1881,  Nr.  2,  Spalte  50. 

2)  Imag.  sei.  p.  11. 

3)  S.  184. 

4)  Revue  de  l’art  ehret.  1880,  Tome  XXIX,  p.  145. 

5)  Bosio  p.  541;  Aringhi  II,  p.  297;  Bottari,  T.  176;  Garrucci  Tav.  75,  1. 


291 


es  ihrer  drei  und  diese  Zahl  hat  sich  ohne  Zweifel  nach  den  dreierlei 
Geschenken,  von  welchen  im  Evangelium  die  Rede  ist,  dem  Golde, 
dem  Weihrauch  und  der  Myrrhe  gerichtet.  So  präsentirt  sich  die 
Composition  schon  in  einer  der  ältesten  Grabkammern  der  Kata¬ 
komben  überhaupt,  in  dem  unseres  Wissens  nicht  edirten,  weil 
mangelhaft  erhaltenen 

5. 

Freskogemälde  in  der  sogenannten  »griechischen  Kapelle«  der 
Katakombe  der  heil.  Priscilla. 

Maria  sitzend  mit  dem  Kinde  auf  dem  Schoosse ;  dabei  die  drei 
Magier,  ihre  Geschenke  bringend  1). 

Doch  schwankt  die  Anzahl  der  Magier  auf  den  ältesten  Bildern. 
Auf  dem  folgenden,  welchem  Rossi  in  seinem  Text  zu  den  »Aus¬ 
gewählten  Bildern«  Mariens  die  zweite  Stelle  anweist  und  das  er 
etwa  der  ersten  Hälfte  des  dritten  Jahrhunderts  zutheilt 2),  während 
Schultze  3)  es  in  den  Anfang  des  vierten  Jahrhunderts  versetzt,  sind 
es  ihrer  vier.  Jedoch  merkt  man  noch  an  gewissen  in  den  Stuck 
eingeritzten  Linien,  dass  der  Künstler  anfänglich  drei  zu  malen  im 
Sinne  hatte,  wobei  dann  auf  die  eine  Seite  der  heiligen  Jungfrau 
zwei,  auf  die  andere  einer  zu  stehen  gekommen  wäre.  Offenbar 
kam  ihm  dann  die  Composition  zu  unsymmetrisch  vor  und  er  ent- 
"warf  sie  noch  einmal  in  der  noch  erhaltenen  Weise. 

6. 

Freskogemälde  in  der  Katakombe  der  heiligen  Domitilla,  auf 
einer  Wand  zwischen  zwei  Gräbern.  (Taf.  II.) 

Maria  sitzt  mit  dem  Kinde  auf  dem  Schoosse  auf  einem  Lehn¬ 
stuhl  in  der  Mitte  zwischen  vier  Magiern,  von  denen  zwei  auf  jeder 
Seite  herankommen.  Die  Magier  haben  die  »phrygische  Tracht«  — 
kurze  Tunika,  Mantel,  Hosen,  phrygische  Mütze  — ,  welche  mit 
geringen  Modifikationen  auf  allen  ähnlichen  Darstellungen  wiederkehrt. 
Maria  ist  in  eine  gelbe  Dalmatika  mit  purpurblauen  Streifen  gekleidet 
und  hat  einen  weissen  Schleier.  Das  Kind  hat  eine  gelbe  Tunika 


9  Rossi,  Imag.  sei.  p.  10;  Garrucci,  Text  zu  Tav.  80,  p.  85,  a;  Davin,  »la 
capella  greca«  in  Corblet,  revue  de  l’art  chretien,  Tome  XXI,  p.  289  ff, 

2)  Imag.  sei.  p.  21. 

3)  p.  201. 


292 


mit  dunklem  Saume  an  den  Aermeln  und  vier  dunklen  Scheibchen, 
»calliculae«  (auf  den  Schultern  und  über  dem  untern  Saume)  besetzt. 
Der  Lehnsessel  ist  roth.  Maria  sitzt  beinahe  en  face,  doch  etwas 
nach  links  gewendet,  die  rechte  Hand  zum  Grusse  ausstreckend. 
Auch  das  Kind  streckt  das  rechte  Händchen  aus.  Die  Züge  der 
h.  Jungfrau  sind  natürlich  nach  der  beigegebenen  Zeichnung  nicht 
zu  beurtheilen.  Auf  der  zweiten  Tafel  der  Rossi’schen  Publikation 
aber  ist  die  Gruppe  der  Mutter  mit  dem  Kinde  in  Originalgrösse 
copirt  und  da  lässt  sich  denn  erkennen,  dass  die  Gesichtszüge  nicht 
minder  edel  gemeint  sind,  als  auf  dem  ältesten  Bilde.  Aber  dem 
Künstler  stand  weder  das  Talent  noch  die  Geschicklichkeit  seines 
Vorgängers  zu  Gebot.  Ganz  anders  ist  die  Haltung  und  der  Aus¬ 
druck.  Maria  wirft  den  Kopf  ein  wenig  zurück  und  schaut  halb 
überrascht,  halb  erwartungsvoll  den  Dingen  entgegen,  die  da  kommen 
sollen,  obwohl  sie  offenbar  von  dem  bevorstehenden  Besuche  schon 
unterrichtet  war  und  sich  für  denselben  in  eine  gewisse  feierliche 
Positur  gebracht  hat.  Unsere  Abbildung  ist  nach  der  Rossi’schen 
Tafel  III  angefertigt x). 

Nur  zwei  Magier  zeigt  ein  anderes  Bild,  dessen  Entstehung 
Rossi  etwa  in  die  zweite  Hälfte  des  dritten  Jahrhunderts  setzt, 
Schultze  dagegen  für  bedeutend  früher  erklärt,  als  das  vorhergehende. 
Es  ist  ein 

7. 

Freskogemälde  in  der  Katakombe  der  HH.  Marcellinus  und 
Petrus.  (Taf.  II.) 

In  der  Mitte  sitzt  Maria,  ohne  Schleier,  in  weisser,  dunkel¬ 
gestreifter  Tunika  auf  einem  gelblich -bräunlichen  Lehnsessel,  nach 
links  gewandt,  und  hält  das  bekleidete  Kind  in  den  Armen.  Ihre 
bräunlichen  Haare  sind  über  der  Stirne  in  zwei  Knoten  geschlungen 
und  nach  rückwärts  genommen.  Sie  kreuzt  die  nackten  Fiisse  auf 
dem  Boden.  Die  Stellung  des  Oberkörpers  ist  beinahe  en  face.  Von 
jeder  Seite  kommt  ein  Magier  herbei  mit  einer  Platte  in  den  Händen. 
Auf  der  einen  scheint  unter  andern  Dingen  auch  eine  Puppe  zu 
liegen.  Ueber  Gesichtszüge  und  Ausdruck  der  jungen  Mutter  ist  bei 
der  Kleinheit  der  Copie  wenig  zu  sagen.  Es  scheinen  regelmässige 
Züge  und  ernste  Milde  beabsichtigt  zu  sein ;  auch  scheint  Maria  den 


9  Rossi,  Imag.  sei.  Tab.  II  et  III;  Garrucci  Tav.  36,  1;  Schultze  Nr.  7. 


293 


Blick  zu  Boden  zu  schlagen  (letzteres  auf  Garruccis  Abbildung 
nicht).  Unsere  Zeichnung  ist  nach  der  Rossi’schen  Tafel  V  ange¬ 
fertigt  J). 

Die  gewöhnliche  Anzahl  von  drei  Magiern  zeigen  die  folgenden 
Bilder,  von  denen  die  zwei  ersteren  schon  von  Bosio  entdeckt  wurden. 
Die  Stellung  der  h.  Jungfrau  hat  mit  dem  vorhergehenden  Bilde 
grosse  Aehnlichkeit.  Sie  sitzt  überall  in  gleicher  Weise  nach  links 
gewendet  und  hat  die  Füsse  gekreuzt.  Bei  den  beiden  zunächst 
folgenden  ist  auch  die  Frisur  der  Maria  beinahe  die  gleiche,  wie  bei 
dem  vorhergehenden.  Diese  Frisur  tragen  übrigens  auch  die  Frauen 
auf  den  Gastmahlsbildern  der  Petrus-Marcellinuskatakombe*  2)  und 
andere  Frauenbilder,  so  dass  man  auf  den  Gedanken  geräth,  die 
Künstler  hätten  sich  bei  diesen  Darstellungen,  welche  chronologisch 
nicht  weit  von  einander  entfernt  sind,  nach  einer  herrschenden  Mode 
gerichtet.  Einige  Erklärer  glauben,  dass  durch  den  Mangel  des 
Schleiers  die  Jungfräulichkeit  der  Mutter  habe  betont  werden  wollen. 

8. 

Freskogemälde  auf  der  rechten  Seite  der  Wölbung  eines  Arko- 
soliums  in  der  Katakombe  der  h.  Domitilla.  Oben,  in  der  Mitte 
des  Bogens  ist  der  gute  Hirte  zwischen  vier  Scenen  aus  der  Ge¬ 
schichte  des  Jonas,  links  unten,  unserem  Bilde  gegenüber,  sind  die 
drei  ebräischen  Jünglinge  vor  der  Büste  des  Nabuchodonosor  3)  dar¬ 
gestellt.  (Taf.  II.) 

Maria  sitzt  auf  der  rechten  Seite  auf  einem  Lehnstuhl,  nach 
links  gewendet.  Sie  ist  mit  Tunika  und  Mantel  bekleidet  und  be¬ 
schuht.  Der  Kopf  ist  unbedeckt,  das  Haar  über  der  Stirn  in  zwei 
Knoten  geschlungen  und  fällt  gelockt  über  den  Nacken.  Sie  neigt 
das  Haupt  leicht  nach  vorn.  Auf  dem  Schooss  hält  sie  den  nackten 
Knaben,  der  mit  dem  rechten  Händchen  nach  dem  geschlossenen 
Kästchen  greift,  das  der  vorderste  der  drei  Magier  darbietet.  Auch 
die  beiden  übrigen  Magier  tragen  ähnliche  Kästchen.  Sie  sind  ohne 
Mantel  und  haben  Sporen  an  den  Stiefeln.  Das  Bild  stammt  aus 
dem  Ende  des  dritten  Jahrhunderts.  Unsere  Abbildung  ist  Rossi’s 
Roma  Sotteranea  entnommen;  deren  Tafel  10,  2  des  dritten  Bandes 


9  Rossi,  Imag.  T.  V;  Garrucci  Tav.  58,  2;  Schultze  Nr.  2. 

2)  Garrucci  T.  45,  1;  47,  1;  56,  1,  2;  57,  2. 

3)  Daniel  III,  12. 


294 


mit  Garruccis  Zeichnung  übereinstimmt,  und  von  der  älteren  bei 
Bosio  u.  s.  w.  sich  wesentlich  unterscheidet x). 

9. 

Freskogemälde  an  der  rechten  Seite  des  Eingangs  in  eine  Grab¬ 
kammer  der  Katakombe  der  HH.  Marcellinus  und  Petrus.  Unterhalb 
der  Gruppe  ist  Moses,  das  Wasser  aus  dem  Felsen  schlagend,  dar¬ 
gestellt.  Gegenüber  auf  der  linken  Seite  des  Eingangs  eine  betende 
Frau  zwischen  zwei  ihre  Arme  unterstützenden  (?)  Männern,  darunter 
der  Sündenfall.  (Taf.  II.) 

Rechts  sitzt  Maria,  gekleidet  in  eine  lange,  die  gekreuzten  Ftisse 
beinahe  ganz  verdeckende,  Dalmatika  mit  Purpurstreifen,  auf  einem 
Lehnsessel  und  hält  das  nackte  Kind  auf  dem  Schoosse.  Das  Haupt 
ist  unbedeckt,  das  Haar  über  der  Stirne  in  zwei  Knoten  geschlungen 
und  nach  rückwärts  genommen.  Die  Stellung  ist  halb  en  face,  halb 
nach  links  hin,  gegen  die  drei  Magier  gewendet.  Diese  (ohne  Mantel) 
kommen  von  links  her,  einer  hinter  dem  andern  und  bringen  ihre 
Gaben  auf  Platten.  Der  vorderste  trägt  einen  (goldenen?)  Kranz 
auf  seiner  Platte.  Das  Bild  stammt  aus  dem  Ende  des  dritten  oder 
dem  Anfang  des  vierten  Jahrhunderts.  Die  Madonna  erinnert  an 
Nr.  7.  Unsere  Zeichnung  ist  den  alten  Katakomben  werken  ent¬ 
nommen *  2). 

10. 

Freskogemälde  auf  der  Wand  einer  Grabkammer  in  dem  Coe- 
meterium  des  Thraso  und  Saturninus.  (Taf.  II.) 

Maria  sitzt  rechts  auf  einem  hohen  Lehnstuhl  mit  Fussbänkchen. 
Sie  ist  in  die  Tunika  gekleidet  und  trägt  den  Schleier,  der  über  den 
Rücken  fällt.  Auf  dem  Schoosse  hält  sie  das  in  die  Tunika  gekleidete 
Kind  und  streckt  die  rechte  Hand  den  von  links  her  kommenden  drei 
Magiern,  die  hier  wieder  mit  dem  Mantel  bekleidet  sind,  entgegen. 

Die  Gruppe  ist  von  mehreren  andern  biblischen  Scenen  um¬ 
geben.  Unmittelbar  links  davon  Christus,  die  Brode  vermehrend, 
weiterhin  oben  Moses,  Wasser  aus  dem  Felsen  schlagend,  darunter 


0  Bosio  p.  279;  Aringhi  I,  p.  587;  Bottari  T.  82;  Rossi,  R.  S..  Bd.  III, 
T.  10,  2;  Garrucci  Tav.  35,  2;  Schultze  Nr.  5. 

2)  Bosio  p.  389;  Aringhi  II,  p.  117;  Bottari  T.  126;  Garrucci  Tav.  55,  2; 
Schultze  Nr.  4. 


295 


Daniel  in  der  Löwengrabe.  Rechts  hinter  Maria  ein  Mann  zwischen 
zwei  Knaben  in  Gebetstellung  (ohne  Zweifel  die  hier  Begrabenen 
vorstellend),  weiterhin  Noah  im  Kasten,  darunter  die  Auferweckung 
des  Lazarus.  Unterhalb  der  Anbetung  der  Magier  zwei  Scenen  aus 
der  Geschichte  des  Tobias.  Die  Malerei  stammt  aus  dem  Ende  des 
dritten  oder  dem  Anfang  des  vierten  Jahrhunderts.  Unsere  Abbildung 
nach  Garrucci 1). 

11. 

Freskogemälde  in  der  Katakombe  der  heil.  Soteris.  (Taf.  II.) 

Rechts  sitzt  Maria  mit  gekreuzten  Beinen  auf  einem  Lehnstuhl; 
gekleidet  in  eine  bräunlich-gelbliche  Dalmatika,  mit  zwei  dunklen 
Streifen  der  Länge  nach  und  am  Saume  der  Aermel  geschmückt, 
und  mit  weissem  Schleier.  Sie  hält  das  in  eine  Tunika  von  ähn¬ 
licher  Farbe  gekleidete  Kind  auf  dem  Schoosse.  Die  rechte  Hand 
streckt  sie  grüssend  nach  den  Magiern  aus,  welche  von  links  her 
schreitend  ihre  Geschenke  auf  Platten  bringen.  Das  Gemälde  befindet 
sich  links  unten  an  der  Wölbung  eines  Arkosoliums. 

Ihm  gegenüber  am  rechten  Ende  des  Bogens  ist  Christus  mit  der 
Samaritin  (wie  Rossi  will),  oder  Christus  mit  Maria  auf  der  Hochzeit  zu 
Kana  (wrie  es  uns  scheint.  S.  Nr.  19).  In  der  Mitte,  oben  am  Bogen, 
ist  der  gute  Hirte  zwischen  zwei  Schafen  zu  sehen.  Das  Gemälde  ist 
nicht  gut  erhalten.  Martigny  gibt  es  in  Holzschnitt  nach  einer  ver¬ 
schönernden  Copie  des  Lateranmuseums  in  seinem  Dictionnaire  des 
antiquites  chrdtiennes 2).  Es  stammt  nach  Rossi 3)  aus  dem  Ende 
des  dritten  oder  dem  Anfang  des  vierten  Jahrhunderts.  Unsere 
Zeichnung  ist  nach  dem  Farbendruck  bei  Rossi  angefertigt4). 

Rossi  gibt  nun  noch  von  mehreren  Darstellungen  ähnlicher  Art 
Nachricht.  Wir  wollen  sie  kurz  aufzählen. 


12. 

Freskogemälde  in  der  Katakombe  der  heil.  Balbina. 


9  Garrucci,  Tav.  78,  2;  Schultze  Nr.  6. 

2)  Neue  Ausgabe  1877,  S.  442. 

3)  R.  S.  Bd.  III,  p.  66. 

4)  Rossi  R.  S.,  Bd.  III,  Tav.  8;  Schultze  Nr.  8. 

Rohault  de  Fleury  gibt  in  grösserem  Format  die  Mutter  mit  dem  Kinde  ohne 
die  Magier.  In  derselben  Weise  gibt  er  auch  die  Madonnen  Nr.  1,  2,  6,  7. 
S.  Table  78—82. 


296 


Maria  mit  dem  Kinde  und  die  drei  Magier;  aus  dem  vierten 
Jahrhundert.  Rossi  bringt  keine  Abbildung * 2 3  4). 

13. 

Freskogemälde  in  der  Katakombe  der  heil.  Domitilla. 

Rechts  sitzt  Maria  mit  dem  Kinde  auf  einem  Lehnstuhl,  nach 
links  gewendet.  Von  links  her  kommen  die  drei  Magier  hinter  ein¬ 
ander  mit  ihren  Gaben.  Sehr  verwischt,  insbesondere  Maria,  wess- 
halb  wir  Rossi’s  Abbildung  nicht  copiren  Hessen  2). 

14. 

Freskogemälde  in  der  Katakombe  der  heil.  Domitilla. 

Maria  mit  dem  Kinde  und  die  drei  Magier.  Schlecht  erhalten  3). 

15. 

Freskogemälde  in  der  Katakombe  der  heil.  Domitilla. 

Maria  mit  dem  Kinde  und  den  drei  Magiern.  Bis  zur  Unkennt¬ 
lichkeit  verwischt.  Aus  dem  Ende  des  vierten  oder  dem  Anfang 
des  fünften  Jahrhunderts  stammend4). 

Vielleicht  ist  eine  der  beiden  letzten  Nummern  mit  Nr.  13 
identisch. 

Schliesslich  haben  wir  noch  zwei  fragmentarische  Darstellungen 
zu  erwähnen. 

16. 

Freskogemälde  in  der  Katakombe  der  heil.  Gyriaca. 

Es  ist  noch  ein  Magier  zu  sehen,  der  auf  den  Stern  deutet. 
Wahrscheinlich  war  die  Mutter  mit  dem  Kinde  hier  abgebildet. 
Stammt  aus  der  zweiten  Hälfte  des  vierten  Jahrhunderts5). 

17. 

Freskogemälde  in  einer  Katakombe  zu  Fünfkirchen  in  Ungarn. 

Die  vorhandenen  Spuren  lassen  auf  eine  Anbetung  der  Magier 
schliessen.  Es  sind  noch  die  Reste  von  drei  lebhaft  nach  rechts 


9  Rossi,  bullet.  1867,  p.  4  u.  5. 

2)  Rossi,  bullet.  1879,  p.  95,  Tav.  I.  u.  II;  Vgl.  bullet.  1877,  p.  132. 

3)  Rossi,  Imag.  sei.  p.  12. 

4)  Rossi,  Imag.  p.  12. 

5)  Rossi,  bullet.  1863,  p.  76  u.  79.  Garrucci,  Tav.  59,  2. 


297 


hinter  einander  schreitenden  Männern  (wahrscheinlich  den  Magiern) 
zu  sehen.  Das  Gemälde  stammt  etwa  aus  der  Mitte  des  vierten 
Jahrhunderts  *). 

Von  weiteren,  die  Anbetung  der  Magier  darstellenden,  Fresko¬ 
gemälden  ist  uns  bis  jetzt  nichts  bekannt  geworden. 

Wir  kommen  nun  zu  jenem  Bilde,  welches  in  den  vierziger 
Jahren  durch  P.  Marchi,  den  Lehrer  Rossi’s,  eine  gewisse  Berühmt¬ 
heit  erlangte,  obwohl  es  schon  bei  Bosio  und  dessen  Nachfolgern 
abgebildet  ist.  Es  ist  das 

18. 

Freskogemälde  in  der  Katakombe  der  heil.  Agnes.  (Taf.  I.) 

Auf  der  Rückwand  eines  Arkosoliums  ist  eine  junge  Frau  mit 
einem  Kinde  dargestellt.  Sie  trägt  einen  weissen  Schleier  mit  bläu¬ 
lichen  Schatten  über  den  gescheitelten  braunen  Haaren,  die  über 
den  Ohren  nach  rückwärts  genommen  und  im  Nacken  in  Knoten 
zusammengefasst  sind.  Den  Hals  schmückt  ein  reiches  Collier. 
Ueber  der  gelblichen  Tunika  trägt  sie  eine  weite  blaue  Stola,  die 
symmetrisch  über  die  Unterarme  fallend  zwei  weite  Aermel  zu  bilden 
scheint.  Die  Hände  breitet  sie  betend  aus.  Der  Knabe  ist  auf 
ihrem  Schoosse  sitzend  zu  denken.  Man  sieht  heute  nur  noch  den 
Oberkörper  der  Frau  und  den  Kopf  und  die  rechte  Schulter  des 
Kindes,  da  die  untere  Hälfte  des  Gemäldes  durch  ein  später  einge¬ 
brochenes  Grab  zerstört  ist.  Auf  beiden  Seiten  der  Gruppe  ist  das 
Monogramm  Christi  angebracht  und  zwar  so,  dass  sich  beidemal 
der  Bogen  des  P  gegen  die  Gruppe  kehrt. 

Auf  der  Wölbung  über  diesem  Bilde  findet  sich  in  der  Mitte 
in  einem  Rund  die  Büste  eines  Jünglings  mit  gescheitelten  und  in 
Locken  auf  die  Schultern  fallenden  Haaren.  Die  Kleidung  besteht 
in  gestreifter  Tunika  und  Pallium.  Links  anscheinend  dieselbe  weib¬ 
liche  Figur,  wie  an  der  Rückwand,  aber  ohne  Kind,  als  Kniestück. 
Rechts  das  Kniestück  eines  bärtigen  Mannes  in  Dalmatika  gekleidet, 
auch  in  der  Gebetstellung. 

Garrucci  findet  sehr  wahrscheinlich,  dass  die  drei  Figuren  am 
Gewölbe  die  heil.  Familie:  Maria,  den  jugendlichen  Christus  und 
Joseph  vorstellen. 


9  Mittheilungen  der  K.  K.  Centralcommission  für  Erforschung  der  Bau¬ 
denkmale,  Wien,  Bd.  18,  S.  62  u.  Taf.  I;  Bossi,  bullet.  1874,  p.  151  u.  Tav.  VII. 


298 


Die  Erklärung  der  jungen  Frau  mit  dem  Kinde  als  Maria  mit 
Jesus  ist  beinahe  allgemein  angenommen;  von  den  älteren  Erklärern 
theilt  Bottari x)  diese  Ansicht  nicht,  neuestens  wird  sie  von  Schult ze 
bekämpft*  2). 

Das  Bild  gehört  dem  vierten  Jahrhundert  an  und  zwar  dessen 
erster  Hälfte,  wie  Rossi  glaubt3).  Unsere  Abbildung  ist  nach  einer 
photographischen  Reduktion  des  Farbendrucks  angefertigt,  welchen 
Rossi  in  seinen  »Ausgewählten  Marienbildern«  veröffentlicht  hat. 
Dieser  Farbendruck  macht  den  Anspruch  grosser  Treue,  er  unter¬ 
scheidet  sich  z.  B.  wesentlich  von  dem  idealisirenden  Abbild  in 
Perret’s  4)  Katakombenwerke. 

Es  ist  ein  ziemlich  naturalistisch  behandeltes,  porträtartiges 
Gesicht  mit  niedriger  Stirne  und  sehr  grossen  Augen,  das  sogar  an 
den  heutigen  römischen  Typus  anklingt.  Diese  Porträthaftigkeit  ist 
auch  einer  der  Gründe,  welche  gegen  die  Annahme,  hier  ein  Marien¬ 
bild  zu  haben,  vorgebracht  werden.  Schwächer  ist  ein  anderer 
Grund,  nemlich  der,  dass  die  Christen  des  fünften  Jahrhunderts  nicht 
durch  Anlage  eines  Grabes  die  Hälfte  der  Gruppe  zerstört  hätten, 
wenn  sie  darin  ein  Marienbild  gesehen  hätten.  Denn  die  nemliche 
geringe  Rücksicht  auf  die  ältere  Wandmalerei  begegnete  uns  ja  schon 
bei  Nr.  2  und  dann  sehen  wir  ja  auch  die  Figur  des  guten  Hirten 
durch  später  eingebrochene  Gräber  zerstört 5).  Doch  auch  die  Porträt¬ 
haftigkeit  hat  nichts  Zwingendes.  Die  Sache  lässt  sich  ja  auch  wohl 
so  fassen,  dass  der  Künstler  des  Bildes,  den  antiken  Traditionen 
bereits  etwas  entfremdet,  nicht  mehr  im  Stande  war,  eine  Ideal¬ 
gestalt  zu  schaffen,  und  daher,  um  die  Würde  der  Gottesmutter  aus¬ 
zudrücken,  seine  ziemlich  naturalistisch  gerathene  Figur  mit  vor¬ 
nehmem  Gewand  und  kostbarem  Schmucke  ausstattete 6).  Ein  grosser 
Künstler  war  er  so  wie  so  nicht,  sonst  hätte  er  besser  zeichnen 
können  (besonders  die  PJände).  Das  Bild  gewährt  auch  desswegen 
ein  hohes  Interesse,  weil  viele  byzantinische  Madonnen  des  Mittel¬ 
alters  in  ähnlicher  Haltung  sich  zeigen. 


9  III,  p.  83. 

2)  S.  185  ff. 

s)  Imag.  sei.  p.  20. 

4)  Catacombes  de  Rome,  Paris  1851  ff.,  Bd.  II,  pl.  VI. 

5)  Z.  B.  Rossi,  Roma  sott.  Bd.  III,  Tav.  9. 

°)  Bosio  p.  471;  Aringhi,  Bd.  II,  p.  209;  Bottari  Tav.  153;  Rossi,  Imag. 
Tab.  VI;  Garrucci  Tav.  66,  1. 


V 


299 


Diesem  in  seiner  Art  einzigen  Katakombenbilde  (es  lässt  sich 
nur  noch  ein  mehrere  hundert  Jahre  jüngeres  in  der  Katakombe 
des  h.  Valentin  J)  damit  vergleichen)  reihen  wir  ein  anderes  an, 
welches  ebenfalls  einzig  in  seiner  Art  wäre,  wenn  unsere  Deutung 
zutreffend  gefunden  würde.  Zu  dieser  Deutung  ermuthigt  uns  ausser 
den  in  dem  Bilde  selbst  liegenden  Gründen  auch  die  darauf  folgende 
Nummer,  die  einigermassen  als  Parallele  angesprochen  werden  könnte, 
da  auch  dort  bei  dem  Weinwunder  Maria  anwesend  ist. 

19. 

Freskogemälde  in  der  Katakombe  der  heil.  Soteris.  (S.  Nr.  11.) 
(Taf.  I.) 

In  der  Mitte  steht  eine  männliche  Figur  halb  en  face,  halb 
nach  rechts  gewendet  und  streckt,  ein  wenig  streng  nach  einer  links 
stehenden  Frauengestalt  sich  umschauend,  mit  gebieterischem  Gestus 
die  rechte  Hand  gegen  mehrere  auf  dem  Boden  stehende  Gegenstände 
aus.  Die  weibliche  Figur  mit  etwas  vorgeneigtem  Oberkörper  gesti- 
kulirt  mit  der  linken  Hand  gegen  den  Mann,  mit  der  rechten  gegen 
die  Dinge  auf  dem  Boden  hin.  Rossi  ist  geneigt,  hier  die  Scene 
mit  der  Samaritin  am  Brunnen  zu  sehen.  Allein,  wenn  die  Copie 
richtig  ist,  so  lässt  sich  in  den  auf  dem  Boden  befindlichen  Dingen, 
die  allerdings  zu  drei  Vierteln  zerstört  sind,  nicht  der  Brunnen, 
sondern  eher  die  Krüge  von  der  Hochzeit  zu  Kana  erkennen.  Auch 
Haltung  und  Bewegung  der  Figuren  sprechen  eher  für  den  Verweis 
an  die  bittende  Mutter,  als  für  die  Bitte  um  einen  Trunk.  Das 
Weinwunder  kommt  ja  sehr  häufig  theils  auf  Fresken,  theils  auf 
Sarkophagreliefs  vor.  Wir  sind  daher  geneigt,  in  der  Frauengestalt 
die  Mutter  des  Herrn  zu  erkennen,  die  den  Sohn  auf  den  Mangel  an 
Wein  aufmerksam  macht*  2).  Unsere  Abbildung  ist  nach  dem  Farben¬ 
druck  bei  Rossi  angefertigt. 

Zum  Schlüsse  ist  noch  ein 

20. 

Freskogemälde  in  einer  Katakombe  zu  Alexandrien  zu  erwähnen, 
welches  aber,  etwa  im  sechsten  Jahrhundert,  zum  Theil  übermalt 
worden  ist. 


9  Bosio  p.  579;  Aringhi  II,  p.  353;  Bottari  T.  191;  Garrucci  Tav.  84,  1. 

2)  Rossi,  Roma  sott.  Bd.  III,  Tav.  8.  Text  p.  65. 


300 


Rossi  erkennt  darauf  unter  anderen  Scenen  auch  die  Hochzeit 
zu  Kana.  Neben  einer  fast  ganz  zerstörten  Figur  der  ursprünglichen 
Malerei  findet  sich  die  Inschrift:  H  ATIA  MAP1A  (die  heilige 
Maria).  Rossi  glaubt,  dass  das  Gemälde  ursprünglich  dem  vierten 
Jahrhundert  angehöre1). 

Mit  dieser  Nummer  verlassen  wir  die  unterirdischen  Grabstätten 
und  thun  noch  einen  Schritt  an  das  helle  Tageslicht,  indem  wir  uns 
einem  Werke  der  Malerei  zuwenden,  das  in  den  nächsten  Jahren 
nach  dem  Concil  von  Ephesus  entstanden  ist.  Wir  meinen  die 

Mosaiken  des  Triumphbogens  in  der  Basilika  Santa  Maria 
Maggiore,  welche  bis  auf  einige  Restaurationen  noch  aus  derZeit 
Sixtus  III.  (432  —  440)  herrühren2).  (Taf.  III.) 

Die  Mitte  über  dem  Scheitel  des  Bogens  nimmt  der  Thron  Gottes 
zwischen  Petrus  und  Paulus  und  den  vier  Evangelistensymbolen  ein. 
Auf  beiden  Seiten  sind  je  drei  Scenen  aus  der  Kindheitsgeschichte 
des  Herrn  angebracht,  von  denen  wir  nur  diejenigen  näher  betrachten, 
in  welchen  Maria  vorkommt.  Es  sind  deren  vier:  links  Verkündigung 
mit  einer  Nebenscene,  darunter  die  Anbetung  der  Magier;  rechts 
die  Darstellung  im  Tempel,  darunter  die  Auffindung  des  zwölf¬ 
jährigen  Jesus. 

21. 

Die  Verkündigung  ist  so  dargestellt:  Links  steht  ein  Gebäude 
mit  geschlossener  Pforte,  über  welcher  ein  Schild  aufgehangen  ist. 
Dann  folgen  zwei  geflügelte  und  nimbirte  Engel  mit  Dalmatika  und 
Pallium  bekleidet  und  mit  Sandalen  an  den  Füssen;  hierauf  Maria 
ohne  Nimbus  in  reich  gesticktem  Kleide  mit  einem  Kleinod  auf  der 
Brust,  ein  edelsteingeschmücktes  Diadem  auf  dem  Kopf  und  Ringe 
in  den  Ohren,  auf  einem  polsterbelegten  Sitz  mit  Fussbänkchen,  den 
Spinnrocken  an  der  rechten  Seite  und  eine  lange  Flocke  von  Wolle 
in  den  Händen  haltend,  aufmerksam  und  erstaunt  aufhorchend. 
Rechts  neben  ihr  steht  ein  dritter  Engel  in  derselben  Erscheinung, 
wie  die  beiden  andern.  Alle  drei  sind  theils  segnend,  theils  be¬ 
wundernd,  theils  zuredend  mit  dem  Wunder  beschäftigt,  das  eben 
vor  sich  geht;  denn  über  dem  Haupte  Mariens  schwebt  von  links 
her  die  Taube  als  Symbol  des  heiligen  Geistes,  von  rechts  her  ein 


0  Rossi,  bullet.  1865,  p.  57  ff.;  Garrucci  Tav.  105,  B,  5;  Schultze  Nr.  9. 

2)  Garrucci,  Tav.  211 — 214. 


301 


vierter  Engel,  der  ebenso  gekleidet  ist,  wie  die  übrigen,  nur  dass  er 
blosse  Füsse  hat,  in  den  Wolken.  Diess  scheint  uns  der  eigentliche 
Verkündigungsengel,  während  die  drei  stehenden  die  gewöhnliche 
himmlische  Gesellschaft  ausmachen,  die  z.  B.  der  heil.  Ambrosius 
(s.  oben  S.  163)  und  schon  das  Protevangelium  der  Jungfrau  beigibt. 
Von  dieser  Scene  abgekehrt  wenden  sich  zwei  andere  Engel  nach 
rechts  zu  einem  bärtigen  Mann  in  Tunika  und  Pallium,  der  in  der 
linken  Hand  einen  Stab  trägt,  die  rechte  nach  oben  hält  und  mit 
dem  Zeigefinger  derselben  auf  seinen  Kopf  deutet.  Rechts  von  diesem 
Mann  schliesst  wieder  ein  Gebäude,  in  dessen  offenem  Thor  ein 
Vorhang  zu  beiden  Seiten  zurückgeschlagen  ist  und  eine  Ampel 
herunterhängt,  die  Scene  ab.  In  dieser  Nebenscene  erkannte  Bianchini 1) 
und  mit  ihm  neuestens  Wolttnann2)  die  Verkündigung  an  Zacharias, 
während  Garrucci  darin  die  Mittheilung  des  Wunders  an  Joseph  sieht. 
Für  Joseph  spricht  ihm  die  weltliche  Tracht  des  Mannes,  sowie  der 
Stab  in  seiner  Hand,  den  ihm  die  bekannte  Erzählung  des  Prot- 
evangeliums  gibt,  allerdings  bei  einer  andern  Gelegenheit.  Garrucci 
schliesst  aus  dieser  Anspielung  auf  das  Protevangelium,  sowie  dar¬ 
aus,  dass  Maria  ein  Stück  Stoff  (die  purpurgefärbte  Wolle)  in  den 
Händen  hat,  dass  die  Mosaiken  von  einem  orientalischen  Künstler 
herrühren,  weil  zu  dieser  Zeit  die  apokryphischen  Legenden  noch 
nicht  im  Occident  verbreitet,  ja  vielleicht  noch  nicht  einmal  ins 
Lateinische  übersetzt  gewesen  seien.  Da  lässt  sich  nun  freilich  ein¬ 
wenden,  dass  der  Künstler,  von  seiner  Nationalität  ganz  abgesehen, 
da  er  im  Auftrag  des  Pabstes  arbeitete,  wohl  jedenfalls  für  Rom 
verständlich  zu  sein  suchen  musste.  Wenn  also  die  Figur  mit  dem 
Stab  den  Joseph  bedeuten  soll,  wenn  die  »Wolle«  in  den  Händen 
Marias,  wenn  ihre  Engelsgesellschaft  an  die  Apokryphen  erinnert, 
so  sollte  von  hieraus  eher  der  Schluss  gemacht  werden,  dass  letztere 
in  Rom  bekannt  gewesen  sein  müssen.  Dass  sie  römischen  Gelehrten 
längst  bekannt  waren,  wissen  wir  ja  auch  sonst.  Man  denke  nur 
an  Hieronymus  (s.  oben  S.  138)  und  den  Pabst  Innocentius  I. 
(s.  oben  S.  256). 

22. 

Um  die  »Darbringung  i  m  Tempel«  vorzunehmen,  ist  Maria 
in  den  mit  einer  Kolonnade  umgebenen  Vorhof  eingetreten.  Sie  hat 


Ü  Ad  Anastas,  p.  261. 

2)  Geschichte  der  Malerei,  S.  164. 


ungefähr  dieselbe  Tracht,  wie  in  dem  Verkündigungsbilde  und  trägt 
den  Jesusknaben  auf  den  Armen,  der  bekleidet  und  mit  dem  Nimbus, 
auf  dessen  Scheitelpunkt  ein  Kreuzchen  steht,  ausgezeichnet  ist.  Ihre 
Begleitung  besteht  wieder  aus  drei  Engeln,  von  denen  einer  voraus¬ 
schreitet,  die  beiden  anderen  folgen.  Auch  Joseph  geht  voran.  Die 
heilige  Gesellschaft  wird  zunächst  von  der  Greisin  Hanna  und  dem 
Greise  Simeon  empfangen,  an  die  sich  zwei  Oberpriester  und  mehrere 
Priester  zum  Willkomm  angeschlossen  haben.  Rechts  am  Ende 
steht  der  Tempel,  vor  dem  sich  nach  rechts  hin  ursprünglich  noch 
eine  Scene  abgespielt  haben  muss,  die  jetzt  grösstentheils  zerstört  ist. 
Man  sieht  noch  einen  eilig  sich  entfernenden  Engel,  die  rechte  Hand 
wie  schützend  über  einer  Figur  erhoben,  deren  obere  Hälfte  fehlt. 
Die  Gestalt  ist  ähnlich  bekleidet,  wie  Maria.  Garrucci  glaubt,  dass 
hier  die  Flucht  nach  Aegypten  dargestellt  gewesen  sei. 

23. 

Bei  der  »Anbetung  der  Magier«  sitzt  der  Ghristusknabe  auf 
einem  reichgeschmückten  Throne.  Er  ist  in  Tunika  und  Mantel  ge¬ 
kleidet  und  hat  die  rechte  Bland  segnend  erhoben.  Das  Haupt  ist 
durch  den  Nimbus  ausgezeichnet,  innerhalb  dessen  diessmal  zum 
Unterschied  vom  vorhergehenden  Bilde  das  Kreuzchen  unmittelbar 
auf  seinem  Scheitel  angebracht  ist.  Ueber  ihm  in  der  Luft  der 
Stern  und  hinter  dem  Throne  vier  Engel.  Auf  der  rechten  Seite 
des  Jesusknaben  sitzt  Maria  in  reicher  Gewandung  auf  eigenem 
Sessel,  hält  die  rechte  Hand  an  die  Brust  und  stützt  die  linke  auf 
ein  Büchlein,  das  neben  ihr  auf  dem  Polster  liegt.  Links  neben 
Christus  sitzt  eine  verhüllte  Frauengestalt  ebenfalls  auf  eigenem 
Sessel,  in  welcher  Garrucci  eine  Art  Haushofmeisterin  des,  als  vor¬ 
nehm  dargestellten ,  Hauswesens  der  Tochter  Davids  erkennen  will. 
Rechts  von  der  Gruppe  nahen  sich  zwei  Magier  in  reichgeschmückter 
phrygischer  Tracht  mit  ihren  Gaben  auf  grossen  Platten.  Der  dritte 
Magier  füllte  ohne  Zweifel  ursprünglich  die  vorhandene  Lücke  aus, 
ging  aber  bei  einer  Restauration  zu  Grunde.  Das  Bild  ist  rechts 
durch  die  Stadt  Bethlehem  abgeschlossen. 

24. 

Auf  dem  letzten  Bilde  finden  Maria  und  Joseph,  die  in 
Begleitung  der  drei  Engel  von  rechts  herkommen,  den  verlorenen 
Jesusknaben  vor  einer  Versammlung  Gesetzesgelehrter.  Die  äussere 


303 


Erscheinung  des  Knaben  ist  ganz  dieselbe,  wie  auf  dem  vorher¬ 
gehenden  Bilde.  Die  Schriftgelehrten  u.  s.  w.  sind  verschieden  ge¬ 
kleidet,  der  vorderste  erscheint  in  der  Tracht  eines  Philosophen  in 
blossem  Mantel,  der  die  rechte  Schulter  frei  lässt,  und  mit  einem 
Stock  in  der  Hand.  Links  hinter  der  gelehrten  Gesellschaft  die  Stadt 
Jerusalem  x). 

Skulptur. 

Von  Monumenten  der  altchristlichen  Skulptur,  auf  welchen 
Maria  vorkommt,  sind  uns  viel  mehrere  bekannt,  als  von  Monumenten 
der  Malerei.  Es  sind  fast  durchaus  Reliefs  von  Sarkophagen,  von 
denen  ein  grosser  Theil  schon  bei  Bosio  und  dessen  Nachfolgern 
abgebildet  ist.  Sie  gehören  grösstentheils  dem  vierten  oder  der  ersten 
Hälfte  des  fünften  Jahrhunderts  an,  wie  wir  überhaupt  kaum  einen 
Sarkophag  mit  specifisch  christlichen  Reliefdarstellungen  besitzen, 
der  älter  als  das  vierte  Jahrhundert  wäre.  Das  begreift  sich  leicht. 
Das  Urchristenthum  gewann  seine  Anhänger  hauptsächlich  aus  den 
ärmeren  Klassen,  und  diese  besassen  nicht  die  Mittel,  für  ihre  Todten 
die  theuren  Sarkophage  anzuschaffen.  Später,  als  auch  schon  viele 
Reiche  und  Vornehme,  die  eine  luxuriösere  Bestattung  zu  bezahlen 


*)  Wir  haben  die  Abbildungen  nach  den  Tafeln  bei  Garrucci  gegeben  und 
sind  auch  seinen  Beschreibungen  gefolgt  mit  Ausnahme  der  »Verkündigung«, 
wobei  wir  uns  einige  Abweichungen  erlaubten.  Das  ältere  Werk  von  Giampini 
(Vetera  Monumenta)  war  uns  nicht  zur  Hand.  Nun  finden  wir  in  dem  Diction. 
of  Christ.  Antiq.  by  W.  Smith  and  Cheetham,  London  1875,  Artikel  »Angels« 
Bd.  I,  p.  84  einen  Holzschnitt,  welcher  die  Anbetung  der  Magier  von  Sa.  Maria 
Maggiore  nach  einer  Abbildung  des  Triumphbogens  gibt,  die  vor  der  Restauration 
dieser  Mosaiken  unter  Benedikt  XIV.  (1740—1758)  angefertigt  ist  und  sich  jetzt 
in  der  Kgl.  Bibliothek  zu  Windsor  befindet.  Dieser  Holzschnitt  zeigt  wesentliche 
Verschiedenheiten.  An  der  Stelle  der  Frauengestalt,  welche  Garrucci  für  Maria 
erklärt,  sitzt  eine  männliche  Figur  (Joseph?  oder  einer  der  Magier?);  die  zwei 
stehenden  Magier  füllen  den  Raum  zwischen  der  verhüllten  weiblichen  Figur 
(Maria?),  welche  Garrucci  für  eine  Art  Haushofmeisterin  nimmt,  und  dem  Stadt¬ 
thor  vollständig  aus  und  lassen  keinen  Raum  für  einen  dritten  u.  s.  w.  Wir 
gaben  uns  Mühe,  Copien  von  diesen  älteren  Abbildungen  zu  erhalten,  es  ist  uns 
aber  bis  jetzt  nicht  gelungen.  Wahrscheinlich  zeigen  diese  auch  bei  den  übrigen 
drei  Scenen  ähnliche  Verschiedenheiten.  Eines  ist  übrigens  sicher,  dass  die  vier 
aufgeführten  Compositionen  (Verkündigung,  Darbringung,  Magierbesuch,  Auf¬ 
findung)  jedenfalls  von  Anfang  an  den  Triumphbogen  von  Sta.  Maria  Maggiore 
schmückten  und  im  Ganzen  sich  ungefähr  ebenso  präsentirten,  wie  heute.  Und 
diess  bleibt  die  Hauptsache. 


304 


vermochten,  der  neuen  Religion  anhingen,  konnte  es,  so  lange  die 
Verfolgungen  dauerten  oder  drohten,  nicht  ohne  Schwierigkeit  und 
Gefahr  geschehen,  in  den  Bildhauerwerkstätten  sich  ein  so  umfang¬ 
reiches  Geräthe  machen  zu  lassen,  das  die  Kennzeichen  der  gehassten 
Religion  offen  zur  Schau  trug,  oder  dieses  Geräthe  mit  Hilfe  vieler 
Menschen  durch  die  Strassen  der  Stadt  nach  den  Begräbnissplätzen  zu 
schaffen.  Diese  Verhältnisse  änderten  sich,  nachdem  das  Christen¬ 
thum  zur  Herrschaft  gelangt  war,  und  darum  kann  eigentlich  erst  nach 
Konstantin  von  einer  christlichen  Skulptur  die  Rede  sein.  Welcher 
künstlerische  Werth  ihren  Produkten  innewohnt,  ist  hiemit  schon  ge¬ 
sagt;  sie  gehören  sämmtlich  der  Zeit  des  Niedergangs  der  Kunst  an, 
wenn  auch  manche  noch  durch  Geschick  und  Sorgfalt  sich  auszeichnen. 
Diess  und  der  Umstand,  dass  die  meisten,  namentlich  diejenigen,  auf 
welchen  Maria  dargestellt  ist,  zeitlich  nicht  sehr  weit  auseinander  liegen 
(die  grosse  Mehrzahl  stammt  aus  den  letzten  Jahrzehnten  des  vierten 
oder  aus  den  ersten  Jahrzehnten  des  fünften  Jahrhunderts),  macht 
jedes  Bestreben,  die  einzelnen  Monumente  in  streng  chronologischer 
Reihe  aufzuzählen,  vergeblich.  Daher  stehen  wir  von  einem  solchen 
Versuch  ganz  ab  und  ordnen  die  einzelnen  Darstellungen  nach  den 
Unterschieden  der  Composition,  indem  wir  innerhalb  dieses  Rahmens 
auf  die  Reihenfolge  bei  Schultze,  gegen  die  im  Allgemeinen  nicht 
viel  einzuwenden  sein  wird,  gebührende  Rücksicht  nehmen. 

Wir  beginnen  mit  der  am  häufigsten  vorkommenden  Scene,  der 
Anbetung  der  Magier  und  lassen  hier  die  einfachste  Composition, 
die  nur  die  Mutter  mit  dem  Kinde  und  die  Magier  aufweist,  wie 
wir  sie  bei  den  Fresken  kennen  gelernt  haben,  vorangehen,  ohne 
damit  sagen  zu  wollen,  dass  diese  einfachste  Composition  zugleich 
auch  die  älteste  in  der  Skulptur  sei. 

25. 

Relief  von  einem  Sarkophage,  der  unter  St.  Peter  gefunden 
wurde  und  jetzt  im  Lateran-Museum  ist,  mit  zwei  Reihen  von  Dar¬ 
stellungen  über  einander.  (Taf.  IV.) 

In  der  Mitte  der  untern  Reihe  sitzt  Maria  auf  einem  Lehnstuhl  mit 
Fussbänkchen,  nach  rechts  gewendet,  und  hält  das  nackte  Kind  auf 
dem  Schoosse,  das  sein  rechtes  Händchen  den  Magiern  entgegenstreckt. 
Maria  ist  mit  Tunika,  Stola  und  Kopftuch  bekleidet.  Von  rechts  kommen 
die  drei  Magier,  einer  hinter  dem  andern,  mit  ihren  Geschenken. 

Oberhalb  dieser  Gruppe  befindet  sich  die  Porträtbüste  des  Be- 


305 


grabenen  in  einem  Runde.  Links  hievon  der  Einzug  Christi  in 
Jerusalem  und  die  Brodvermehrung,  rechts  der  Untergang  des  Pharao 
und  die  Rettung  der  Israeliten  aus  dem  rothen  Meere.  Die  untere 
Abtheilung  zeigt  links  von  unserer  Gruppe  den  Moses,  Wasser  aus 
dem  Felsen  schlagend,  die  Gefangennehmung  des  Moses  oder  Petrus, 
die  Verleugnung  Christi  durch  Petrus;  rechts  Daniel  zwischen  den 
Löwen,  den  Sündenfall,  das  Opfer  Abrahams  und  Noah  im  Kasten. 
Die  Abbildung  nach  Aringhi  mit  Berücksichtigung  einer  Photographie 
in  kleinerem  Maasstabe  1). 

26. 

Relief  von  einem  Sarkophag  im  Lateranmuseum.  (Taf.  IV.) 

Auf  der  linken  Seite  sitzt  Maria  auf  einem  Lehnstuhl  mit  Fuss- 
bänkchen,  nach  rechts  gewendet,  und  hat  das  nackte  Kind  auf  dem 
Schoosse.  Sie  ist  in  Tunika  und  Stola  gekleidet.  Auch  vom  Kopf¬ 
tuch  sieht  man  noch  Spuren.  Der  Kopf  ist  zerstört.  Ihre  Füsse 
sind  nackt.  Von  rechts  kommen  die  drei  Magier. 

Rechts  von  der  Gruppe  Moses,  das  Wasser  aus  dem  Felsen 
schlagend,  dann  ein  Rund  mit  der  Büste  des  Begrabenen,  darunter 
Jonas  unter  der  Kürbisstaude  schlafend ,  weiterhin  das  Opfer  Abra¬ 
hams,  die  Gefangennehmung  des  Moses  oder  Petrus,  Daniel  zwischen 
den  Löwen.  Die  Abbildung  nach  Garrucci  2). 

27. 

Relief  von  einem  kleinen  Sarkophage,  der  im  Vatikan  gefunden 
wurde,  mit  zwei  Reihen  von  Darstellungen  übereinander.  (Taf.  IV.) 

Auf  der  linken  Seite  der  unteren  Abtheilung  sitzt  Maria,  in 
Tunika,  Stola  und  Kopftuch  gekleidet,  auf  einem  durch flochtenen 
Lehnsessel  ohne  Fussbänkchen  und  hat  das  stehende,  in  Tunika 
gekleidete,  Kind  auf  dem  Schooss,  dem  von  rechts  her  die  drei  Magier 
zuschreiten.  Sie  sind  ohne  Kopfbedeckung  und  haben  lange  Tuniken. 
Der  erste  trägt  ein  gedeckeltes,  pokalartiges  Gefäss,  der  zweite  und 
dritte  haben  die  übrigen  Geschenke  auf  Platten. 

Auf  der  obern  Abtheilung  zeigen  sich  von  links  angefangen 
folgende  Scenen:  Moses,  Wasser  aus  dem  Felsen  schlagend,  die 
Brodvermehrung ,  die  Gefangennehmung  des  Moses  oder  Petrus,  die 


6  Bosio  p.  99 ;  Aringhi  I ,  p.  331 ;  Bottari  T.  40 ;  Garrucci  T.  358 ,  1 ; 
Schultze  Nr.  13. 

2)  Garrucci  T.  359,  1. 

Lehner,  Die  Marienverehrung. 


20 


306 


Figur  der  betenden  Frau,  der  Sündenfall,  das  Opfer  Abrahams,  die 
Erweckung  des  Lazarus.  Auf  der  unteren  Abtheilung  rechts  von 
unserer  Gruppe:  Noah  im  Kasten,  Jonas  aus  dem  Schiff  in  den 
Rachen  des  Ungeheuers  geworfen ,  Jonas  unter  der  Kürbisstaude. 
Unsere  Abbildung  ist  den  alten  Katakombenwerken  entnommen  1). 

28. 

Relief  von  der  rechten  Schmalseite  eines  Sarkophags  in  der 
Kathedrale  zu  Tolentino.  (Taf.  IV.) 

Auf  der  linken  Seite  sitzt  Maria  auf  einem  Faltstuhl  und  stützt 
die  Füsse  auf  einen  Schemel.  Sie  ist  mit  Tunika,  Stola  und  Kopf¬ 
tuch  bekleidet.  Auf  ihrem  Schoosse  sitzt  der  mit  Tunika  bekleidete 
Knabe  mit  lockigem  Haar,  den  die  Mutter  mit  den  Armen  um¬ 
spannt.  Rechts  stehen  die  drei  Magier  mit  ihren  Gaben.  Sie  haben 
ausser  der  Tunika  auch  den  Mantel.  Den  Hintergrund  bildet  krene- 
lirtes  Mauerwerk  mit  Thoren,  die  Stadt  Bethlehem  andeutend. 

Die  linke  Schmalseite  enthält  die  drei  ebräischen  Jünglinge  vor 
der  Büste  des  Nabuchodonosor ,  während  die  Vorderseite  den  guten 
Hirten  zwischen  Petrus  und  Paulus  zeigt.  Unsere  Abbildung  nach 
Garrucci  2). 

29. 

Relief  von  einem  Sarkophagdeckel,  gefunden  bei  San  Lorenzo 
fuori  le  mura,  jetzt  im  Lateranmuseum.  (Taf.  IV.) 

Auf  der  rechten  Seite  sitzt  Maria,  mit  Tunika,  Stola  und  Kopf¬ 
tuch  bekleidet,  auf  einem  durchflochtenen  Lehnstuhl  und  hält  das 
eingewickelte  Kind  in  den  Armen.  Von  links  her  schreiten  die  drei 
Magier  (auch  hier  den  Mantel  tragend)  mit  ihren  Geschenken. 

Links  von  der  Gruppe  Moses,  das  Gesetz  von  der  Hand  Gottes 
aus  den  Wolken  erhaltend;  dann  der  Sünden  fall.  Rechts  von  der 
Gruppe  zunächst  die  Inschriftstafel,  von  Genien  gehalten;  dann  Noah 
im  Kasten;  das  Schiff,  aus  welchem  Jonas  dem  Ungeheuer  in  den 
Rachen  geworfen  wird ;  Jonas  von  dem  Ungeheuer  ans  Land  ge- 
spieen;  hierauf  noch  eine  verstümmelte  Figur.  Unsere  Abbildung 
nach  einer  Photographie  3). 


9  Bosio  p.  93;  Aringhi  I,  p.  325;  Bottari  T.  37;  Garrucci  T.  377,  1; 
Scbultze  Nr.  18. 

2)  Garrucci  T.  303,  3;  Schultze  Nr.  25. 

3)  Bosio  p.  411;  Aringhi  II,  p.  143;  Bottari  T.  131;  Garrucci  T.  384,  6. 


307 


30. 

Relief  von  einem  Sarkophagdecke].  (Taf.  IV.) 

Ganz  dieselben  Gruppen,  wie  auf  der  vorhergehenden  Nummer, 
nur  dass  die  Figur  am  rechten  Ende  hier  noch  vollständig  erhalten 
ist:  Moses,  das  Wasser  aus  dem  Felsen  schlagend.  Darum  glaubt 
Garrucci  in  seinem  Text  zu  Tav.  384,  6,  dass  durch  einen  Irrthum 
Severano’s  dasselbe  Monument  zweimal  in  Bosio’s  Werk  gekommen 
sei.  Es  müsste  aber  dann  merkwürdig  verzeichnet  worden  sein. 
Wie  die  Abbildung  zeigt,  hat  die  uns  zunächst  interessirende 
Gruppe  wesentliche  Verschiedenheiten.  Maria  sitzt  ganz  anders  da, 
der  Stuhl  ist  ein  anderer,  die  Magier  sind  ohne  Kopfbedeckung  und 
ohne  Mantel ,  der  vorderste  trägt  eine  zweihenkelige  Vase  u.  s.  w. 
Unsere  Abbildung  ist  den  alten  Katakomben  werken  entnommen  1). 


31. 

Relief  von  einem  Sarkophag-Fragment ,  zu  Ravello  bei  Amalfi 
gefunden  a.  1868.  (Taf.  IV.) 

Rechts  sitzt  Maria,  mit  Tunika,  Stola  und  Kopftuch  bekleidet, 
auf  einem  Lehnstuhl  mit  Fussbänkchen.  Mit  der  linken  Hand  hält 
sie  das  in  die  Tunika  gekleidete  Kind  auf  dem  Schooss,  die  rechte 
Hand  hat  sie  erhoben.  Von  links  her  nahen  die  Magier  mit  Kranz 
u.  s.  w. 

Links  von  der  Gruppe  Moses,  das  Wasser  aus  dem  Felsen 
schlagend;  dann  die  Figur  der  betenden  Frau,  welche  ohne  Zweifel 
das  Gentrum  der  Darstellungen  bildete. 

Das  Monument  stammt  nach  Rossi  aus  dem  vierten  Jahrhundert. 
Unsere  Abbildung  nach  Garrucci 2). 

32. 

Relief  von  einem  Sarkophage  in  der  Kirche  S.  Domingo  le  Reya 
zu  Toledo.  (Taf.  IV.) 

Auf  der  rechten  Seite  sitzt  Maria  in  Tunika,  Stola  und  Kopftuch, 
auf  einem  Lehnstuhl,  den  linken  Fuss  auf  einen  Schemel  stützend, 
und  trägt  das  eingewickelte  Kind  in  den  Armen.  Von  links  kommen 
die  drei  Magier,  sie  sind  ohne  Kopfbedeckung,  haben  aber  den  Mantel. 


')  Bosio  p.  589;  Aringhi  If,  p.  395;  Bottari  T.  193;  Schultze  Nr.  17. 

2)  Bossi,  bullet.  1868,  p.  94;  Garrucci  T.  398,  10;  Schultze  Nr.  29. 


308 


Links  von  der  Gruppe  der  Sündenfall,  dann,  das  Centrum  der 
Darstellungen  bildend,  ein  junger  Mann  in  Gebetstellung;  weiterhin 
die  Brodvermehrung,  das  Opfer  Abrahams  und  die  Erweckung  des 
Lazarus.  Unsere  Abbildung  nach  Garrucci !). 

33. 

»Sarkophag-Relief.  Gapitolinisches  Museum.  Rechts  Maria  auf 
einem  Lehnstuhle.  Kleidung  wie  oben  (d.  h.  Stola  und  Pallium, 
letzteres  zugleich  als  Kopftuch  verwandt).  Auf  ihrem  Schoosse,  in 
Tücher  eingewickelt,  der  Knabe.  Links,  nach  rechts  schreitend, 
drei  Magier.« 

Die  Beschreibung  dieses  Monuments,  das  wir  sonst  nicht  erwähnt 
fanden,  haben  wir  wörtlich  aus  Schultze *  2)  entnommen. 

34. 

Relief  von  einem  Sarkophagdeckel  zu  St.  Gilles  bei  Nimes. 
Fragment. 

Enthielt  einst  auf  der  rechten  Seite  die  Anbetung  der  Magier. 
Jetzt  sind  nur  noch  ein  paar  verstümmelte  Magierfiguren  von  dieser 
Scene  vorhanden. 

Auf  der  linken  Seite  als  Gegenbild  die  drei  ebräischen  Jüng¬ 
linge  mit  dem  Stern,  sich  von  der  Büste  Nabuchodonosors  abkehrend 3). 

Von  dem  Sarkophagrelief,  welches  Schultze  unter  Nr.  27  auf¬ 
führt,  nehmen  wir  keine  Notiz,  da  es  über  die  von  uns  behandelte 
Periode  zu  weit  hinausfällt4).  Dagegen  ist  noch  ein 

35. 

Relief  von  einem  Ambon  zu  Thessalonich  aus  dem  vierten 
Jahrhundert,  wovon  Rossi  spricht,  kurz  zu  erwähnen.  Es  zeigt  auch 
die  Jungfrau  mit  dem  Kinde  und  die  Magier5). 

Die  nächstfolgenden  Nummern  zeigen  eine  Bereicherung  der  Scene 
durch  Beigabe  der  Reitthiere  der  Magier. 


x)  Garrucci  T.  369,  4. 

2)  Nr.  24. 

3)  Rossi,  bullet.  1866,  p.  63,  64;  Garrucci  T.  385,  1. 

4)  Garrucci  T.  311,  2. 

5)  Rossi,  bullet.  1879,  p.  35,  Anm.  1. 


309 


36. 

Relief  von  einem  Sarkophag  aus  der  Katakombe  der  heiligen 
Agnes,  jetzt  im  Lateranmuseum.  (Taf.  V.) 

Links  sitzt  Maria,  mit  Tunika,  Stola  und  Kopftuch  bekleidet, 
auf  einem  Lehnstuhl.  Auf  dem  Schoosse  trägt  sie  den  in  die  Tunika 
gekleideten  Knaben,  welcher  nach  dem  Kranze  langt,  den  ihm  der 
vorderste  Magier  mit  der  linken  Hand  darreicht,  während  er  mit 
der  rechten  auf  den  über  dem  Haupte  Mariens  befindlichen  Stern 
hinzeigt.  Die  drei  Magier  schreiten  mit  ihren  Kamelen  von  rechts 
heran. 

Rechts  von  der  Gruppe  Daniel  zwischen  den  Löwen.  Abbildung 
nach  Garrucci x). 

37. 

Relief  von  einem  kleinen  Sarkophage  in  der  Sakristei  von 
S.  Marcello  in  Rom.  (Taf.  V.) 

Auf  der  linken  Seite  sitzt  Maria  mit  dem  eingewickelten  Kinde 
auf  den  Armen  auf  einem  Lehnstuhl  mit  Fussbänkchen.  Sie  ist 
mit  Tunika,  Stola  und  Kopftuch  bekleidet.  Von  rechts  her  schreiten 
die  drei  Magier  lebhaft  hinter  einander  heran.  Sie  sind  mit  Tunika 
und  Ghlamys  bekleidet  und  haben  keine  Kopfbedeckung.  Im  Hinter¬ 
grund  sind  zwischen  ihnen  die  Köpfe  zweier  Kamele  sichtbar. 

Rechts  von  dieser  Gruppe  befindet  sich  der  Sündenfall.  Ab¬ 
bildung  nach  Garrucci*  2). 

38. 

Relief  von  einem  Sarkophagdeckel  in  der  Kathedrale  zu  Osimo. 
(Taf.  V.) 

Auf  der  linken  Seite  sitzt  Maria  in  Tunika,  Stola  und  Kopftuch 
gekleidet,  auf  einem  geflochtenen  Lehnsessel  und  stützt  die  Füsse 
auf  einen  Schemel.  Auf  dem  Schoosse  hält  sie  das  bekleidete  Kind, 
welches  nach  der  Gabe  des  vordersten  Magiers  greift.  Die  drei 
Magier,  jeder  mit  einem  Kamel  am  Zügel,  kommen  von  rechts  her. 

Rechts  von  der  Gruppe  Moses,  Wasser  aus  dem  Felsen  schlagend; 
dann  im  Gentrum  die  Tafel  für  die  Inschrift.  Rechts  hievon  Noah 
im  Kasten,  hierauf  das  Schiff,  aus  welchem  Jonas  dem  Ungeheuer 

9  Bosio  p.  423;  Aringhi  T.  II,  p.  159;  Bottari  T.  133.  Die  Zeichnung  hier 
mangelhaft.  Besser  bei  Garrucci,  T.  398,  4;  Schultze  Nr.  11. 

2)  Garrucci  T.  310,  3. 


310 


in  den  Rachen  gestürzt  wird,  schliesslich  Jonas  von  dem  Ungeheuer 
ans  Land  unter  die  Kürbisstaude  gespieen.  Abbildung  nach  Garrucci 1). 

39. 

Relief  von  einem  Sarkophag  aus  dem  Vaticanischen  Coemeterium, 
jetzt  im  Lateranmuseum.  (Taf.  V.) 

Rechts  sitzt  Maria  auf  einem  Lehnstuhl,  mit  Tunika,  Stola  und 
Kopftuch  bekleidet,  die  Füsse  auf  einen '  Schemel  stützend,  und  hält 
das  mit  Tunika  bekleidete  Kind  auf  dem  Schoosse.  Von  links  her 
schreiten  die  drei  Magier.  Die  rechte  Hand  des  vordersten  ist  ab¬ 
gebrochen,  in  der  linken  hält  er  einen  Kranz.  Hinter  dem  ersten 
und  zweiten  die  Köpfe  zweier  Kamele  sichtbar. 

Links  von  der  Gruppe  Ezechiels  Vision  von  der  Wiederbelebung 
der  Todtengebeine  2).  Unsere  Abbildung  ist  den  alten  Katakomben¬ 
werken  entnommen3). 

40. 

Relief  von  einem  Sarkophag  im  Museum  zu  Syrakus,  mit  zwei 
Reihen  von  Darstellungen  über  einander.  Der  Sarkophag  wurde  im 
Jahre  1872  gefunden;  er  gehört  nach  Rossi  dem  vierten  Jahrhundert 
an.  (Taf.  V.) 

In  der  Mitte  der  unteren  Abtheilung  sitzt  Maria,  mit  Tunika. 
Stola  und  Kopftuch  bekleidet,  rechts  auf  einem  Lehnstuhl  und  hält 
das  bekleidete  Kind  auf  dem  Schoosse.  Von  links  her  kommen  die 
drei  Magier.  Im  Hintergrund  zwischen  ihnen  die  Köpfe  ihrer  drei 
Kamele. 

Oberhalb  unserer  Gruppe,  als  Centrum  der  obern  Reihe  die 
Rüsten  des  begrabenen  Ehepaares  in  einer  Muschel.  Sonst  enthält 
die  obere  Abtheilung,  von  links  angefangen,  folgende  Darstellungen: 
die  Verurtheilung  des  gefallenen  ersten  Menschenpaares  zur  Arbeit: 
dem  Petrus  wird  vom  Herrn  die  dreimalige  Verleugnung  vorherge¬ 
sagt  ;  die  Heilung  der  Rlutflüssigen ;  Moses  empfängt  die  Gesetz¬ 
tafeln;  Abrahams  Opfer;  Heilung  des  Rlindgeborenen;  Vermehrung 
der  Brode;  Auferweckung  des  Jünglings  von  Nain.  Auf  der  unteren 
Abtheilung  befinden  sich  links  von  unserer  Gruppe :  die  drei  ebräischen 


0  Garrucci  T.  384.  7. 

2)  Ezech.  37. 

3)  Bosio  p.  95;  Aringhi  I,  p.  327;  Bottari  T.  38;  Garrucci  T.  398,  3; 
Schultze  Nr.  12. 


311 


Jünglinge  vor  der  Büste  Nabuchodonosors  und  die  Verwandlung  des 
Wassers  in  Wein;  rechts  der  Sündenfall  und  der  Einzug  Christi  in 
Jerusalem.  Unsere  Abbildung  nach  Garrucci x). 

41. 

Relief  von  einem  Sarkophagdeckel  im  Lateranmuseum.  (Taf.  V.) 

Auf  der  rechten  Seite  sitzt  Maria  in  Tunika,  Stola  und  Kopf¬ 
tuch  auf  einem  Lehnsessel  und  hält  das  Kind  auf  dem  Schoosse,  das 
nach  dem  Kranze  greift,  den  der  vorderste  Magier  bringt.  Ueber 
dem  Kopf  Marias  der  Stern.  Die  Magier  kommen  von  links,  die 
zwei  hinteren  mit  ihren  Kamelen. 

Die  linke  Partie  des  Reliefs  nimmt  die  Büste  der  Begrabenen 
zwischen  Genien  ein.  Abbildung  nach  Garrucci 2). 

42. 

»Sarkophag-Relief.  Im  Lateranmuseum. 

Rechts  Maria  (Tunika,  Stola,  Kopftuch)  auf  einem  durchflochtenen 
Lehnstuhle  (nach  links).  Auf  ihrem  Schoosse  steht  nach  vorne  ge¬ 
neigt  das  Kind,  gewickelt.  Links  drei  Magier  in  schreitender  Be¬ 
wegung  mit  zwei  Kamelen.« 

Diese  Beschreibung  ist  wörtlich  aus  Schultze  entnommen 3).  Das 
Monument  scheint  identisch  zu  sein  mit  demjenigen,  welches  Garrucci 
in  dem  Appendix  zum  4.  Bande  unter  Nr.  36  beschreibt,  ohne  eine 
Abbildung  beizugeben. 

43. 

»Sarkophag-Relief  im  Klosterhof  von  S.  Paolo  fuori  le  mura. 
Fragment. 

Dem  vorigen  ganz  entsprechend.« 

Wörtlich  aus  Schultze4). 

44. 

Relief  im  Lateranmuseum.  Verdorbenes  Fragment. 

Maria  sitzend,  mit  dem  Kinde  an  der  Brust.  Die  Magier  mit 
ihren  Kamelen  5). 


3  Rossi,  bullet.  1872,  p.  81  ff.;  Garrucci  T.  365,  1;  Schultze  Nr.  30. 

2)  Garrucci  T.  385,  2. 

3)  Schultze  Nr.  20. 

4)  Schultze  Nr.  20.  a. 

5)  Garrucci,  Append.  zum  Bd.  V,  Nr.  53. 


312 


Eine  weitere  Variante  bieten  die  folgenden  Nummern.  Die 
Reitthiere  der  Magier  sind  weggelassen,  dagegen  ist  eine  männliche 
Figur  beigegeben,  die  bald  für  Joseph,  bald  für  einen  Propheten, 
bald  für  den  heiligen  Geist  gehalten  wird. 

45. 

Relief  von  einem  Sarkophag,  gefunden  1838  bei  der  Confession  in 
San  Paolo  fuori  le  mura,  jetzt  im  Lateranmuseum,  mit  zwei  Reihen 
von  Darstellungen  über  einander.  (Taf.  V.) 

In  der  untern  Abtheilung  auf  der  linken  Seite  sitzt  Maria  auf 
einem  durchflochtenen  Lehnstuhl,  die  Füsse  auf  einem  Schemel.  Sie 
ist  mit  Tunika,  Stola  und  Kopftuch  bekleidet  und  hält  das  mit 
Tunika  bekleidete  Kind,  dessen  Köpfchen  fehlte,  aber  jetzt  ersetzt 
ist,  auf  dem  Schoosse.  Hinter  ihrem  Stuhle  steht  Joseph  (nach 
Garrucci’s  Erklärung)  oder  der  heilige  Geist  (nach  Rossi).  Von  rechts 
kommen  die  drei  Magier  herbei,  deren  vorderster  mit  der  rechten 
Hand  auf  den  (in  Gedanken  zu  ergänzenden)  Stern  zeigt,  während 
er  mit  der  linken  das  Geschenk  darreicht,  nach  welchem  das  Kind  greift. 

Die  Darstellungen  der  oberen  Reihe  sind,  von  links  angefangen, 
folgende:  Erschaffung  der  Eva  durch  die  Trinität  (oder  Gott  in  Be¬ 
gleitung  zweier  Engel  nach  Schultze1);  die  Verurtheilung  des  ge¬ 
fallenen  ersten  Menschenpaares  zur  Arbeit;  die  Büsten  des  begrabenen 
Ehepaars  in  einer  Muschel  als  Centrum;  die  Verwandlung  des  Wassers 
in  Wein;  die  Brodvermehrung;  die  Auferweckung  des  Lazarus  (frag¬ 
mentarisch).  Die  untere  Reihe  eröffnet  unsere  Gruppe,  dann  folgt 
die  Heilung  des  Blindgeborenen;  Daniel  zwischen  den  Löwen;  die 
Verleugnung  des  Herrn  durch  Petrus;  die  Gefangennehmung  des 
Moses  oder  Petrus;  schliesslich:  Moses  Wasser  aus  dem  Felsen 
schlagend.  Unsere  Abbildung  ist  nach  einer  Photographie  angefertigt 2). 

40. 

Relief  von  dem  Deckel  eines  Sarkophags  in  S.  Ambrogio  in 
Mailand.  (Taf.  V.) 

Auf  der  rechten  Seite  auf  einem  Felsen  sitzt  Maria,  mit  Tunika, 
Stola  und  Kopftuch  bekleidet,  nach  links  gewendet,  das  bekleidete 
Kind,  dem  das  Köpfchen  fehlt,  mit  den  Händen  im  Schoosse  haltend. 


3  A.  a.  0.  S.  150. 

2)  Rossi,  bullet.  1865,  p.  68  ff.;  Garrucci,  Tav.  365,  2;  Schultze  Nr.  16  (?) 


313 


Links  im  Hintergrund  St.  Joseph  (nach  Garrucci)  oder  ein  Hirte 
(nach  Schultze).  Von  links  her  die  drei  Magier  hinter  einander. 
Allen  fehlen  die  Köpfe. 

Das  Centrum  ist  eingenommen  von  den  Büsten  des  begrabenen 
Ehepaars.  Links  hievon  als  Gegenstück  unserer  Gruppe  die  drei 
ebräischen  Jünglinge  vor  der  Büste  Nabuchodonosors ;  über  ihnen 
ein  Stern. 

Der  Sarkophag  gehört  dem  vierten  Jahrhundert  an.  Unsere 
Abbildung  nach  Garrucci 1). 

47. 

Relief  von  einem  Sarkophagdeckelfragment  im  Museum  Kirche- 
rianum  zu  Rom.  (Taf.  V.) 

Rechts  sitzt  Maria  auf  einem  Lehnstuhl  mit  dem  eingewickelten 
Kind  in  den  Armen,  dem  die  drei  Magier,  von  links  her  schreitend, 
die  Geschenke  bringen.  Alle  Gesichter  sind  abgebrochen.  Links 
von  dieser  Gruppe  ein  Mann  in  Tunika  und  Pallium,  nach  der 
Gruppe  gekehrt  und  nach  ihr  den  Mittel-  und  den  Zeigefinger  der 
rechten  Hand  ausstreckend.  Garrucci  erklärt  die  Figur  für  Jesaias, 
Schultze2)  für  Joseph. 

Weiterhin  Büste  einer  Frau.  Unsere  Abbildung  nach  Garrucci 3). 

48. 

Relief  von  einem  Sarkophag  im  Lateranmuseum.  Fragment. 

Auf  einem  verhüllten  Lehnstuhle  sitzt  Maria,  in  den  Mantel 
gehüllt  und  stützt  die  Fiisse  auf  einen  Schemel.  Auf  dem  Schoosse 
hält  sie  das  Kind,  das  nach  dem  Geschenke  greift,  welches  ein 
Magier  darbringt.  Der  Magier  zeigt  zugleich  nach  dem  Sterne  in 
der  Höhe.  Hinter  dem  Sessel  der  Jungfrau  steht  Joseph,  in  Tunika 
und  Pallium  gekleidet. 

Diese  Notiz  ist  dem  Appendix  zum  4.  Bande  Garrucci’s,  Nr.  37 
entnommen.  Das  Monument  scheint  identisch  mit  demjenigen,  welches 
Schultze  unter  Nr.  19  aufführt,  obgleich  die  Beschreibung  nicht  ganz 
stimmt.  Mehr  passte  Schultze’s  Beschreibung  Nr.  23,  allein  hier 
handelt  es  sich  um  ein  Monument  des  Museum  Kircherianum. 


')  Garrucci,  T.  329,  1;  Schultze  Nr.  31. 

2)  Archäolog.  Studien  S.  259,  3. 

3)  Garrucci  T.  398,  2. 


314 


49. 

»Sarkophag-Relief.  Im  Museo  Kircheriano.  Fragment. 

Maria  nach  rechts  schauend,  auf  einem  Lehnstuhle  mit  Suppe- 
daneum.  Kleidung:  Stola  und  Pallium,  letzteres  zugleich  als  Kopf¬ 
tuch  verwandt.  Auf  ihrem  Schoosse,  nach  rechts  blickend,  in  Tunika 
der  Knabe.  Rechts  ein  Magier  (die  übrigen  ausgebrochen).  Hinter 
dem  Stuhle  links  Joseph,  unbärtig.« 

Wörtlich  aus  Schultze  *). 

50. 

Relief  von  der  rechten  Schmalseite  eines  Sarkophags  in  der 
Kirche  des  h.  Trophimus  zu  Arles,  mit  zwei  Reihen  von  Darstellungen 
über  einander.  (Taf.  VI.) 

In  der  obern  Abtheilung  links  sitzt  Maria  auf  einem  Felsen, 
mit  Tunika  und  Stola  bekleidet,  Kopf  und  Füsse  bloss,  nach  rechts 
gewendet,  das  bekleidete  Kind  auf  dem  Schoosse  haltend,  das  mit 
dem  rechten  Händchen  nach  aufwärts  zeigt.  Hinter  ihr  steht  Joseph 
oder  ein  Hirte,  mit  der  Exomis  (ärmelloses  Unterkleid)  bekleidet.  Zu 
ihren  Füssen  ruhen  Ochs  und  Esel.  Von  rechts  her  kommen  die 
Magier.  Der  vorderste  trägt  mit  der  linken  Hand  einen  Kranz  auf 
einer  Platte,  die  rechte  hat  er  erhoben. 

Die  untere  (halb  zerstörte)  Partie  dieser  Schmalseite  nimmt  der 
Einzug  Christi  in  Jerusalem  ein.  Auf  der  andern  Schmalseite  bildet 
das  Opfer  Kains  und  Abels,  sowie  die  Verfluchung  des  Feigenbaums  (?) 
die  obere  Reihe,  während  unterhalb  die  drei  ebräischen  Jünglinge 
vor  der  Rüste  des  Nabuchodonosor  dargestellt  sind.  Auf  der  vor¬ 
deren  Hauptseite  des  Sarkophags,  wo  manche  Figuren  halb  zerstört 
sind,  lassen  sich  die  Brodvermehrung,  Petri  Verleugnung,  die  Heilung 
des  Blinden,  Moses  Wasser  aus  dem  Felsen  schlagend,  die  betende 
Frau,  die  Heilung  der  Blutflüssigen,  das  Wunder  zu  Kana  noch  leicht 
erkennen;  die  übrigen  Darstellungen  sind  schwer  zu  deuten.  Ab¬ 
bildung  nach  Garrucci*  2). 

Die  letzte  Nummer  bringt,  wie  wir  gesehen  haben,  ein  neues 
Element  in  die  Gruppe,  die  Figuren  von  Ochs  und  Esel,  und  so  mag 
sie  zu  den  folgenden  Darstellungen  hinüberleiten,  auf  welchen  diese 
Thiere  immer  ihre  Stelle  finden.  Die  Gruppirung  ist  verändert; 


9  Schultze  Nr.  23. 

2)  Garrucci  T.  317,  2 — 4. 


315 


Maria  hat  nicht  das  Kind  auf  dem  Schooss,  sondern  sitzt  gewöhn¬ 
lich,  wie  erschöpft  ausruhend,  abseits,  während  das  Kind  eingewickelt 
in  einem  Wiegenkorbe  oder  in  der  Krippe  liegt  und  von  den  beiden 
Thieren  »angebetet«  wird.  Von  einer  andern  Seite  kommen  die 
Magier  mit  ihren  Geschenken  herbei,  und  gewöhnlich  zeigt  der  eine 
oder  andere  auf  den  Stern.  Die  Scene  ist  vervollständigt  durch  die 
Gegenwart  eines  Hirten,  der  meist  neben  Maria  steht,  und  so  sind 
eigentlich  zwei  Vorgänge  aus  der  Geburtsgeschichte  des  Herrn  in 
eine  Handlung  verschmolzen:  Die  Anbetung  der  Hirten  und  die 
Anbetung  der  Magier.  Ochs  und  Esel  verdanken  ihre  künstlerische 
Verwendung  entweder  direkt  den  auf  die  Geburt  Christi  bezogenen 
Stellen  der  Propheten  Jesaias  und  Habakuk,  oder,  was  wahrschein¬ 
licher  ist,  der  auf  dieselben  gebauten  apokryphen  Anekdote,  die  wir 
oben  S.  240  beigebracht  haben.  Jedenfalls  sind  sie  ein  sehr  alter 
Bestandtheil  der  Composition,  indem  schon  ein  Marmorfragment,  das 
aus  dem  Gonsulatsjahr  des  Placidus  und  Romulus,  also  aus  dem 
Jahr  343  stammt,  dieselben  in  Gesellschaft  zweier  Hirten  neben  dem 
neugeborenen  Heiland  aufweist  *).  Auch  die  bis  jetzt  einzige  be¬ 
kannte  Darstellung  der  Krippe  auf  den  Fresken  der  Katakomben, 
in  einer  Grabkammer  von  St.  Sebastian  bei  Rom,  die  auch  noch 
aus  dem  vierten  Jahrhundert  stammt,  hat  sie  nicht  vergessen* 2). 
Darum  sind  auch  diese  »stummen«  Verehrer  des  neugeborenen  Hei¬ 
landes  dem  Prudentius  geläufig,  der  in  ihnen  die  Repräsentanten 
des  »ungelehrten  Haufens«  erkennt3);  nicht  minder  ist  Hieronymus 
von  ihrer  Anwesenheit  bei  der  Krippe  überzeugt  als  Beweis  der  Er¬ 
füllung  der  genannten  Prophezieen  4). 

51. 

Relief  von  dem  Deckel  eines  Sarkophags,  der  »unter  dem  Pflaster 
der  Vatikanischen  Basilika  gefunden  wurde,  von  dem  man  aber  jetzt 
nicht  weiss,  ob  er  noch  existirt  und  wo  er  sich  befindet«.  So  sagt 
Garrucci.  Schultze  aber  sagt:  »Sarkophagrelief  aus  S.  S.  Pietro  e 
Marcellino.  Jetzt  im  Lateranmuseum.«  Sowohl  Garrucci  als  Schultze 
setzen  bei,  dass  es  sich  um  den  Sarkophag  handle,  der  bei  Bottari  T.  22 
abgebildet  sei.  Einer  von  beiden  muss  sich  also  geirrt  haben.  (Taf.  VI.) 


0  Rossi,  Inscript.  Christ.  Rom  1861,  p.  51,  Nr.  73. 

2)  Rossi,  bullet.  1877,  p.  141,  Tav.  II;  1878,  p.  58. 

3)  Gathem.  XI,  80  ff. 

*)  Hieron.  ad  Eustoch.  ed.  Vallarsi,  T.  I,  co!.  698. 


316 


Auf  der  rechten  Seite  sitzt  Maria,  in  Tunika,  Stola  und  Kopf¬ 
tuch  gehüllt,  zwischen  zwei  Palmen  auf  einem  Felsen  und  schaut 
aus  dem  Bilde  heraus.  Die  linke  Hand  liegt  auf  dem  Felsen  auf, 
die  rechte  ruht  unter  der  Brust.  Links  neben  ihr  steht  ein  Hirte, 
der  in  der  linken  Hand  den  gebogenen  Hirtenstab  hält  und  die 
rechte  Hand  gegen  das  Kind  ausstreckt,  welches  eingewickelt  in  einem 
Wiegenkorbe  liegt.  Links  von  dem  Kinde  stehen  Ochs  und  Esel 
nebeneinander,  gegen  das  Kind  gewendet.  Im  Hintergründe  der 
Stall.  Von  links  her  kommen  die  drei  Magier.  Der  vorderste,  der 
sich  nach  seinen  Genossen  umschaut,  trägt  in  der  linken  Hand  einen 
Kranz,  in  der  rechten  Hand  einen  Krug  (goldene  Geräthe?),  der 
hinterste  zwei  Vögel  (nach  Garrucci’s  Erklärung:  die  Myrrhe  in  Form 
von  zwei  Vögeln  geknetet)  auf  einer  Platte.  Diese  Composition  nimmt 
die  eine  Hälfte  des  Reliefs  ein. 

Als  Gegenstück  zeigt  die  linke  Hälfte  die  Jünglinge  im  Feuerofen 
und  Nabuchodonosor  auf  dem  Throne.  Abbildung  aus  den  alten 
Katakombenwerken  J). 

52. 

Relief  von  einem  Sarkophagdeckelfragment ,  gefunden  bei  der 
Kirche  von  S.  Sebastian  auf  der  appischen  Strasse.  (Taf.  VI.) 

Dieselbe  Composition  wie  die  vorige  Nummer  mit  einigen  Ab¬ 
weichungen. 

Rechts  sitzt  Maria  auf  einem  Felsen,  mit  Tunika,  Stola  und 
Kopftuch  bekleidet,  und  schaut  aus  dem  Bilde  heraus.  Die  rechte 
Hand  hält  sie  vor  der  Brust  und  lässt  die  linke  auf  dem  Felsen 
ruhen.  Links  neben  ihr  ein  kahlköpfiger  Flirte,  die  rechte  Hand  be¬ 
wundernd  erhoben,  in  der  linken  den  Hirtenstab  haltend,  gegen 
Maria  hinschauencl.  Weiter  links  das  eingewickelte  Kind  in  einem 
Wiegenkorbe,  davor  Ochs  und  Esel,  im  Hintergrund  der  Stall.  Schliess¬ 
lich  die  drei  Magier.  Der  vorderste  trägt  in  der  linken  Hand  einen 
Kranz,  in  der  rechten  einen  Krug,  den  er  gegen  den  Stern  hinauf¬ 
schwingt,  der  neben  dem  Stalldach  angebracht  ist.  Er  schaut  sich 
nach  den  Genossen  um;  der  mittlere  trägt  Weihrauchkörner  auf  einer 
Platte,  der  hinterste  zwei  Vögel.  Abbildung  nach  Garrucci  2). 


J)  Bosio  p.  63;  Aringhi  I,  p.  295;  Bottari  T.  22;  Garrucci  T.  334,  2; 
Schultze  Nr.  10. 

2)  Bosio  p.  289 ;  Aringhi  1 ,  617 ;  Bottari  T.  86 ;  Garrucci  T.  398 ,  7 ; 
Schultze  Nr,  15. 


317 


53. 

Relief  von  einem  Sarkophagdeckel  im  Museum  zu  Syrakus. 
Dieser  Deckel  befindet  sich  auf  dem  Sarkophag,  der  oben  unter 
N.  40  beschrieben  ist,  gehört  aber  nicht  dazu.  (Taf.  VI.) 

Wieder  dieselbe  Composition.  Rechts  Maria  auf  dem  Felsen, 
links  davon  der  Hirte,  dann  das  Kind  mit  Ochs  und  Esel  vor 
dem  Stalle,  schliesslich  die  drei  Magier,  deren  vorderster,  ohne  sich 
umzuschauen,  mit  dem  Zeigefinger  der  rechten  Hand  auf  den  Stern 
deutet. 

Von  dem  Gegenstück  dieser  Composition,  welches  die  linke 
Hälfte  des  Reliefs  einnimmt,  wird  unter  N.  74  die  Rede  sein.  Ab¬ 
bildung  nach  Garrucci  *). 

54. 

Relief  von  einem  Sarkophagdeckelfragment  im  Lateranmuseum. 
(Taf.  VI.) 

Noch  einmal  dieselbe  Composition.  Zwischen  Maria  und  dem 
jugendlichen  Hirten  ein  Baum.  Der  vorderste  Magier  deutet  mit  der 
rechten  Hand  nach  dem  Stern  und  schaut  sich  nach  seinen  Ge¬ 
nossen  um.  Hinter  dem  letzten  ist  noch  ein  Kamel  zu  sehen.  Ab¬ 
bildung  nach  einer  Photographie  2). 

55. 

R.elief  von  dem  Deckel  eines  Sarkophags  in  der  Kathedrale  zu 
Ancona  (mit  Inschrift,  die  auf  das  Ende  des  vierten  Jahrhunderts 
hinweist).  (Taf.  VI.) 

Auf  der  linken  Seite  sitzt  Maria  auf  einem  Felsen,  mit  Tunika, 
Stola  und  Kopftuch  bekleidet.  Mit  der  linken  Hand  stützt  sie  das 
Kinn.  Rechts  von  ihr  liegt  das  eingewickelte  Kind  in  der  Krippe, 
darüber  das  Stalldach,  unter  welchem  der  Esel  hervorschaut,  während 
der  Ochse  rechts  von  der  Krippe  steht.  Hinter  dem  Ochsen  ein 
jugendlicher  Hirte.  Von  rechts  her  kommen  die  drei  Magier. 

Rechts  von  unserer  Gruppe  die  Inschrifttafel ,  dann  (nach 
Garrucci’s  Deutung)  Moses,  die  Gesetztafeln  empfangend;  Goliath  und 
David;  die  Taufe  Christi  und  noch  eine  Figur.  Unsere  Abbildung 
nach  Garrucci 3). 


3  Garrucci  T.  365,  1;  Schultze  Nr.  30 a- 

2)  Garrucci  T.  398,  5. 

3)  Garrucci  T.  326,  1 ;  Schultze  Nr.  34. 


318 


56. 

Relief  von  einem  Sarkophag  im  Museum  zu  Arles.  (Taf.  VI.) 

Die  Vorderseite  dieses  Sarkophags  ist  in  fünf  Felder  eingetheilt. 
Das  mittlere  Feld  hat  zwei  Abtheilungen,  eine  über  der  andern. 
Auf  der  obern  Abtheilung  sitzt  Maria  links  (wahrscheinlich)  auf  einem 
Felsstück.  Sie  stützt  das  Kinn  auf  die  rechte  Hand.  Ueber  ihrem 
Kopf  den  Stern.  Rechts  von  Maria  liegt  das  Kind  eingewickelt  in 
einem  Wiegenkorbe.  Von  rückwärts  schaut  Ochs  und  Esel  unter 
dem  Stalldach  hervor.  Rechts  neben  dem  Kinde  ein  jugendlicher 
Hirte,  in  die  Exomis  gekleidet.  Auf  der  untern  Abtheilung  sind  die 
drei  Magier  in  lebhafter  Bewegung,  den  Stern  zeigend  oder  nach 
ihm  aufschauend  dargestellt. 

Dieses  zweitheilige  Mittelfeld  ist  von  zwei  Feldern  mit  Wellen¬ 
linien  eingerahmt.  Auf  dem  äussersten  Felde  links  empfängt  Moses 
die  Gesetzestafeln,  auf  dem  letzten  Feld  rechts  befindet  sich  Abrahams 
Opfer.  Unsere  Abbildung  nach  Garrucci  x). 

Nun  folgen  noch  zwei  Compositionen,  von  denen  jede  nur  einen 
der  beiden  Vorgänge  aus  der  Kindheitsgeschichte  Christi,  welche 
die  vorhergehenden  vereinigt  hatten,  zur  Anschauung  bringt,  die 
erstere  die  Anbetung  der  Magier,  die  letztere  die  Anbetung  der  Hirten. 
Sie  haben  aber  mit  den  vorhergehenden  Nummern  das  Gemeinsame, 
dass  auch  bei  ihnen  Maria  abseits  sitzt  und  das  Kind,  im  Wiegenkorbe 
oder  in  der  Krippe  liegend,  von  Ochs  und  Esel  angebetet  wird. 

57. 

Relief  von  einem  Sarkophagdeckel  in  der  Krypta  der  St.  Maximins¬ 
kirche  zu  St.  Maximin  in  der  Provence.  (Taf.  VI.) 

Auf  der  rechten  Seite  sitzt  Maria  ohne  Zweifel  auf  einem  Fels¬ 
stück  und  stützt  das  Kinn  mit  der  rechten  Hand,  während  die  linke 
im  Schoosse  ruht.  Sie  ist  mit  Tunika,  Stola  und  Kopftuch  bekleidet. 
Links  über  ihrem  Haupte  der  Stern.  Links  von  ihr  das  eingewickelte 
Kind  in  der  Krippe,  auf  welches  Ochse  und  Esel  unter  dem  Stall¬ 
dach  hervorschauen.  Von  links  her  kommen  die  Magier,  über  der 
gewöhnlichen  Kleidung  den  Mantel  tragend.  Der  sich  umschauende 
vorderste  trägt  einen  Kranz  in  der  rechten  Hand. 

Als  Gegenstück  auf  der  linken  Partie  des  Reliefs  der  Kinder¬ 
mord.  Unsere  Abbildung  nach  Garrucci *  2). 


!)  Garrucci  T.  310,  4;  Schultze  Nr.  26. 

2)  Garrucci  T.  334,  3. 


319 


58. 

Relief  von  dem  Deckel  eines  Sarkophags  in  cler  Kathedrale  zn 
Mantua.  (Taf.  VI.) 

Auf  der  linken  Seite  sitzt  Maria,  in  Tunika,  Stola  und  Kopftuch 
gekleidet,  auf  einem  verhüllten  Lehnstuhl  und  stützt  mit  der  linken 
Hand  das  Kinn.  Rechts  von  ihr  liegt  das  Kind  in  der  Krippe,  da¬ 
neben  Ochs  und  Esel,  hinter  denen  ein  Hirte  in  Exomis.  Im  Hinter¬ 
grund  der  Stall  angedeutet.  Ueber  dem  Kopf  der  Maria  der  Stern. 
Unsere  Abbildung  nach  Garrucci  *). 

Die  figurenreichsten  Compositionen,  worin  wieder  beide  Vor¬ 
gänge  (Anbetung  der  Magier  und  Hirten)  zur  Darstellung  gelangen, 
sind  durch  die  drei  folgenden  Nummern  gegeben.  Das  Kind  er¬ 
scheint  hier  zweimal  in  verschiedenen  Stadien  seiner  Entwickelung; 
bei  der  Anbetung  der  Magier  schon  aufrechtsitzend  und  bekleidet 
auf  dem  Schooss  seiner  Mutter;  bei  der  Anbetung  der  Hirten  in 
Windeln  gewickelt  in  der  Krippe  oder  im  Wiegenkorbe. 

59. 

Relief  von  einem  Sarkophagdeckel  im  Lateranmuseum.  Dieser 
Deckel  befindet  sich  nicht  ganz  unversehrt  dort.  »Das  Frag¬ 
ment  von  Sutri«  2)  bildet  einen  Theil  davon.  Zu  Bosio’s  Zeiten, 
der  ihn  in  der  »Kalixtuskatakombe«  fand,  war  er  noch  ganz. 
(Taf.  VI.) 

Auf  der  linken  Seite  sitzt  Maria  auf  einem  verhüllten  Lehnstuhl. 
Sie  ist  mit  Tunika,  Stola  und  Kopftuch  bekleidet  und  hält  das  be¬ 
kleidete  Kind,  dem  jetzt  der  Kopf  fehlt,  auf  dem  Schooss.  Hinter 
dem  Stuhl  St.  Joseph,  der  mit  der  rechten  Hand  die  Stuhllehne  ge¬ 
fasst  hat,  mit  der  linken  seinen  Mantel  heranzieht.  Von  rechts 
kommen  die  drei  Magier  mit  ihren  Kamelen.  Der  vorderste  zeigt 
mit  der  rechten  Hand  nach  oben  auf  den  (zu  ergänzenden)  Stern 
und  trägt  in  der  linken  Hand  einen  Kranz,  der  zweite  trägt  ein 
paar  Vögel,  der  dritte  (Weihrauch-)Kugeln  auf  einer  Platte.  Weiter 
rechts  liegt  das  eingewickelte  Kind  auf  der  verhangenen  Krippe, 
hinter  welcher  Ochs  und  Esel  hereinschauen.  Zu  den  beiden  Seiten 
der  Krippe  steht  je  ein  Hirte,  mit  der  Exomis  bekleidet. 

Das  Gegenstück  auf  der  rechten  Partie  des  Reliefs  bilden  zwei 


9  Garrucci  T.  320,  2. 

2)  Rossi,  bullet.  1865,  p.  27. 


320 


Scenen  aus  der  Geschichte  des  Jonas.  Unsere  Abbildung  ist  den 
alten  Katakombenwerken  entnommen  *). 

60. 

Relief  von  einem  Sarkophagdeckel  im  Lateranmuseum.  (Taf.  VI.) 

Auf  der  linken  Seite  sitzt  Maria,  in  Tunika,  Stola  und  Kopftuch 
gekleidet,  auf  einem  Lehnstuhl  und  hält  das  in  Tunika  gekleidete 
Kind  auf  dem  Schoosse,  welches  nach  dem  von  dem  vordersten  der 
drei  Magier  dargereichten  Kranze  greift.  Zwischen  den  Köpfen  der 
Magier  sind  die  Köpfe  ihrer  Kamele  sichtbar.  Diese  Scene  ist  rechts 
durch  eine  Palme  begrenzt.  Dann  folgt  das  eingewickelte  Kind  in 
der  Wiege  unter  einem  Dache,  von  Ochs  und  Esel  verehrt  und  von 
einem  Hirten  angestaunt.  Dann  folgt  wieder  eine  Palme. 

Hierauf  ein  Mann  mit  erhobener  rechter  Hand,  während  die 
linke  eine  Schriftrolle  hält,  nach  Garrucci  der  Prophet  Jesaias. 

Weiterhin  rechts,  das  Centrum  des  Reliefs  bildend,  Daniel 
zwischen  den  Löwen;  dann  eine  Frauengestalt  in  einem  Buche  lesend, 
dabei  der  Name  GRISPINA;  hierauf  zwei  männliche  Figuren;  weiter 
die  Brodvermehrung;  die  Gefangennehmung  Petri  oder  Mosis;  zuletzt 
Moses  das  Wasser  aus  dem  Felsen  schlagend.  Abbildung  nach  einer 
Photographie *  2). 

61. 

Sarkophagrelief  im  Lateranmuseum.  (Taf.  VII.) 

Links  Bäume.  Die  drei  Magier,  mit  zwei  Kamelen,  schreiten, 
ihre  Geschenke  tragend,  nach  rechts,  der  Mutter  mit  dem  Kinde  zu. 
Maria  sitzt  mit  dem  eingewickelten  Kinde  in  den  Armen  auf  einem 
durchflochtenen  Lehnstuhl.  Kleidung:  Tunika,  Stola,  Kopftuch. 
Hinter  ihr  nach  rechts  das  Stalldach,  unter  welchem  das  Kind  in 
einem  Wiegenkorbe,  von  Ochs  und  Esel  angebetet.  Daneben  rechts 
ein  Hirte  mit  dem  Stab  in  der  rechten  Hand,  die  linke  erhebend; 
schliesslich  wieder  Bäume.  Abbildung  nach  einer  Photographie. 
Das  Monument  ist  bei  Garrucci  nicht  abgebildet.  Vielleicht  ist  es 
dasselbe,  welches  wir  unter  No.  42  besprochen  haben.  In  Barbier 
de  Montault’s  Katalog  ist  es  kurz  genannt 3). 

6  Bosio  p.  287;  Aringhi  I.  p.  615;  Bottari  T.  85;  Garrucci  T.  380,  4; 
Schultze  Nr.  14  u.  32. 

2)  Garrucci  T.  384,  5. 

3)  Les  musees  et  galeries  de  Borne.  (Rom,  Spithöver  1870)  p.  64:  »adoration 
des  mages,  creche.« 


321 


Die  nächsten  Nummern  führen  noch  einige  Sarkophagfragmente 
vor,  auf  welchen  einzelne  Partieen  von  der  Anbetung  der  Hirten  und 
Magier,  oder  von  einer  von  beiden  erhalten  sind. 

62. 

Relief  von  einem  Sarkophagdeckel  im  Lateranmuseum;  Fragment. 

Das  eingewickelte  Kind  in  der  Wiege  und  der  Kopf  des  Esels 
unter  dem  Stalldach.  Rechts  davon  der  Stern  und  Maria  in  Tunika, 
Stola  und  Kopftuch,  das  Kinn  auf  die  rechte  Hand  gestützt  1). 

63. 

Relief  von  einem  Sarkophag  im  Museum  zu  Arles.  Fragment. 

Zwei  Abtheilungen,  die  eine  unter  der  andern.  Auf  der  obern 
Abtheilung  das  Kind  in  Windeln  in  der  Krippe,  Ochs  und  Esel  dabei 
und  links  ein  Hirte,  rechts  ein  Fragment  von  der  sitzenden  Maria. 
Auf  der  untern  Abtheilung  ein  Magier  und  die  Spur  eines  zweiten2 3). 

64. 

R.elief,  gefunden  in  der  Villa  Pamphili.  Fragment. 

Maria  sitzend,  mit  dem  Kinde  auf  dem  Schooss8). 

65. 

Relief  in  der  Kirche  S.  Trophimus  in  Arles.  Fragment. 

Maria  mit  dem  Kinde  4).  Ist  wohl  identisch  mit  dem  von  Cahier 
publicirten  Fragment:  Maria  mit  dem  Kinde  auf  dem  Schooss,  auf 
einem  Felsen  sitzend;  hinter  ihr  ein  Hirte  (oder  Joseph)  in  Exomis5). 

66. 

»Sarkophag-Relief.  Lateran-Museum.  Fragment. 

Maria  in  Tunika  und  Stola  auf  einem  Lehnstuhle.  Der  Kopf 
ist  abgestossen ,  ebenso  derjenige  des  Knaben,  der  auf  ihrem 
Schoosse  sitzt.« 

Wörtlich  aus  Schultze  6 *). 


6  Garrucci  T.  398.  6;  Schultze  Nr.  33. 

2)  Garrucci  T.  399,  1;  Cahier,  Nouveaux  melanges  etc.  Paris  1875,  p.  92. 

3)  Piossi,  Imag.  Text  p.  6. 

4)  Rossi,  Imag.  Text  p.  6,  Anm.  3. 

5)  Nouveaux  melanges  etc.  Paris  1875,  p.  80. 

6)  Nr.  21. 

Lehn  er,  Die  Marienverehrnng. 


21 


322 


67. 

»Sarkophag-Relief.  Im  Lateran-Museum.  Fragment. 

Maria  (Tunika,  Stola,  Schleier)  auf  einem  Lehnstuhle.  Der  Kopf 
des  Knaben,  welcher  auf  ihrem  Schoosse  sitzt,  abgestossen.« 

Wörtlich  aus  Schultze  1). 

68. 

Nun  ist  noch  das  Fragment  einer  Marmorvase  mit  Reliefs  im 
Museum  Kircherianum  zu  erwähnen,  welche  Garrucci  für  ein  Werk 
des  vierten  Jahrhunderts  zu  halten  geneigt  ist.  Auf  der  einen  Seite 
derselben  sitzt  Maria  mit  dem  nackten  Kinde  an  der  Brust  auf  einem 
Thronsessel  mit  Fussbänkchen  inmitten  von  ursprünglich  sechs 
Magiern  (nach  Garrucci)  oder  Hirten  (nach  Schultze),  von  denen 
aber  nur  noch  vier  sehr  fragmentarisch  sichtbar  sind.  Bei  Maria 
ist  ebenfalls  das  Gesicht  und  ein  Theil  des  rechten  Armes  abge¬ 
stossen,  auch  das  Kind  ist  verstümmelt. 

Das  Gegenstück  hiezu  bildet  auf  der  andern  Seite  der  Vase 
Christus  thronend  zwischen  den  Aposteln 2). 

Ausser  diesen  beiden  Lieblingsscenen  aus  dem  Marienleben,  der 
Anbetung  der  Hirten  und  Magier,  hat  die  altchristliche  Skulptur  auch 
noch  einige  andere  darzustellen  unternommen,  aber  bei  weitem  nicht 
so  häufig;  ja  es  sind  uns  nur  ganz  vereinzelte  Specimina  aufbewahrt 
und  bei  einigen  von  diesen  ist  die  Deutung  noch  keine  ausgemachte 
Sache.  Mit  Sicherheit  lässt  sich  die  nächste  Nummer  erklären. 

69. 

Relief  von  der  rechten  Schmalseite  eines  Sarkophags  in  Ravenna; 
nach  Schultze  in  San  Francesco  daselbst.  Stammt  aus  dem  Anfang 
des  fünften  Jahrhunderts.  (Taf.  VII.) 

Auf  der  linken  Seite  sitzt  Maria,  in  Stola  und  Kopftuch  gekleidet, 
auf  einem  Sttihlchen  ohne  Lehne.  In  der  erhobenen  linken  Fland 
hält  sie  einen  Spinnrocken,  dessen  unterer  Theil  abgebrochen  ist. 
Die  rechte  Fland  ist  ebenfalls  abgebrochen.  Vor  ihr,  gegen  rechts, 
steht  ein  Korb  mit  der  purpurgefärbten  Wolle.  Rechts  steht  der 
bekleidete  geflügelte  Engel,  in  der  linken  Fland  einen  Stab  haltend; 
die  rechte  Hand,  die  zur  Begleitung  der  Anrede  erhoben  war,  ist 


9  Nr.  22. 

2)  Rossi,  Imag.  Text  p.  12;  Garrucci  T.  427;  Schultze  a.  a.  0.  p.  283. 


323 


abgebrochen.  Diess  ist  also  ein  Verkündigungsbild  und  zwar  hat 
sich  der  Künstler  an  die  Erzählung  des  Protevangeliums  gehalten. 
(S.  oben  S.  229.) 

Das  Relief  von  der  linken  Schmalseite  bringt  die  folgende 
Nummer.  Auf  der  vorderen  Hauptseite  thront  Christus  zwischen 
Petrus  und  Paulus.  Unsere  Zeichnung  ist  nach  einer  Photographie 
angefertigt x). 

Weniger  sicher  ist  die  Auslegung  der  folgenden  Nummer. 

70. 

Relief  von  der  linken  Schmalseite  des  in  der  vorhergehenden 
Nummer  genannten  Sarkophags.  (Taf.  VII.) 

Zwischen  zwei  Räumen  gehen  zwei  Personen  auf  einander  zu, 
um  sich  die  rechte  Hand  zu  reichen,  die  bei  beiden  jetzt  mehr  oder 
weniger  zerstört  ist.  Auch  die  Gesichter  sind  zerstört.  Die  Kleidung 
ist  bei  beiden  ganz  dieselbe :  faltenreiche  Untergewänder  und  Mäntel. 
Mit  der  linken  Hand  nehmen  beide  das  Gewand  herauf.  Die  Be¬ 
wegung  beider  Figuren  ist  ebenfalls  sehr  ähnlich,  doch  thut  sich  die 
Bewegung  der  rechts  befindlichen  durch  etwas  mehr  Lebhaftigkeit 
hervor.  Sie  scheint  anzukommen ,  während  die  links  befindliche 
entgegenkommt.  Wir  denken  daher  bei  dieser  Darstellung  an  die 
Heimsuchung  der  Elisabeth,  denn  beide  Figuren  scheinen  uns  weib¬ 
liche  zu  sein ;  während  Garrucci,  nach  der  Photographie  des  Reliefs, 
nach  welcher  auch  wir  unsere  Abbildung  geben,  urtheilend,  in  einer 
von  den  beiden  Figuren  eine  männliche  erkennt  und  datier  hier  die 
Vermählung  der  h.  Jungfrau  mit  Joseph  sieht.  Abbildung  nach 
Photographie*  2). 

71. 

Relief  von  einem  Sarkophag  im  Museum  zu  Le  Puy.  Frag¬ 
ment.  (Taf.  VII.) 

Links  unter  einem  Thorbogen  eine  jugendliche  männliche  Gestalt 
mit  Nimbus,  die  rechte  Hand  segnend  erhoben.  Zu  deren  Füssen 
ein  bärtiger  Mann  schlafend.  Rechts  daneben  eine  jugendliche  weib¬ 
liche  Figur  mit  dem  Schleier,  die  die  linke  Hand  in  die  rechte  eines 
bärtigen  Mannes  legt.  In  der  Mitte  hinter  den  beiden  eine  nimbirte 
jugendliche  männliche  Figur  mit  einer  Rolle  in  der  linken  Hand. 


9  Garrucci  T.  344,  3;  Schultze  Nr.  28. 

2)  Garrucci  T.  344,  2. 


324 


Garrucci  sieht  in  der  erstem  Gruppe  die  Sendung  des  Engels  an 
den  schlafenden  Joseph,  in  der  zweiten  die  Vermählung  Mariens, 
welcher  ein  Engel  assistirt.  Wir  stimmen  bei. 

Weiter  rechts  noch  drei  Figuren  mit  zwei  Bäumen  im  Hinter¬ 
grund.  Garrucci  hält  diese  Figuren  für  Christus  mit  den  beiden  Aposteln 
bei  Joh.  I.  38,  39.  Abbildung  nach  Garrucci a). 

72. 

Relief  von  einem  Sarkophage  im  Museum  zu  Arles  mit  zwei 
Reihen  von  Darstellungen  über  einander.  (Taf.  VII.) 

Ein  Mann  (dessen  Kopf  ausgebrochen  ist) ,  gekleidet  in  die 
Paenula  (Ueberkleid  bei  schlechtem  Wetter  und  auf  Reisen),  hat  mit 
der  rechten  Hand  den  linken  Arm  eines  Kindes  gefasst,  welches  in 
die  Alicula  (leichtes  Oberkleid)  gekleidet  ist,  und  führt  dasselbe  einer 
Frau  zu,  die  die  rechte  Hand  ihm  entgegenstreckt.  Rossi  sieht 
darin  die  heilige  Familie  oder  vielmehr  das  Wiederfinden  des  zwölf¬ 
jährigen  Jesus *  2). 

Die  übrigen  Darstellungen  sind,  links  von  oben  angefangen, 
folgende:  Daniels  Urtheil;  Abrahams  Opfer;  die  Büsten  des  begrabenen 
Ehepaars  in  einem  Rund  als  Centrum  der  Darstellungen;  Moses,  das 
Gesetz  erhaltend;  Susanna  von  den  Alten  belauscht;  Händewaschung 
Pilati.  Auf  der  untern  Abtheilung:  die  drei  ebräischen  Jünglinge 
vor  der  Büste  des  Nabuchoclonosor ;  Daniel  zwischen  den  Löwen; 
Pharaos  Untergang  im  rothen  Meere;  die  Rettung  der  Ebräer  aus 
demselben;  schliesslich  unsere  Gruppe,  die  sich  übrigens  auch  als 
Theil  der  vorhergehenden  Scene  fassen  liesse.  Abbildung  nach 
Garrucci 3). 

73. 

Relief  von  einem  Sarkophag,  früher  in  der  Kirche  des  heiligen 
Franziskus,  jetzt  im  Museum  zu  Perugia.  Dieser  Sarkophag  ist  nach 
Rossi  einer  der  besten  und  ältesten  des  vierten  Jahrhunderts.  (Taf.  VII.) 

Die  Vorderseite  dieses  Sarkophags  ist  mit  neun  durch  Säulen 
getrennten  Nischen  gegliedert,  unter  welchen,  theils  einzeln,  theils 
zu  zweien,  zehn  männliche  und  eine  weibliche  Figur  sich  befinden. 


9  Garrucci  T.  398,  1. 

2)  Imag.  sei.  Text  p.  9. 

3)  Garrucci  T.  366,  2;  Cahier,  nouveaux  mölanges  etc.  Paris  1875,  p.  93. 


325 


Unter  der  mittleren  Nische  sitzt  der  jugendliche  Heiland  auf 
einem  gepolsterten  Thronsessel  und  stützt  die  nackten  Füsse  auf 
einen  Schemel.  Er  ist  mit  Tunika  und  Pallium  bekleidet,  hält  in 
der  linken  Hand  eine  Schriftrolle  und  hat  die  rechte  lehrend  erhoben. 
Rechts  hinter  ihm  ein  bärtiger  Mann.  In  der  Nische  links  steht 
eine  weibliche  Figur,  mit  Tunika,  Stola  und  Kopftuch  bekleidet,  neben 
ihr  ein  unbärtiger  Mann.  Die  unter  den  übrigen  Nischen  stehenden, 
theils  bärtigen,  theils  unbärtigen  Männer,  hören  aufmerksam  oder 
verwundert  zu  oder  lesen  in  Schriftrollen  nach.  Rossi  sieht  in  dem 
jugendlichen  Heiland  den  zwölfjährigen  Jesus  im  Tempel  und  in  der 
weiblichen  Figur  seine  Mutter.  Garrucci  erkennt  in  der  Darstellung 
den  erwachsenen  Christus,  lehrend  im  Kreise  der  Apostel  und  hält 
die  weibliche  Figur  für  eine  Personifikation  der  Kirche.  Wir  neigen 
mehr  Rossi’s  Erklärung  zu.  Abbildung  nach  Garrucci  *). 

74. 

Relief  von  einem  Sarkophagdeckel  im  Museum  zu  Syrakus 
(Gegenstück  zu  Nr.  53).  (Taf.  VII.) 

Eine  verschleierte  Frauengestalt  sitzt  auf  einem  Throne,  umgeben 
von  vier  ebenfalls  verschleierten  Frauen,  wovon  eine  auf  dem  Boden 
sitzt.  Links  davon  führen  zwrni  unverschleierte  Frauen  eine  dritte, 
ebenfalls  unverschleierte,  herbei.  Von  den  beiden  Führerinnen  hat 
die  eine  irgend  ein  Geräthe  oder  Instrument  in  der  Hand. 

Le  Blant*  2)  hält  die  thronende  Frau  für  Maria,  welche,  umgeben 
vom  Chore  seliger  Frauen  und  Jungfrauen,  die  ihr  zugeführte  Seele 
der  Verstorbenen  empfängt.  Garrucci  hat  eine  allegorische  Erklärung. 
Die  thronende  Frau  ist  die  römische  Kirche,  die  unmittelbar  bei  ihr 
sich  befindenden  sind  die  Patriarchalkirchen  des  Orients.  Die  herbei¬ 
geführte  Jungfrau  ist  die  Heidenkirche,  welche  von  der  Synagoge 
(den  beiden  führenden  Figuren)  gefangen  ist.  Das  Instrument,  das 
die  eine  trägt,  sind  Handschellen.  Einfacher  scheint  uns  Le  Blant’s 
Erklärung.  Das  betreffende  Instrument  bedeutete  dann  eher  die 
Handpauken,  welche  der  h.  Ambrosius  ja  der  h.  Jungfrau  selber  in 
die  Hand  gibt,  wenn  sie  reine,  jungfräuliche  Seelen  im  Himmel 


’)  Rossi,  bullet.  1871,  p.  127  und  Tav.  8;  Garrucci  T.  321,  4;  Martigny,  dict. 


»enfant  Jesus«. 

2)  Revue  archeol.  Dec.  1877. 


begrüsse  (s.  oben  S.  197).  Rossi  zieht  auch  Le  Blant’s  Erklärung 
vor1).  Abbildung  nach  Garrucci 2). 


75. 

Relief  von  einem  Sarkophag  im  Campo-Santo  zu  Pisa.  (Taf.  VII.) 

Im  Gentrum  ist  die  un verschleierte  Rüste  der  begrabenen  Frau 
in  einem  Runde.  Links  davon  der  gute  Hirte  mit  Schafheerde. 
Rechts  davon  acht  unverschleierte  Frauengestalten,  die  alle  gegen 
die  Büste  gekehrt  sind,  und  von  denen  die  zweite  sich  vorneigt  und 
mit  der  rechten  Hand  eine  Bewegung  der  Bewillkommnung  macht, 
während  sie  mit  der  linken  Hand  das  Gewand  heraufzieht. 

Le  Blaut  erkennt  in  dieser  Darstellung  die  h.  Jungfrau  an  der 
Spitze  des  Chors  der  seligen  Jungfrauen,  die  Seele  der  Verstorbenen 
empfangend3).  Diese  Deutung,  die  uns  sehr  plausibel  vorkommt, 
wäre  also  eine  weitere  Illustration  der  ambrosianischen  Stelle.  Die 
Zeichnung  ist  Rohault  de  Fleury’s  Werk  entnommen. 

Als  Anhängsel  an  Malerei  und  Skulptur  sind  nun  noch  zwei 
in  Marmorplatten  gravirte  Zeichnungen  aufzuführen.  Die  erstere 
Marmortafel,  die  einst  das  Grab  einer  Severa  verschloss,  gibt  eine 
ähnliche  Composition,  wie  die  Sarkophagreliefs  Nr.  45  und  ff;  die 
letztere,  auf  welcher  Maria  nach  den  Apokryphen  als  im  Tempel 
dienend  erscheint,  ist  ein  Unicum,  wenn  sie  noch  unserer  Periode 
zugerechnet  werden  darf.  Das  Ungeschick  der  Zeichnung  sowohl  als 
die  an  das  Romanische  anklingende  Sprache  der  Inschrift  bewogen 
manche  Archäologen,  das  Monument  dem  sechsten  Jahrhundert  zu¬ 
zuschreiben,  während  andere  keinen  Anstand  nehmen,  es  ins  vierte 
Jahrhundert  zu  setzen.  Wir  nehmen  es  mit  allem  Vorbehalt  haupt¬ 
sächlich  desswegen  auf,  weil  es  einzig  in  seiner  Art  ist  und  doch 
auch  von  scharfen  Kritikern  wenigstens  noch  an  das  Ende  unserer 
Periode  gerückt  wird. 


9  Bullet.  1877,  p.  154. 

2)  Garrucci  T.  365,  1  u.  a. 

3)  A.  a.  0.  S.  auch  bei  Rohault  de  Fleury  »La  Ste.  vierge«  T.  II,  p.  108; 
Garrucci  T.  359,  4;  Diitschke  (Antike  Bildwerke  in  Oberitalien.  I.  Die  antiken 
Bildwerke  des  Campo  Santo  zu  Pisa.  Nr.  109)  entscheidet  sich  nicht  für  die 
christliche  Provenienz  des  Sarkophags.  Er  glaubt  ihn  dem  2.  Jahrhundert  zu¬ 
schreiben  zu  dürfen.  Im  Nachtrag  zum  zweiten  Hefte  (Antike  Bildwerke  in 
Florenz)  S-  246  gibt  er  aber  die  Christlichkeit  der  Darstellung  zu. 


327 


*  7(3. 

Marmortafel  aus  der  Katakombe  der  h.  Priscilla,  jetzt  im  Lateran¬ 
museum.  (Taf.  VIII.) 

Darauf  ist  eingravirt:  links  die  Büste  einer  Frau,  daneben  die 
Inschrift:  SEVERA  IN  DEO  VI VAS;  rechts:  Maria  auf  einem 
durchflochtenen  Lehnstuhl  sitzend,  ohne  Schleier,  in  die  blosse  Tunika 
gekleidet,  die  nackten  Füsse  kreuzend.  Auf  ihrem  Schoosse  hält  sie 
das  nackte  Kind,  das  beide  Händchen  den  von  links  her  schreitenden 
Magiern  entgegenstreckt.  Oben  zwischen  der  Gruppe  und  dem 
vordersten  Magier  der  Stern.  Hinter  dem  Stuhle  der  Maria  steht 
eine  jugendliche  männliche  Gestalt,  in  die  Tunika  gekleidet,  den 
rechten  Arm  ausstreckend.  Einige  halten  den  jungen  Mann  für 
Joseph,  der  auf  die  ankommenden  Magier  hinzeige,  oder  als  Haus¬ 
vater  schirmend  die  Hand  über  die  Familie  halte.  Doch  könnte  die 
Bewegung  seiner  rechten  Hand,  die  über  das  Haupt  Mariens  hinweg 
eher  auf  den  Stern  zu  deuten  scheint,  auch  den  Propheten  Jesaias 
in  ihm  vermuthen  lassen ,  wie  auf  dem  ältesten  Fresko ;  freilich 
stimmt  die  Kleidung  nicht  recht  hiezu.  Das  Monument  stammt 
aus  dem  dritten  Jahrhundert.  Die  Zeichnung  entnehmen  wir 
Corblets  Revue  1). 

77. 

Marmortafel  in  der  Krypta  von  St.  Maximin  in  der  Provence. 
(Taf.  VIII.) 

Darauf  eingravirt  eine  stehende  Mädchenfigur  mit  aufgelösten, 
auf  die  Brust  herabfallenden  Haaren,  die  Arme  zum  Gebet  aus¬ 
breitend.  Ueber  der  Tunika,  deren  Aermel  an  der  Handwurzel 
sichtbar  sind,  trägt  sie  ein  faltiges  Obergewand  mit  sehr  weiten 
Aermeln.  Die  oben  befindliche  Inschrift  bedeutet:  Maria,  die  Jung¬ 
frau,  Tempeldienerin  zu  Jerusalem.  Le  Blant  und  noch  mehrere 
schreiben  das  Monument  dem  vierten,  spätestens  dem  fünften  Jahr¬ 
hundert  zu  2).  Unsere  Abbildung  ist  Corblets  Revue  entnommen. 


fi  D’Agincourt,  sculpt.  pl.  VII,  6,7;  Mai,  script.  vet.  in  fronte  Tomi  V; 
Perret  T.  V,  pl.  12;  Corblet,  revue  T.  XXI,  p.  289;  Schultze  Nr.  35. 

2)  Macario,  Hagioglypta,  Paris  1856,  p.  36;  Corblet,  Revue  1858,  p.  236; 
Roliault  de  Fleury,  La  Ste  vierge,  table  116.  I,  p.  51:  Le  Blant,  Inscr.  ehret,  pl.  72; 
Schultze  Nr.  35.  a. 


328 


Kleinkunst. 

Auch  die  Kleinkunst  der  Zeit  hat  uns  Mariendarstellungen  hinter¬ 
lassen. 

Am  häufigsten  begegnet  uns  die  heilige  Jungfrau  auf  den  »Gold¬ 
gläsern«,  d.  h.  den  erhaltenen  Böden  von  zerbrochenen  Glasgefässen, 
welche  in  Gold  eingeritzte  Zeichnungen  aufweisen.  Die  Technik  ist 
diese:  Es  wurde  ein  dünnes  Goldplättchen  auf  Glas  aufgeklebt, 
dann  die  Zeichnung  eingekratzt,  darüber  wurde  ein  zweites  Glas  ge¬ 
legt  und  mit  dem  ersten  zu  einer  festen  Masse  zusammengeschmolzen. 
Diese  »Goldgläser«  wurden  meist  in  den  Katakomben  Roms  gefunden 
und  stammen  grösstentheils  aus  dem  vierten  Jahrhundert.  Ein 
kleinerer  Theil  mag  noch  dem  dritten  angehören,  ein  anderer  ist  erst 
im  fünften  Jahrhundert  entstanden. 

Auf  diesen  Goldgläsern  erscheint  Maria  theils  in  Gesellschaft 
anderer  Heiliger,  theils  allein;  aber  stets  ohne  Kind,  und  mit  Aus¬ 
nahme  der  letzten  Nummer  in  der  Stellung  der  »Betenden«. 

Wir  geben  die  nächstfolgenden  Nummern  in  der  Reihenfolge, 
in  welcher  sie  Garrucci  aufführt,  da  uns  diese  Reihenfolge  chrono¬ 
logisch  richtig  scheint.  Die  Zeichnungen  der  Goldgläser  entnehmen 
wir  Garrucci’s  Werk  x). 

78. 

Goldglas,  nach  Bianchini *  2)  in  der  Katakombe  der  heiligen  Agnes 
gefunden.  (Taf.  VIII.) 

Maria  steht  mit  zum  Gebet  ausgebreiteten,  aber  nicht  hoch  er¬ 
hobenen,  Händen  zwischen  Petrus  und  Paulus.  Sie  hat  eine  ähnliche 
Frisur,  wie  auf  den  Fresken  No.  7—9  und  ist  ohne  Schleier;  sie  ist 
mit  einem  Collier  geschmückt,  trägt  über  der  gegürteten  Tunika  den 
Mantel  und  hat  blosse  Füsse.  Im  Felde,  links  und  rechts  von  ihrem 
Kopfe  befinden  sich  zwei  Buchrollen.  Die  dargestellten  Personen 
sind  durch  Beischriften  bezeichnet :  PAVLVS  MARIA  PETRVS3). 

79. 

Goldglas  im  Museo  Borgiano  di  Propaganda.  (Taf.  VIII.) 

Maria  in  Tunika  und  Pallium,  das  zugleich  über  den  Hinterkopf 
als  Kopftuch  genommen  ist,  steht  mit  zum  Gebet  hoch  erhobenen 

9  Garrucci  hat  sein  früher  erschienenes  Werk  »Vetri  ornati  etc.«  in  seine 
grosse  »Storia  dell’  arte  Christ.«  aufgenommen,  nach  welch  letzterer  wir  citiren. 

2)  Ad  Anastas.  biblioth.  II,  247. 

3j  Perret,  Catacombes  Vol.  III,  PI.  XIV;  Garrucci  T.  178,  6;  Schultze  Nr.  37. 


329 


Händen  zwischen  Petrus  und  Paulus,  welche  Piollen  in  den  Händen 
haben.  Die  Beischriften:  PETRVS  MARIA  PAVLVS  x). 

80. 

Goldglas  in  der  Vatikanischen  Bibliothek.  (Taf.  VIII.) 

Maria  mit  Diadem  auf  dem  Kopf  (oder  mit  dem  Nimbus?),  mit 
zurückgenommenen  und  im  Nacken  in  Knoten  geschlungenen  Haaren, 
in  Tunika  und  Stola  gekleidet,  die  Arme  zum  Gebete  ausbreitend, 
steht  mit  nackten  Füssen  zwischen  zwei  Bäumen.  Hinter  ihr  zwei 
Tauben,  eine  auf  jeder  Seite,  die  auf  ihrer  linken  Seite  befindliche 
auf  einer  kannelirten  Säule.  Beischrift:  MARIA. 

Bäume  und  Tauben  syinbolisiren  das  Paradies  mit  seinem  ewigen 
Frieden *  2j. 

81. 

Goldglas  in  der  Vatikanischen  Bibliothek.  (Taf.  VIII.) 

Maria  in  der  Gebetstellung  zwischen  zwei  Bäumen.  Sie  trägt 
über  der  langen  Tunika  eine  zweite  nur  bis  ans  Knie  reichende,  ge¬ 
gürtete  Tunika  (xvnaeci.g)  und  darüber  den  Mantel.  Sie  ist  mit  dem 
Nimbus  ausgezeichnet.  Im  Felde  über  den  Schultern  zwei  Rollen. 
Statt  MARIA  lautet  die  Beischrift  MARA  3). 

82. 

Goldglas.  (Taf.  VIII.) 

Maria  und  die  heilige  Agnes  stehen  in  der  Stellung  der  Betenden 
neben  einander.  Agnes  steht  auf  der  rechten  Seite  Mariens.  Beide 
sind  mit  Tunika  und  Pallium  bekleidet  und  tragen  die  Haare  ge¬ 
scheitelt  und  nach  rückwärts  genommen.  Auf  dem  Scheitel  ein 
Diadem,  oder  eine  herübergezogene  Haarflechte.  Die  Inschriften 
lauten:  ANNE  MARA  4). 

83. 

Goldglas  im  Museum  zu  Bologna.  (Taf.  VIII.) 

Brustbilder  der  Maria  und  Agnes  nebeneinander  und  einander 
zugekehrt.  Ausser  der  gewöhnlichen  Kleidung  trägt  Maria  eine  Kapuze 


9  Perret  T.  IV,  PI.  XXXII,  101;  Garrucci  T.  178,  7;  Schultze  Nr.  39. 

2)  Perret  IV,  PI.  XXI,  1;  Garrucci  T.  178,  10;  Schultze  Nr.  36. 

3)  Perret  IV,  PI.  XXI,  7;  Garrucci  T.  178,  11;  Schultze  Nr.  38. 

4)  Garrucci  T.  191,  2;  Schultze  Nr.  40. 


330 


auf  dem  Kopf.  Im  Felde  zwischen  beiden  Figuren  befindet  sich  oben 
das  Monogramm  Christi  in  einem  Kreise,  darunter  eine  Rolle.  Die 
Beischriften  lauten:  AGNES  MARIA  l). 

Ausser  diesen  sechs  Nummern,  welchen  die  beigegebenen  Namen 
ihre  Bedeutung  zusichern ,  vermuthet  Garrucci  noch  von  einigen 
andern  Gläsern,  dass  sie  ein  Bild  Mariens  enthalten.  Es  sind  diess 
zunächst  ein  grösseres  und  ein  kleineres  Goldglas,  worauf  die  »betende 
Frau«  zwischen  zwei  Bäumen  erscheint.  Die  Figur  auf  dem  grösseren 
hat  allerdings  die  grösste  Aehnlichkeit  mit  der  Marienfigur  auf 
No.  78,  aber  keinen  Namen2).  Dann  findet  er  Maria  auf  einem 
dritten,  bedeutend  grösseren  Glas,  auf  welchem  sechs  verschiedene 
Scenen  um  ein  Rund  gruppirt  sind,  welches  die  Büsten  von  Petrus 
und  Paulus  aufweist.  In  der  ersten  Scene  tritt  Jesaias  auf,  die  Ge¬ 
burt  des  Emmanuel  aus  der  Jungfrau  prophezeiend;  die  zweite  Scene 
wird  durch  die  »betende  Frau«  zwischen  zw7ei  Bäumen  gebildet;  die 
dritte  Scene  gibt  das  Martyrium  des  Propheten  Jesaias;  die  vierte 
Moses  mit  der  ehernen  Schlange;  die  fünfte  Moses,  Wasser  aus  dem 
Felsen  schlagend  (fragmentarisch):  die  sechste  endlich  die  drei  Jüng¬ 
linge  im  Feuerofen.  Die  »betende  Frau«  wäre  Maria.  Rossi  stimmt 
dieser  Erklärung  Garrucci’s  bei 3). 

Den  Goldgläsern  sehliessen  sich  noch  einige  andere  Produkte 
der  Kleinkunst  an.  Zunächst  ein 


Geschnittener  Stein  auf  der  Nationalbibliothek  in  Paris;  Medaillen- 
kabinet  No.  1332.  Soll  vor  dem  Jahre  340  entstanden  sein.  (Taf.  VII.) 

Zwei  Frauen  sind  im  Begriff  sich  zu  umarmen.  Zwischen  ihnen 
befindet  sich  unten  ein  Halbmond,  in  der  Mitte  ein  Stern,  oben  ein 
Kreuzchen  oder  ein  vierblätteriges  Blümchen.  Rohault  de  Fleury, 
dem  wir  die  Zeichnung  entnehmen,  erklärt  die  Darstellung  als  Mariä 
Heimsuchung  4 * *). 

Dann  eine 


0  Garrucci  T.  191,  8;  Schullze  Nr.  41. 

2)  Garrucci  T.  178,  8  und  12. 

3)  Garrucci  T.  171,  3;  Rossi,  Iinag.  sei.  p.  8. 

4)  La  Sainte  vierge  T.  I,  p.  100,  PI  17.  Auf  eine  Nachfrage  in  Paris  wegen 

der  Umschrift  erhielten  wir  die  Auskunft,  dass  dieselbe  in  der  Pehlwi-Sprache 

abgefasst,  aber  im  Katalog  nicht  übersetzt  sei. 


331 


85. 

Bronzemedaille  in  der  Vatikanischen  Bibliothek.  (Taf.  VIII.) 

Links  sitzt  Maria  in  Tunika  mit  kurzen  Aermeln ,  Stola  und 
Kopftuch  gekleidet  auf  einem  Lehnstuhl  und  hält  das  nackte  Kind 
auf  dein  Schooss.  Ueber  dem  Köpfchen  desselben  ist  der  Stern  an¬ 
gebracht.  Von  rechts  her  kommen  die  drei  Magier.  Die  Medaille 
stammt  aus  dem  vierten  Jahrhundert.  Unsere  Zeichnung  ist  Rohault 
de  Fleury  entnommen  x). 

86. 

Eine  ähnliche  Medaille  erwarb  Le  Blant  in  Rom  und  publizirte 
sie  im  Jahr  1859 *  2).  Sie  zeigt  nur  geringe  Abweichungen  von  der 
vorigen.  Rohault  de  Fleury  gibt  die  Mutter  mit  dem  Kinde  auf  der¬ 
selben  Platte  wieder,  wie  die  vorhergehende  Medaille. 

Schliesslich  ist  noch  ein 

87. 

Viereckiges  Elfenbeintäfelchen  zu  erwähnen ,  welches  im  Jahre 
1862  im  Kensington-Museum  zu  London  zu  sehen  war  und  welches 
Rossi  für  ein  Werk  des  vierten  Jahrhunderts  zu  halten  geneigt  ist. 
Darauf  en  relief: 

Maria  mit  dem  Kinde  und  den  drei  Magiern  3). 

Die  Elfenbeinplastik  hat  ohne  Zweifel  in  sehr  früher  Zeit  Maria 
öfters  zum  Vorwurf  genommen.  Doch  wagen  wir  keines  der  uns 
bekannten  Kunstwerke  unserer  Periode  zu  vindiziren.  Aber  er¬ 
innern  wenigstens  wollen  wir  an  einige  Elfenbeingefässe  in  vater¬ 
ländischen  Sammlungen ,  von  denen  vielleicht  das  eine  oder  andere 
noch  dem  fünften  Jahrhundert  angehört,  z.  B.  die  Pyxen  von  Werden  4) 
und  Hannover  5). 

Wir  haben  mit  dem  Obigen  uns  bestrebt,  Alles  zusammenzu¬ 
stellen,  was  wir  von  Mariendarstellungen  auftreiben  konnten,  welche 
vor  dem  Concil  von  Ephesus  oder  auch  noch  ungefähr  um  die  Zeit 
dieses  Concils,  das  ja  erst  im  Jahr  433  zum  eigentlichen  Abschluss 


9  Garrucci  T.  435,  7;  Rohault  de  Fleury  T.  I.  p.  158,  table  XXXIV. 

2)  Bull.  arch.  de  l’Athen.  franq.  1859,  tab.  I,  3;  Rossi,  Imag.  sei.  p.  6. 

3)  Rossi,  Imag.  sei.  p.  6.  Trotz  Nachfrage  in  London  war  von  dem  Verbleib 
des  Täfelchens  nichts  zu  erfahren. 

4)  E.  aus’m  Weerth,  Kunstdenkmäler,  Taf.  XXIX,  6. 

s)  Hahn,  fünf  Elfenbeingefässe  u.  s.  w.  Hannover  1862.  Pyxis,  Nr.  2. 


332 


kam ,  entstanden  sein  dürften.  Wir  machen  aber  damit  einerseits 
keineswegs  den  Anspruch  auf  absolute  Vollständigkeit.  Andererseits 
lassen  wir  die  Möglichkeit  offen,  dass  einige  von  den  verzeichneten 
Darstellungen  —  vielleicht  etliche  Reliefs,  vielleicht  ein  paar  Gold¬ 
gläser,  sowie  das  in  Stein  gravirte  Bild  von  St.  Maximin  —  etwas 
später  fallen  könnten.  Auch  wollen  wir  noch  einmal  zusammen¬ 
fassend  erwähnen,  dass  eine  Anzahl  der  aufgeführten  Nummern 
strittig  ist.  Die  Mutter  mit  dem  Kinde  No.  3,  das  »Verkündigungs¬ 
bild«  No.  4,  die  betende  Frau  mit  dem  Kinde  No.  18,  Maria  beim 
Weinwunder  No.  19,  Mariä  Heimsuchung  No.  70,  Maria,  den  zwölf¬ 
jährigen  Jesus  findend  No.  72  und  73,  Maria  im  Himmel  No.  74 
und  75,  vielleicht  auch  die  Heimsuchung  No.  84  —  alle  diese  Dar¬ 
stellungen  werden,  wie  wir  bei  den  meisten  schon  bemerkt  haben, 
von  Andern  anders  gedeutet;  wir  aber  haben  diese  Coinpositionen 
aufgenommen,  weil  uns  ihre  Beziehung  auf  Maria  als  die  wahrschein¬ 
lichere  vorkommt.  Sollte  nun  aber  auch  auf  einen  Theil  der  auf¬ 
genommenen  Coinpositionen  zu  verzichten,  sollte  gar  die  eine  oder 
die  andere  irrthümlicher  Weise  zweimal  aufgezählt  worden  sein,  es 
bleiben  immerhin  genug  übrig ,  um  den  Beweis  zu  liefern ,  dass  die 
Kunst  sich  vom  zweiten  Jahrhundert  ab  nicht  minder  mit  Maria  be¬ 
schäftigte  als  die  Poesie  2). 

Wenn  wir  nun  diese  Darstellungen  etwas  näher  betrachten,  so 
finden  wir,  dass  sie  sich  im  Vergleich  mit  der  Poesie  in  einem  ziem¬ 
lich  engen  Kreise  bewegen. 

Am  häufigsten  und  auch  am  frühesten  begegnet  uns  Maria  als 
Mutter  mit  dem  Kinde.  Den  Grund,  dass  diese  Darstellung  schon 
zum  Schmuck  des  Grabes  verwendet  wurde,  brauchen  wir  nach  unsern 
früheren  Ausführungen  kaum  anzugeben.  Wir  wollen  nur  an  das 
Wort  des  Archelaus  erinnern:  »alle  unsere  Hoffnung  beruht  auf  der 
Geburt  der  seligen  Maria.«  Dieses  eine  Wort  sagt  Alles.  Die 
Menschwerdung  Gottes,  die  Grundbedingung  der  Erlösung  und  damit 
der  Auferstehung  und  ewigen  Seligkeit,  am  Grabe  eines  theuren  Ent¬ 
schlafenen  in  einem  gefälligen  Bilde  angebracht,  musste  offenbar  ein 


’)  Durch  eine  Complication  von  Umständen  waren  wir  verhindert,  unsere 
früheren  gelegentlichen  Anschauungen  zu  wiederholen  und  zu  ergänzen. 
Auch  Correspondenz  löste  manches  Räthsel  nicht.  Wir  würden  daher  für  jede, 
öffentliche  oder  private  Berichtigung  oder  Ergänzung  des  voranstehenden  Ver¬ 
zeichnisses  sehr  dankbar  sein. 


333 


recht  hoffnungsreicher  und  trostvoller  Anblick  sein.  Indem  wir  also 
die  Versinnlichung  der  Idee  der  Menschwerdung  in  dem  Bilde  der 
Mutter  mit  dem  Kinde  sehen,  müssen  wir  der  Mutter  hiebei  auch 
diejenige  Stellung  einräumen ,  welche  ihr  bei  diesem  Mysterium  von 
dem  Zeitbewusstsein  angewiesen  wurde;  mit  andern  Worten,  wir 
haben  ihre  Darstellung  im  Bilde  immer  als  Wiederschein  der  Phasen 
zu  betrachten ,  welche  sie  in  der  Lehrentwickelung  durchmachte. 
Der  Christ  des  fünften  Jahrhunderts  z.  B.  hiess  dasselbe  Bild  die 
Gottesgebärerin,  welches  von  dem  Christen  des  zweiten  Jahrhunderts 
einfach  Mutter  Jesu  genannt  wurde.  Es  ist  darum  bei  der  Gruppe 
zwar  das  Kind  natürlich  immer  die  Hauptsache,  die  Mutter  geht 
aber  dabei  nicht  leer  aus.  Das  sagt  unter  Andern  Prudentius,  der 
die  Magier  nicht  bloss  vor  dem  Kinde,  sondern  auch  »vor  Mariens 
Füssen  den  Nacken  beugen«  und  den  »verehrten  Schooss  der  Mutter« 
vom  Stern  beleuchtet  sein  lässt  (s.  oben  S.  264)  und  das  sagen  uns 
die  Darstellungen  selbst,  welche  Maria  meist  auf  einem  thronartigen 
Sessel,  oft.  mit  einem  Fussbänkchen  versehen,  zur  Anschauung 
bringen. 

Die  »Mutter  mit  dem  Kinde«  kommt,  mit  einer  einzigen  Aus¬ 
nahme,  nicht  isolirt,  als  Composition  für  sich  vor,  denn  die  plastischen 
Fragmente,  welche  bloss  diese  Gruppe,  und  auch  sie  meist  ver¬ 
stümmelt  aufweisen,  rühren  wohl  alle  von  Epiphanienbildern  her; 
die  Gruppe  ist  Th  eil  einer  Composition. 

Ein  Prophet  steht  dabei  und  demonstrirt  in  ihr  die  Erfüllung 
seiner  Weissagung. 

Oder  die  Magier  nähern  sich,  ihre  Huldigung  darbringend.  Diese 
Composition  ist  die  häufigste.  Schon  die  dramatische  Lebendigkeit 
der  Erzählung  bei  Matthäus  musste  zur  bildlichen  Darstellung  der 
Scene  reizen,  wenn  auch  die  Künstler  sich  nicht  stricte  an  den 
evangelischen  Text  hielten.  Bei  Matthäus  (II,  11)  »gingen  (die 
Magier)  in  das  Haus,  fanden  das  Kind  mit  Maria,  seiner  Mutter, 
fielen  nieder  und  beteten  es  an,  öffneten  ihre  Schätze  und  reichten 
ihm  Geschenke:  Gold,  Weihrauch  und  Myrrhe«.  Die  Künstler  lassen 
die  Magier  nicht  »niederfallen«,  sondern  unmittelbar  von  der  Reise 
kommend,  oft  noch  das  Reitthier  mit  sich  führend,  stehend  oder 
schreitend,  ihre  Geschenke  darbringen,  so  dass  man  auf  den  Gedanken 
geräth,  sie  seien  eher  den  xipokryphen  gefolgt,  welche  von  dem 
Niederfallen  auch  nichts  wissen.  Es  mögen  übrigens  für  den  Er¬ 
finder  des  Typus  auch  bloss  künstlerische  Gründe  vorgewaltet  haben 


334 


und  seine  Nachfolger  hielten  sich  dann,  nachdem  einmal  das  gläubige 
Volk  die  heilige  Scene  so  zu  sehen  sich  gewöhnt  hatte,  an  das 
Hergebrachte. 

Die  Darstellung  hat  aber  nicht  bloss  einen  einfach  historischen, 
sondern  vorzugsweise  einen  symbolischen  Sinn. 

Sie  bedeutet  die  erste  Offenbarung  der  Menschwerdung  Gottes 
—  sammt  ihren  Gonsequenzen  für  das  Heil  der  Menschheit  —  an 
die  Heidenwelt.  In  diesem  Sinne  wurde  die  Anbetung  der  Magier 
an  dem  alten  Epiphanienfeste  mitgefeiert,  wie  wir  oben  dargelegt 
haben,  und  bildete  schon  frühe  in  der  abendländischen  Kirche  den 
Hauptgegenstand  dieses  Festes.  Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  den 
etwaigen  Zusammenhang  der  alten  Kunstdarstellungen  mit  den  alten 
Kirchenfesten  näher  zu  untersuchen,  wir  wollen  nur  im  Vorbeigehen 
darauf  aufmerksam  machen,  dass  das  häufige  Vorkommen  von  den 
Begebenheiten  im  Leben  Christi,  welche  ursprünglich  am  Epiphanien¬ 
feste  zusammengefeiert  wurden,  —  Geburt,  Anbetung  der  Magier, 
das  Weinwunder,  die  Speisung  der  Fünftausend  —  vielleicht  unter 
Anderem  auch  dadurch  sich  erklären  lässt,  dass  diese  Begebenheiten 
den  Künstlern  sowohl  als  den  Auftraggebern  durch  die  Predigten 
an  diesem  alten  Festtage  sich  besonders  eingeprägt  haben  dürften. 
Vielleicht  ist  von  diesen  Kunstdarstellungen  aus  auch  ein  Schluss 
auf  das  Alter  des  Festes  zu  machen.  Doch  das  nur  nebenbei. 

An  einen  Zusammenhang  mit  dem  alten  Epiphanienfeste  denkt 
man  unwillkürlich  hauptsächlich  dann,  wenn  die  Darstellungen  der 
Geburt  oder  vielmehr  der  Anbetung  der  Hirten  mit  der  Anbetung 
der  Magier  in  einer  und  derselben  Composition  vereinigt  sind.  Das 
Kind  kommt  hiebei  entweder  zweimal  vor.  Dann  liegt  es  einge¬ 
wickelt  als  neugebornes  Kind  in  der  Krippe  oder  dem  Wiegenkorbe 
auf  der  einen  Seite  der  Composition  und  wird  hier  von  den  Flirten 
nebst  Ochs  und  Esel  »angebetet«,  während  es  an  einer  andern  Stelle 
der  Composition  schon  etwas  herangewachsen  in  der  gewohnten 
Weise  auf  dem  Schoosse  der  Mutter  sitzt  und  die  Huldigung  der 
Magier  empfängt.  Oder  es  kommt  bloss  einmal  vor,  als  Wiegenkind, 
während  dann  die  Mutter  gleichsam  erschöpft  ausruhend  auf  einem 
Felsen  sitzt.  Diese  Pose  der  Mutter  könnten  die  Künstler  gewählt 
haben,  um  die  unmittelbaren  Folgen  einer  Niederkunft  auszudrücken. 
Da  aber  kaum  eine  dieser  Darstellungen  hinter  die  zweite  Hälfte 
des  vierten  Jahrhunderts  zurückgeht,  sondern  wohl  alle  der  Zeit 
angehören,  in  welcher  die  realistische  Auffassung  des  Wesens  der 


heiligen  Jungfrau  schon  so  ziemlich  allgemein  der  idealistischen  das 
Feld  geräumt  hatte,  so  dürfte  die  Haltung  Mariens  richtiger  so  ge¬ 
deutet  werden,  dass  damit  die  Zeit  des  Vorgangs,  die  Nacht  habe 
charakterisirt  werden  wollen.  Hiefür  spricht  auch  der  Umstand, 
dass  Maria  in  mehreren  Compositionen  das  Kinn  gemächlich  auf 
eine  Hand  stützt x). 

Das  Zusammenrücken  beider  Vorgänge,  die  sowohl  in  dem 
Evangelium,  als  in  den  Apokryphen  durch  kürzere  oder  längere 
Intervalle  getrennt  sind,  in  eine  Äomposition,  Hesse  sich,  wie  gesagt, 
ausserordentlich  bequem  damit  erklären,  dass  die  Künstler  von  dem 
Feste  beeinflusst  waren,  das  beide  Vorgänge  ursprünglich  zusammen 
feierte.  Doch  ist  damit  nicht  ausgeschlossen,  dass  vorzugsweise  die 
Idee,  welche  der  Darstellung  beider  Vorgänge  eigentlich  gleicherweise 
zu  Grunde  liegt,  die  Manifestation  der  Menschwerdung 
Gottes  die  Künstler  bestimmt  hat,  gleich  beide  Adressen,  an  welche 
diese  Manifestation  gerichtet  war,  das  Judenthum  und  das  Heiden¬ 
thum,  mit  einander  vorzuführen,  wobei  dann  das  Judenthum  durch 
die  Hirten  repräsentirt  wäre.  Uebrigens  haben  wir  gesehen,  dass 
die  Anbetung  der  Hirten  nicht  durchaus  mit  der  Anbetung  der 
Magier  verbunden  wird;  wenigstens  einmal  kommt  die  erstere 
sicher  allein  vor  (s.  Nr.  58). 

Tiefer  in  die  Epiphaniendarstellungen  uns  einzulassen,  liegt 
ausserhalb  unseres  Zweckes.  Es  war  uns  nur  darum  zu  thun,  nach¬ 
zusehen,  welche  Figur  Maria  in  denselben  macht.  Wir  finden  sie 
also  hiebei  immer  in  unmittelbarer  Verbindung  mit  dem  Kinde.  Sie 
trägt  es  auf  dem  Schooss  oder  im  Arme;  oder  dasselbe  liegt  neben 
ihr  in  der  Krippe.  Nur  einmal,  in  Sta.  Maria  Maggiore  sitzt  es 
neben  ihr  auf  einem  Throne.  Diese  Varianten  alteriren  den  Grund¬ 
gedanken  nicht.  Ueberall  steht  offenbar  die  Beziehung  auf  das  Kind 
obenan,  wenn  auch  die  Mutter  dabei  nicht  in  den  Hintergrund 
gedrängt  wird. 

Ebenso  zeigen  uns  zwei  andere  Scenen,  die  aber  gegenüber  den 
Epiphanienbildern  in  verschwindender  Anzahl  Vorkommen,  Maria  in 
mütterlicher  Thätigkeit.  Das  eine  Mal  bringt  sie  ihr  Kind  im  Tempel 
dar,  das  andere  Mal  findet  sie  den  zwölfjährigen  Knaben  daselbst. 
Beide  Scenen  sind  in  je  einem  Exemplar,  das  aber  zum  Schmuck 


i)  So  deutet  die  Pose  z.  B.  Graf  Grimouard  de  Saint  Laurent  in  der  Revue 
de  hart  chretien,  Tome  XXX,  p.  121. 


33(3 


der  Kirche,  nicht  des  Grabes  dient,  gesichert.  Von  der  zweiten,  der 
Auffindung,  gibt  das  Grab  vielleicht  auch  ein  paar  Beispiele. 
(S.  Nr.  72  u.  73.) 

In  unmittelbarer  Verbindung  mit  dem  erwachsenen  Sohne 
tritt  Maria  beim  Wein  wunder  auf.  Einmal  ist  diess  inschriftlich 
bestätigt  (Nr.  20),  ein  zweites  Mal  für  uns  wenigstens  sehr  wahr¬ 
scheinlich  (Nr.  19). 

Hiemit  ist  der  Kreis  der  Darstellungen  erschöpft,  in  welchen 
Maria  neben  oder  mit  ihrem  Sohi^e  figurirt. 

Ohne  den  Sohn  erscheint  Maria  zunächst  in  solchen  Scenen, 
welche  Begebenheiten  ihres  Lebens  darstellen,  die  vor  die  Geburt 
des  Kindes  fallen.  Es  sind  diess  die  Verkündigung,  Vermäh¬ 
lung,  Heimsuchung.  Die  Darstellung  der  beiden  letzten  Scenen 
ist  keine  ganz  ausgemachte  Sache,  ob  auch  uns  wenigstens  nament¬ 
lich  die  zwei  Reliefs  Nr.  70  u.  71  kaum  eine  andere  Deutung  zuzu¬ 
lassen  scheinen.  Das  Vermählungsbild  wäre  dann  entweder  unter 
dem  Einfluss  der  Apokryphen  entstanden,  welche  den  Vermählungs¬ 
akt  erzählen ,  oder  aber  nach  dem  Bericht  des  Matthäus.  Der 
Künstler  hätte  eben  den  Engel,  der  den  Joseph  im  Traum  aufgeklärt 
hatte,  als  Vermittler  für  den  Akt  des  »Zusichnehmens« ,  d.  h.  der 
Vermählung  nach  ebräischer  Sitte,  beibehalten.  Der  24.  Vers  des 
1.  Kapitels  »Als  nun  Joseph  vom  Schlafe  aufstand,  that  er,  wie 
ihm  der  Engel  des  Herrn  befahl,  und  nahm  sein  Weib  zu 
sich«  wäre  einfach  in  Marmor  ausgehauen. 

Die  Darstellung  der  Verkündigung  ist  durch  die  Nummern 
21  u.  69  bezeugt.  Doch  nahmen  wir  keinen  Anstand  auch  das 
Fresko  in  St.  Priscilla  (Nr.  4)  für  ein  Verkündigungsbild  zu  halten. 
Dass  Verkündigungsbilder  vor  dem  Mosaik  in  Sta.  Maria  Maggiore 
und  dem  Sarkophag  von  Bavenna  existirten,  geht,  wie  wir  gesehen 
haben,  aus  Prudentius  hervor.  Wir  halten  nemlich  die  Vierzeilen 
des  Buchs  Dittocbäon  mit  Brockhaus  und  seinen  Vorgängern  für 
poetische  Erklärungen  bestehender  Bilder,  die  also  spätestens  in 
die  ersten  Jahre  des  fünften  Jahrhunderts  fallen  können.  Wer  weiss 
aber,  ob  Prudentius,  der  fleissige  Besucher  der  Katakomben,  nicht 
auch  das  Bild  in  St.  Priscilla  gesehen  hat;  denn  vorderhand  ist 
keine  Spur  eines  andern  Verkündigungsbildes  bis  zu  seinem  Tode 
nachweisbar. 

Ohne  den  Sohn  erscheint  Maria  vorzugsweise,  wenn  sie  in  der 
Gebetstellung,  als  »Orans«  auftritt.  Fünf  Goldgläser  und  die  Gra- 


337 


virung  von  St.  Maxirnin  zeigen  sie  als  solche  mit  ihrem  Namen 
versehen.  Denn  der  Name  MARA,  der  zweimal  vorkommt,  ist 
allgemein  als  Schreibfehler  erkannt. 

Diese  Bilder  haben  einen  doppelten  Sinn.  Entweder  wollen  sie 
Maria  als  andächtige  Erdenbewohnerin  aufführen,  wie  die  genannte 
Gravirung  und  vielleicht  auch  das  eine  oder  andere  Goldglas,  auf 
welchem  sie  nicht  allein  erscheint.  Oder  sie  zeigen  Maria  als 
Himmelsbewohnerin  (Bäume  und  Tauben  zu  ihren  Seiten  symboli- 
siren  das  Paradies) ,  als  Beterin  im  Himmel ,  als  Fürbitterin ,  was 
nach  unsern  früheren  Ausführungen  ganz  in  der  Ordnung  ist.  Als 
solche  hat  sie  ein-  oder  zweimal  den  Nimbus,  die  Auszeichnung  der 
Himmelsbewohner,  wie  die  Engel  in  Sta.  Maria  Alaggiore  und  auf 
dem  Sarkophag  von  Le  Puy  (wo  er  ihr  versagt  ist,  weil  hier  Be¬ 
gebenheiten  aus  ihrem  Erdenleben  illustrirt  werden).  Die  beiden 
Goldgläser,  welche  den  Nimbus  zeigen,  sind  die  ältesten  Kunst¬ 
produkte,  die  der  heiligen  Jungfrau  diese  Auszeichnung  ertheilen  und 
gewähren  aus  diesem  Grunde  ein  eigenes  Interesse,  werden  aber 
auch  desshalb  von  Schultze  in  die  zweite  Hälfte  des  fünften  Jahr¬ 
hunderts  gesetzt. 

Von  obigen  Darstellungen  der  Maria  als  Orans  wird  ein  Rück¬ 
schluss  auf  die  vielen  gemalten  und  gemeisselten  Orantenfiguren  in 
den  Grabkammern  und  auf  den  Sarkophagen  gemacht.  Man  hält 
viele  derselben  ebenfalls  für  Marienbilder.  Und  zwar  meist  auf 
einem  Umweg.  Man  glaubt  nemlich,  dass  manche  dieser  Oranten 
die  Kirche  symbolisiren  und  weil,  wie  wir  gesehen  haben,  Maria 
häufig  mit  der  Kirche  zusammengestellt,  ja  als  Repräsentantin  der¬ 
selben  aufgestellt  wird  (am  ausdrücklichsten  bei  Sedulius  S.  266),  so 
sieht  man  in  ihnen  Maria  als  Symbol  der  Kirche.  Nun  beweisen 
zwar  die  Mosaiken  in  Sta.  Sabina  auf  dem  Aventin,  aus  der  Zeit 
des  Pabstes  Cölestin  (422 — 432),  dass  die  Kirche  unter  dem  Bilde 
einer  Frau  dargestellt  wird.  Zwei  Matronengestalten  in  klassischer 
Gewandung,  jede  mit  einem  Buch  in  der  linken  Hand  und  die  rechte 
segnend  oder  lehrend  darüber  gehalten,  sind  durch  die  Unterschriften, 
die  eine  als  Kirche  aus  dem  Judenthum  (ecclesia  ex  circumcisione), 
die  andere  als  Kirche  aus  dem  Heidenthum  (ecclesia  ex  gentibus) 
beglaubigt.  Ja,  in  dem  noch  älteren  Mosaik  der  Apsis  von  Sta. 
Pudenziana  auf  dem  Esquilin  (es  stammt  aus  dem  Ende  des  vierten 
Jahrhunderts)  sind  die  beiden  Frauengestalten,  welche  mit  Kränzen 

Lehner,  Die  Marienverehrung.  22 


338 


in  den  Händen  hinter  den  Aposteln  Petrus  und  Paulus  stehen, 
offenbar  ebenfalls  als  die  Kirche  aus  dem  Judenthum  und  die  Kirche 
aus  dem  Heidenthum  aufzufassen.  Allein  alle  diese  Frauengestalten 
sind  nicht  in  der  Gebetstellung  und  können  daher  nicht  beweisen, 
dass  eine  betend e  Frau,  eine  Orans,  die  Kirche  bedeute.  Neuestens 
hat  Abbe  Davin  manche  solcher  Oranten,  welche  Andere  bald  für 
Maria,  bald  für  die  Kirche,  bald  für  beides  hielten,  für  eine  Dar¬ 
stellung  der  Susanna  in  Anspruch  genommen  x).  Kurz  es  ist  noch 
nicht  gelungen,  auch  nur  eine  einzige  solche  Figur  mit  völliger 
Sicherheit  als  Darstellung  Mariä  zu  erweisen.  Dessenungeachtet 
stellen  wir  nicht  in  Abrede,  dass  manche  Orans  auf  Fresken  und 
Pieliefs  Maria  zu  bedeuten  habe.  Denn  wir  sehen  nicht  ein,  warum 
dieser  Typus  hauptsächlich  auf  die  gleichzeitigen  Goldgläser  beschränkt 
gewesen  sein  soll;  nur  getrauen  wir  uns  nicht,  so  genau  wir  alle 
publicirten  (auch  mehrere  im  Original)  darauf  angesehen  haben, 
eine  bestimmte  als  solche  zu  bezeichnen  und  haben  desswegen 
auch  bei  der  Aufzählung  der  Marienbilder  keine  Rücksicht  hierauf 
genommen. 

Als  Himmelsbewohnerin  und  zwar  speciell  schon  in  der 
Funktion  der  künftigen  »Jungfrauenkönigin«  würde  schliesslich  Maria 
auf  dem  Sarkophagdeckel  von  Syrakus,  sowie  auf  dem  Sarkophag 
von  Pisa  (Nr.  74  u.  75)  auftreten,  wenn  unsere  Deutung  allgemeine 
Zustimmung  erführe.  Dass  diese  Deutung  nicht  grundlos  ist,  haben 
wir  dargethan. 

In  dieser  Weise  also  hat  die  Kunst  unserer  Periode  an  der 
Marienverehrung  Theil  genommen.  Mit  einem  Beispiel  hat  sie 
Maria  in  ihrem  früheren,  mit  wenigen  in  ihrem  späteren  Jugendleben 
heimgesucht,  mit  den  meisten  in  ihrem  mütterlichen  Verhältniss,  mit 
etlichen  im  Himmel.  Am  frühesten  tritt  sie  als  Mutter  auf,  hierauf 
folgen  einige  Begebenheiten ,  die  zu  diesem  ihrem  Beruf  in  naher 
Beziehung  stehen,  gleichzeitig  oder  vielleicht  etwas  später  zeigt 
sie  sich  als  Selige,  am  spätesten  wohl  in  ihrem  vorbereitenden 
Jugendleben. 

Unverkennbar  ist  ein  Anlauf  genommen  zu  der  cyklischen  Dar¬ 
stellung  des  »Marienlebens«,  welche  das  Mittelalter  sich  so  häufig 


3  In  seinen  zahlreichen  Artikeln  über  die  »Capella  greca«  in  den  letzten 
Bänden  der  Revue  de  l’art  chretien  von  Corblet. 


339 


zur  Aufgabe  gemacht  hat.  Einzelne  Scenen  sind  schon  zusammen¬ 
gerückt,  zwei  auf  mehreren  Sarkophagen,  mindestens  vier  in  Sta. 
Maria  Maggiore.  Auch  vorbildliche  Beziehungen  zwischen  alttesta- 
mentlichen  Figuren  oder  Scenen  und  Maria  lassen  sich  ahnen,  wie 
zwischen  Eva  und  Maria,  zwischen  den  drei  Knaben  im  Feuerofen 
und  dem  Epiphanienbilde.  Doch  ist  noch  kaum  eine  Spur  von  jener 
systematischen  Anordnung  vorhanden,  in  welcher  das  Mittelalter 
alttestamentliche  Geschichten  oder  prophetisch  genommene  Stellen 
mit  Maria  in  künstlerische  Parallele  brachte.  Wir  haben  bei  der 
Aufzählung  der  Marienbilder  womöglich  immer  auch  die  andern 
Scenen  kurz  angegeben,  welche  namentlich  mit  den  Epiphaniendar¬ 
stellungen  auf  einem  und  demselben  Kunstwerke  zusammengestellt 
sind.  Man  wird  sich  überzeugt  haben ,  dass  die  meisten  dieser 
Zusammenstellungen  den  Eindruck  der  Zufälligkeit  machen.  Es 
kommt  Einem  so  vor,  als  ob  die  Künstler  mit  einem  bestimmten 
Vorrath  von  Scenen,  von  denen  jede  einzelne  gewiss  ihre  tiefe  Be¬ 
deutung  hat,  ziemlich  willkürlich  umgegangen  seien  und  dieselben 
zur  Abwechslung  bald  in  dieser,  bald  in  jener  Folge  aneinander¬ 
gereiht  haben,  indem  sie  sich  nur  hin  und  wieder  von  künstlerischen 
Rücksichten  bestimmen  liessen.  Immerhin  hat  der  Versuch,  aus  der 
Zusammenstellung  solcher  Scenen  in  einem  und  demselben  Kunst¬ 
werke  einen  einheitlich  durchgeführten  Grundgedanken  oder  eine 
planmässig  zusammenhängende  Gedankenreihe  zu  entwickeln,  einen 
grossen  Reiz,  wie  denn  z.  B.  Rossi  in  dem  Bildercyklus  des 
Sarkophags  von  San  Paolo  fuori  le  mura  ein  »Epos  der  christ¬ 
lichen  Lehre«  erblickt x).  Für  uns  kommt  hiebei  nur  die  Beziehung 
der  ersten  Stammmutter  Eva  auf  die  zweite  Stammmutter  Maria  in 
Betracht  und  diese  wenigstens  ist  ungesucht,  weil  im  allgemeinen 
Bewusstsein  begründet. 

Von  den  vielen  alttestamentlichen  Vorbildern  und  naturgeschicht¬ 
lichen  Symbolen,  welche  die  Kirchenväter  insbesondere  für  die  immer¬ 
jungfräuliche  Mutterschaft  gefunden  und  womit  auch  die  Dichter 
ihre  Gesänge  schon  auszuschmücken  angefangen  haben ,  hat  die 
altchristliche  Kunst  noch  keinen  Gebrauch  gemacht.  Diess  Alles  ist 
dem  Mittelalter  Vorbehalten. 

Und  nun  schliesslich  die  Figur  der  heiligen  Jungfrau  an  und 


h  Bullet.  1865,  p.  70. 


340 


für  sich.  Wie  haben  die  Künstler  dieselbe  gestaltet?  Liegt  ein 
Porträt  zu  Grunde,  oder  schufen  sie  ein  Phantasiebild?  Und  wenn 
letzteres,  schufen  sie  dieses  Phantasiebild  ganz  neu  aus  dem  christ¬ 
lichen  Geiste  heraus  oder  lehnten  sie  sich  an  Vorlagen  aus  dem 
Heidenthum  an  ?  Ist  endlich  ein  künstlerischer  Fortschritt  bemerkbar, 
der  der  progressiven  Idealisirung  des  Marienbildes  im  Geiste  und 
Herzen  der  Gläubigen  entspräche? 

Was  die  Frage  nach  einem  Porträt  anbelangt,  so  muss  sie 
verneint  werden.  Die  Kirchenväter  wissen  von  der  Gestalt  der 
heiligen  Jungfrau  so  wenig,  als  von  ihren  früheren  oder  späteren 
Lebensumständen  und  ihrem  Ende.  Deutlich  sagt  diess  der  heilige 
Augustin:  »wir  wissen  nichts  von  der  Gestalt  der  Jungfrau  Maria«  *). 
Auch  die  Poesie  sagt  nichts  von  ihrer  äusseren  Erscheinung.  —  Die 
»vom  heiligen  Lukas  gemalten«  Bilder  sind  Produkte  der  byzan¬ 
tinischen  Kunst. 

Wir  haben  es  also  mit  einem  Phantasiegebilde  zu  thun.  Und 
da  standen  allerdings  für  die  beiden  Haupttypen  —  die  Mutter  mit 
dem  Kinde  und  die  Orans  —  zahlreiche  Vorlagen  aus  der  heidnischen 
Kunst  zu  Gebote.  In  Betreff  des  erstem  Typus  erinnern  wir  bei¬ 
spielsweise  nur  an  die  Menge  aus  Kreta  stammender  Terrakotten 
im  Museo  Campana,  welche  die  thronende  Rhea  mit  dem  kleinen 
Jupiter  auf  den  Knieen  vorstellen.  Wenn  man  den  heidnischen 
Ursprung  dieser  Gruppen  nicht  wüsste,  so  liessen  sie  sich  ohne 
Anstand  für  Madonnen  nehmen.  Ebenso  kommt  die  Orans  auf 
heidnischen  Kunstwerken  nicht  selten  vor.  Die  Künstler  könnten 
daher  ganz  gut  formell  an  solche  Gestaltungen  angeknüpft  haben. 
Denn  daran  ist  nicht  zu  denken,  dass  sie  etwa  die  neue  wahre  Rhea 
oder  Isis  mit  dem  neuen  wahren  Jupiter  oder  Horus  zu  bilden  im 
Sinne  hatten,  mit  andern  Worten,  dass  sie  sich  in  einen  bewussten 
polemischen  Gegensatz  zur  Götzenbildnerei  setzten.  Die  altchristlichen 
Künstler  machten  erstlich  keine  Kultbilder,  und  dann  war  Maria 
kein  Analogon  zu  einer  antiken  Göttin,  so  wenig  für  sie,  als  für 
alle  andern  Christen.  Man  braucht  aber  nicht  einmal  ein  formelles 
Anlehnen  an  ähnliche  heidnische  Bildungen  anzunehmen.  Es  kann 
doch  einer  lebendigen  und  im  Anfang  noch  blühenden  Kunst  nicht 
schwer  geworden  sein,  ein  junges  Weib  mit  einem  Kinde  auf  dem 


3  De  trinit.  VIII,  5. 


341 


Arm  oder  Schooss,  oder  mit  aufgehobenen  Händen,  die  man  selber 
täglich  nach  altchristlichem  Brauche  zum  Gebete  ausbreitete,  ohne 
bestimmte  Vorlage  herzustellen.  Dass  dann  solche  Kunstleistungen 
mit  andern,  älteren  oder  gleichzeitigen  von  ähnlicher  Form,  wenn 
auch  von  verschiedener  Bedeutung,  eine  gewisse  äussere  Ueberein- 
stimmung  zeigten,  war  weder  Verdienst  noch  Schuld  der  Künstler, 
sondern  des  Stils,  überhaupt  des  Kunstvermögens  der  Zeit,  das  die 
christlichen  Künstler  in  demselben  Banne  hielt,  wie  ihre  heidnischen 
Kollegen.  Die  christlichen  Künstler  producirten  aus  christlichem 
Geiste  heraus,  aber  mit  ererbten  heidnischen  Mitteln.  Das  Marien¬ 
bild  ist  ein  christliches  Phantasiegebilde. 

Sagt  nun  dieses  Gebilde  in  Farbe  oder  Stein  u.  s.  w.  all 
das,  was  die  Lehrentwickelung  nach  und  nach  unter  dem  Namen 
Mariens  verstand,  was  die  Poesie  schon  in  schöne  Worte  ge¬ 
kleidet  hat? 

Der  Versuch  ist  gemacht.  Ein  jugendliches  Weib  mit  dem 
Ausdruck  einer  gewissen  milden  Hoheit,  einer  Art  demuthsvollen 
Würde,  mit  anmuthiger  Haltung  und  Bewegung  darzustellen ,  ist 
offenbar  die  Absicht  der  Künstler.  Und  dieses  Ziel  ist  auch  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  erreicht,  namentlich  in  den  ältesten  Bildern, 
als  die  Kunst  noch  auf  einer  gewissen  Höhe  stand.  Auch  bei  den 
spätem  Bildern  lässt  sich  das  Bestreben  noch  erkennen,  doch  er¬ 
heben  sich  die  meisten  nicht  über  das  Niveau  gewöhnlicher  handwerk¬ 
licher  Leistungen,  sie  gehen  mit  der  ganzen  Kunst  abwärts.  Man 
behilft  sich  mit  Aeusserlichkeiten,  bekleidet  die  Figur  mit  Schmuck, 
zeichnet  sie  durch  den  Nimbus  aus  und  hüllt  sie  in  prachtvolles  Ge¬ 
wand,  wie  in  Sta.  Maria  Maggiore,  woran  übrigens  die  glänzende 
Technik  des  Mosaiks  sowie  die  späteren  Restaurationen  auch  ihren 
Antheil  haben  mögen. 

Ueber  den  ersten  Versuch  also  kommt  die  altchristliche  Kunst 
nicht  hinaus. 

Und  mit  Versuchen  müht  sich  auch  das  Mittelalter  ab.  Die 
byzantinische  Kunst  freilich  kommt  bald  ans  Ziel.  Ihre  Madonnen 
erscheinen  häufig  in  derselben  Haltung,  wie  das  Bild  von  San  Agnese; 
aber  sowohl  dieser  Typus,  als  alle  andern  erstarren  in  hieratischer 
Gebundenheit.  Im  Abendlande  gelingt  es,  bald  die  eine,  bald  die 
andere  Seite  des  Wesens  der  h.  Jungfrau,  bald  die  irdische,  bald 
die  himmlische  glaubhaft  darzustellen.  Doch  um  das  Geheimniss 
dieses  Wesens  zur  Anschauung  zu  bringen,  braucht  die  mittelalter- 


342 


liehe  Kunst  immer  noch  einen  reichen  äusserliehen,  symbolischen  und 
typologischen  Apparat. 

Das  Wunderweib,  das  über  dem  Naturgesetze  steht,  das  von 
der  Sünde  unberührt  ist  und  doch  mit  dem  ganzen  Glück  und  Wehe 
der  Menschheit  zusammenhängt,  in  einem  überzeugenden  Bilde  dar¬ 
zustellen,  ist  der  Triumph  der  Renaissance  und  ist  vielleicht  im 
ganzen  Verlauf  der  Kunstgeschichte  kein  zweites  Mal  so  gelungen, 
wie  in  der  Sixtina  des  Raphael. 


Inhalt 


Vorwort . 

Einleitung . 

Jungfrau . 

Mutter . 

Josephs  Weib . 

Immerwährende  Jungfrau  . 
Das  geistige  Wesen  Mariens 
Antheil  am  Erlösungswerke 

Verehrung  . 

Poesie . 

Kunst . 


Seite 

V 

1 

9 

37 

86 

120 

144 

172 

182 

222 

283 


> 


Taf.  1. 


Ta  F.  ID. 


. 


Taf.  IV. 


E 


Taf.  VI 


52. 


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